Essstörungen

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EMMA hatte im Juni 1980 erstmals mit dem Diätwahn getitelt, nachdem sich bei einer Leserinnen-Analyse herausgestellt hatte, dass jede zweite EMMA-Leserin sich „zu dick“ fand. Doch zum Politikum wurden die Essstörungen der Frauen in Deutschland erst durch diesen Sonderband. Jenseits aller psychologisch-individuellen Probleme analysierte Alice Schwarzer die Hunger- und Kotzsucht als Reaktion auf die raumgreifende Emanzipation: „Während Männer Raum einnehmen, machen Frauen sich dünne!“ Ausgelöst von der EMMA-Kampagne bildeten sich Mitte der 80er Jahre erste Beratungszentren. Heute gibt es die im ganzen Land, Kliniken melden inzwischen neunjährige Patientinnen. Jedes dritte junge Mädchen kämpft mit Essstörungen und jede fünfte bis zehnte pathologisch daran Erkrankte stirbt.

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Die im satten Westen erfundenen Essstörungen verbreiten sich seit Ende der 60er Jahre epidemisch über die ganze Welt. Auf den Fidschi-Inseln wurden die bis dahin fröhlich runden Frauen prompt ein, zwei Jahre nach Einführung des Fernsehens magersüchtig... Heute sind Essstörungen die Frauensucht Nr. 1, noch vor Tabletten und Alkohol.

EMMA blieb kontinuierlich am Thema und berichtete ab 2001 über die Maßnahmen, die andere Länder, wie Spanien oder England, ergreifen: Runde Tische mit Medien, Mode und MinisterInnen; Auftrittsverbote für Models unter Kleidergröße 40 etc. Immer wieder forderte EMMA solche Aktivitäten auch in Deutschland. Nachdem die ersten Models regelrecht verhungert vom Laufsteg fielen, wurde die Politik endlich hellhörig.

Im Dezember 2007 initiierte EMMA zusammen mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) den Gipfel „Leben hat Gewicht“. Spitzenfrauen aus Werbung, Mode, Medien und Medizin kamen nach Berlin, um ein Zeichen gegen die tödliche Frauensucht zu setzen und Maßnahmen zu beraten. Darunter die in London praktizierende Therapeutin amerikanische Therapeutin Susie Orbach, die 1978 das erste Buch über Essstörungen schrieb („Das Anti-Diät-Buch“, Nachdruck in EMMA 1979) Ein erster Schritt, der aus dem Gipfel folgte: Am 11. Juli 2008 unterzeichneten die die deutschen Mode-Dachverbände einen „Kodex gegen den Schlankheitswahn“: Sie verpflichteten sich, das „gesundheitsschädigende Körperbild“, das Magermodels vermitteln zu „korrigieren“. Auf deutschen Laufstegen sollen nur noch Models mit einem Body-Mass-Index von mindestens 18,5 erlaubt sein. Die Models der internationalen Print- und Plakatwerbung sind allerdings immer noch gespenstisch dürr. Frankreich plant gerade eine Kennzeichnungspflicht für via Computer verdünnte Magermodels. Eine Inspiration für den Gesundheitsminister?

Weiterlesen
Dicker Schöner Stärker (6/2009)
Modebranche verpflichtet sich auf Kodex (4/2008)
Dossier: Gegen Diätwahn (2/2008)
Erste Maßnahmen gegen die Frauensucht Nr. 1 (1/2008)
Auf dem Laufsteg tot zusammengebrochen (6/2006)
Einfach satt essen (6/2006)
Schlachtfeld Frauenkörper (5/2006)
Hungern für Hollywood (5/2006)
Meine Freundin Ana (4/06)
Eine Frauen-Epidemie grassiert (1/2001)
Der Körper wird zum Schlachtfeld (1/2001)
Dünne machen! (Sonderband 1984)

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Chrystal Renn: Dicker Schöner Stärker

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Kaum zu glauben, dass die Frau mit der wilden schwarzen Mähne, die auf der Prêt-à-porter-Show von Jean Paul Gaultier stolz ihre üppigen Hüften schwingt, nur zwei Jahre zuvor ein ausgemergeltes, lethargisches Mädchen war, das sich ihre ausfallenden Haare morgens büschelweise aus der Bürste klaubte. Eine, deren Mahlzeiten aus "Blattsalat an Fliegenschiss" bestanden; eine, die "zu hungrig war, um zu denken"; eine, die als so ­genanntes Normalgrößenmodel (mit Größe 30) "nur einen Ausdruck kannte: Hirsch, im Autoscheinwerferlicht erstarrt".

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Bestbezahltes Plus-Size-Model der Welt

Heute hat Chrystal Renn Kleidergröße 42 und ist das bestbezahlte Plus-Size-Model der Welt. Und in ihrem Buch "Hungry" erzählt sie ihre Geschichte.

Die beginnt in Clinton, Mississippi, mit einer unberechenbaren Teenager-Mutter auf Drogen, einer fürsorglichen Großmutter (Mom), die in die Bresche springt, und den wunderbar deftigen ­Gerich­ten, die die Urgroßmutter (Grandma) kocht. Sie geht weiter mit einer evangelikalen Schule, auf der "sich die meisten Mädchen in meinem Jahrgang angewöhnt hatten, laut darüber zu sprechen, wie fett und ekelhaft sie seien".

Noch macht Chrystal, die sich für ­Astro­nomie interessiert und den braunen Gurt in chinesischer Kampfkunst hat, nicht mit beim "Fat Talk". Aber die Verunsicherung beginnt. Als sie 14 ist, hält ihr ein Model-Scout ein Foto von Gisèle Bündchen unter die Nase und verkündet: "Das könntest du sein!" Die Bedingung: Ein Hüftumfang von 86 Zentimetern.

Süchtig nach ihrem Laufband

Chrystal hat 109. Sie ist 1,75 Meter groß und wiegt 74 Kilo. "Ich nahm die Weltraumbilder von den Wänden, diese Schwarzen Löcher, Sterne und Quasare, die mich seit der Grundschule begleitet hatten. Jetzt übersäte ich mein Zimmer mit Bildern von Models, die ich aus ­Modemagazinen ausgeschnitten hatte. Ich wachte mitten in der Nacht auf und sah Maggie Rizer, die mich anstarrte."

Ein Jahr später hat Chrystal ihren Model-Vertrag in der Tasche. Sie wiegt 42 Kilo. Die Agentur ist begeistert. Die 16-Jährige dagegen ist süchtig nach ihrem Laufband und ihren kaffeehenkelartigen Hüftknochen. Sie hat Panik vor Kalorien in zuckerfreiem Kaugummi, graue Haut, Atemstörungen und Herzflattern. "Das Klischee besagt, dass Models hirntot sind", schreibt sie. "Aber einige von uns sind bloß am Verhungern."

Die Wende kommt, als sich Chrystals immer noch nicht erwachsener Körper verweigert – und trotz Salat und Acht-Stunden-Schichten auf dem Laufband ­zunimmt. Als ein Fotograf sie (jetzt Größe 34) vor versammeltem Team am Set anschreit: "Wie fett bist du?!" ist die Grenze überschritten. "Ich war dabei, zu sterben. Ich wollte nicht sterben."

Selbstbewusster Geist im gesunden Körper

Dies ist der Beginn von Chrystal Renns Karriere als selbstbewusstes Model mit einem ­gesunden Körper. Und siehe da: Die ­Modewelt – oder zumindest ein Teil – applaudiert. "Zum Glück scheint das Pendel umzuschwingen", konstatiert Renn, "wenigstens ein bisschen".

Die Modebranche ist unter Druck. Spätestens seit im Jahr 2006 innerhalb weniger Monate gleich drei Models verhungerten, regte sich Protest gegen die Skelette auf den Laufstegen. New York, Paris und Mailand sahen sich gezwungen, Richtlinien aufzustellen, wenngleich die neue Pflicht der Veranstalter, den Models hinter der Bühne ausreichend Wasser und Lebensmittel und dafür keine Drogen zu reichen, eher in die Kategorie Maskerade fallen dürfte. Da, wo man das Mode-Universum nicht sich selbst überließ, waren die Ergebnisse effizienter: Auf Geheiß von Bürgermeisterin Esperanza Aguirre verbannte die Madrider Mode­woche alle Models mit einem Body-Mass-Index unter 18. Jedes dritte Model wurde wg. Untergewicht ausgemustert.

Kunstgeschöpfe aus dem Photoshop

Noch wichtiger als die Bilder von den Laufstegen sind die Kunstgeschöpfe aus dem Photoshop: diese endlosen Spinnenbeine in hippen Jeans, diese hyperschmalen Wespentaillen in "körpernahen" Tops, diese grotesk hohlen Wangen unter coolen Sonnenbrillen.

Oder Hüften, die schmaler sind als der Kopf. Wie im Falle von Top-Model Filippa Hamilton, die, nachdem Designer Ralph Lauren ihren Körper für eine Werbeanzeige per Computer geschrumpft hatte, empört die Brocken schmiss. "Junge Frauen schauen das Bild an und denken, es sei völlig normal so auszusehen", klagte sie.

"Wenn Teenager und Frauen diese Bilder sehen, werden sie am Ende unglücklich über sich selbst", befürchtet auch Jo Swinson. Deshalb hat die britische Abgeordnete der ­Liberalen den (Alp)Traumbildern den Kampf angesagt. Sie fordert eine Kennzeichnungspflicht für alle manipulierten Fotos. Einen Erfolg hat Swinson schon zu verbuchen: Ihre liberale Partei hat die Forderung in ihr Wahlprogramm aufgenommen.

In Frankreich ist man schon einen Schritt weiter: Im Mutterland der Mode haben 50 Abgeordnete der Nationalversammlung bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem die Werbeagenturen verpflichtet werden sollen, per Computer veränderte Körper als Kunstprodukte aus dem Reich der Designerphantasie kenntlich zu machen. Die Tatsache, dass die Initiatorin des Gesetzentwurfs, die Abgeordnete Valérie Boyer, Sarkozys Mehrheitspartei UMP angehört, macht eine Verabschiedung wahrscheinlich – was eine kleine Revolution wäre.

Zeitschriften in Zukunft mit "Normalo"-Frauen?

In Deutschland ist ein "neues Zeitalter" bereits angebrochen: bei Brigitte. Künftig will die Frauenzeitschrift ihre Modestrecken nicht mehr mit professionellen Models gestalten, sondern mit "Frauen, die mitten im Leben stehen". Das hat einen Grund: Just diese Frauen sind Brigitte und ihren Schwesternzeitschriften in Scharen davongelaufen. Die durchschnittliche Brigitte-Leserin ist 48 Jahre alt (zum Vergleich: das der EMMA-Leserin 39), jede vierte Käuferin ist über 60. 40 Prozent dieser Leserinnen verlor das Blatt allein in den letzten fünf Jahren.

"Das muss doch auch mit unserem Umgang mit Mode und Beauty zu tun haben", sinniert Chefredakteur Andreas Lebert. Da könnte was dran sein. Überhaupt sind aus dem traditionell diätbegeisterten Hause Gruner & Jahr neuerdings geradezu systemkritische Töne zu vernehmen. "Hinter dem Beruf des Models steckt die Idee, die Frauen nicht selbst zu zeigen, sondern einen Platzhalter. Das empfinden viele Frauen inzwischen als überholt, zumal die Schönheitsideale, wie sie von der Branche geprägt werden, stark umstritten sind."

Um es mit Chrystal Renn zu sagen: "Am Ende ist Mode ein Geschäft, und der Markt bestimmt, was 'in' ist. Wenn die Leute lauthals nach Kurven verlangen und sich weiter für Models begeistern, die nicht der Norm entsprechen, wird diese Industrie expandieren." Und vielleicht werden ja auch die Auflagen wieder steigen.

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Chrystal Renn: Hungry (Heyne, 17.95 €)

Weiterlesen in EMMA
Gipfel gegen Diätwahn (2/08 Dossier)
Tod auf dem Laufsteg (6/06)
Die Hungersucht (1/01 Dossier)

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