Neue Wege für Jungs
Was passiert, wenn ein Bundeswettbewerb Jungen zum Vorlesen, Windelwechseln und Pizzabacken kriegt. Und warum wir trotzdem immer noch viel zu wenig für und mit Jungen tun.
Jeden Freitagmittag geht Alex nach der Schule nicht nach Hause. Stattdessen schlurft der 14-jährige Russenaussiedler über die Straße in die benachbarte Kinderkrippe. Dort nimmt er sich den ‚Räuber Hotzenplotz' aus dem Regal, setzt sich in den Stuhlkreis und liest, während der kleine Nico kuschelnd an seinem Bein festhängt, den Kindern vor. Die sind "fasziniert" von dem dunkelhaarigen Jungen, denn "die sind in der Krippe ja nur den Umgang mit Frauen gewohnt", erklärt Heike Kronen.
Die Vorlesestunde, die in Regensburg demnächst noch neun weitere Jungen absolvieren werden, war ihre Idee. Sie kam der Gleichstellungsbeauftragten der Medizinischen Betriebe des Bezirks Oberpfalz, kurz: Medbo, als sie ihren Blick von der Medbo-eigenen Kinderkrippe zur nur 20 Meter entfernten Hauptschule schweifen ließ. "Jungs sollen doch nun auch so genannte Frauenberufe kennen lernen. Aber der eine Tag ‚Boys Day' ist dazu doch viel zu kurz!" Kronen sprach mit den Deutschlehrern, die prompt mit ihren Schülern ein Plakat zum Projekt bastelten: "Boys wanted" - Jungen gesucht.
Und weil ‚Boys wanted' gleich drei Fliegen mit einer Klappe schlägt - Jungs wie Alex schnuppern erstens in den Beruf des Erziehers und nehmen zweitens dabei mal ein Buch in die Hand, drittens erleben die Krippenkinder ein fürsorgliches männliches Wesen - wurde ‚Boys wanted' soeben preisgekrönt. Als ein beispielhaftes Projekt im Rahmen des Wettbewerbs ‚Neue Wege für Jungs'.
25 solcher wegweisenden Projekte wurden mit je 1.500 Euro prämiert. Die Aktion geht ins zweite Jahr. Und während 2006 das Thema der preiswürdigen Projekte "Berufswahlorientierung" hieß, stand diesmal die "kritische Reflektion des tradierten Männerbildes" im Mittelpunkt: Gefragt waren Konzeptideen, die "den Jungs vermehrtes Engagement in Familie, Partnerschaft und Haushalt nahe bringen, Werte wie Rücksicht und Fürsorge vermitteln sowie Team- und Konfliktfähigkeit fördern". Initiatorin und Geldgeberin des Wettbewerbs: Ursula von der Leyen.
Und so bewarben sich insgesamt 160 Projekte mit Titeln wie ‚Arbeit ist nur das halbe Leben' oder ‚Jungs kochen!' um die Auszeichnung. Das Jugend- und Familienzentrum ‚JeverNeun' blies in Berlin zu Einkaufsrallye und Putzolympiade, in der Georg-Stahmer-Hauptschule im niedersächsischen Georgsmarienhütte wurde "Schnulleralarm" geschlagen: Zwei Tage lang zog mann sich in Halbklassenstärke vom Schulhof ins Gemeindezentrum zurück, ließ das übliche Geprotze und Geprahle vor der Tür und beschäftigte sich in aller Ruhe mit Kinderwunsch und Vaterrolle. "Und da merken sie schnell, dass sie für ein Kind genauso viel Verantwortung haben wie ein Mädchen", erzählt Schulsozialarbeiter Stefan Fehren.
Wer will, kann anschließend einen "Babysimulator" mit nach Hause nehmen - eine Puppe, die dem jungen Mann via Geschrei und lebensechten Körperausscheidungen die väterliche Verantwortung praxisnah demonstriert. Aber Gequäke und Pseudopipi sind nicht der Hauptgrund dafür, dass das Plastikbaby nicht wirklich gern genommen wird. "Es ist für die Jungs einfach eine Riesenhürde, mit dem Kinderwagen vom Schulhof zu schieben." Das ist eben doch Weiberkram, der an der Männerehre kratzt.
Die Väterfrage stellt auch das Projekt ‚Männerbilder': "Warum nimmt mich mein Vater eigentlich nie in den Arm?" So oder so ähnlich könnte ein Spruch auf einem der acht Plakate lauten, die ab 19. Juli in Schulen und Einkaufzentren in Weil am Rhein hängen werden. Fotografiert, diskutiert und fabriziert von Günter Endris vom Stadtjugendring und seinen Jungs." Die Vater-Sohn-Beziehung ist eine ganz wichtige Sache für die Jungen", erzählt Endris. "Wenn ich sie frage, wann ihr Vater sie das letzte Mal in den Arm genommen hat, dann machen sie große Augen und sagen: ‚Noch nie!'"
Seit Jahren geht der Jugendleiter mit seinen Schützlingen Klettern und Kanufahren, redet am Lagerfeuer übers Coolsein und Angsthaben und zeigt ihnen, wie man das Klo der Holzhütte putzt. Jetzt aber wollte er "gezielt was zum Thema Männerbilder machen, damit wir Öffentlichkeit für Jungenarbeit schaffen können". Das hat sie dringend nötig, sagt Endris. "Dass Mädchenarbeit gut und wichtig ist, hat sich inzwischen rumgesprochen. Aber Jungenarbeit?" Die Standardfrage, die der langjährige Jungenarbeiter gebetsmühlenartig hört: "Haben Jungen so was nötig?'"
Haben sie. Das findet nicht nur die konservative Familienministerin, auf deren Prioritätenliste der männliche Rollenwandel ganz oben zu stehen scheint. Auch der nordrhein-westfälische Frauenminister Armin Laschet (CDU), selbst Vater zweier Söhne, hat gerade die ‚Landesinitiative Jungenarbeit' ins Leben gerufen. Denn: "Jungen erbringen durchschnittlich schlechtere schulische Leistungen als Mädchen, leiden öfter an Hyperaktivität und neigen häufiger zu körperlicher Gewalt."
Unter den Fittichen der ‚Fachstelle Gender NRW' in Essen und der ‚Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW' soll eine Bestandsaufnahme der bestehenden Initiativen und Projekte gemacht und diese vernetzt werden. Außerdem werden demnächst fünf beispielhafte Jungenprojekte ausgewählt und als so genannte Best-Practice-, sprich: Modellprojekte präsentiert und dringlich zur Nachahmung empfohlen. Ziel: "Jungenarbeit soll Querschnittsaufgabe werden", erklärt Cäcilia Debbing, Leiterin der Fachstelle. Will heißen: Sie soll nicht länger von einer Handvoll spezialisierter "Jungenarbeiter" gemacht werden, sondern - idealerweise - von allen: Lehrern, Sozialarbeitern, Fußballtrainern.
Das Gezeter über den neuen Trend ist groß und nimmt bisweilen hysterische Züge an. Zugegeben: Wenn dem starken Geschlecht vermeintlich Verweichlichung droht, war das schon immer so. So brach im Jahr 2000 Panik in den Redaktionen aus, als die damalige NRW-Frauenministerin Birgit Fischer verkündete: Zusätzlich zum Selbstbehauptungskurs für Mädchen, den sie jeder Schule pro Halbjahr finanzierte, solle jetzt auch ein Kurs in Konflikttraining für Jungen kommen. Schließlich sollten sich nicht nur die (potenziellen) Opfer von Gewalt mit ihrer Geschlechterrolle auseinander setzen, sondern auch deren (potenzielle) Verursacher. Die Herren Journalisten schrieen Zeter und Mordio. "Bestimmt werden unsere Jungs demnächst in Windelwechseln und Weinen unterrichtet", klagten sie. Und, schlimmer noch, womöglich würden die Jungmänner zum "Schminkkurs" verdonnert.
Während aber damals Bild und Express die Front zur Bewahrung der Männlichkeit anführten, kommt der Generalangriff nun aus der Mitte des intellektuellen Journalismus, nämlich von Medien wie FAZ und Spiegel. Gekämpft wird mit harten Bandagen.
Ziel des Präventivschlags des Kollegen René Pfister im Spiegel ist zum Beispiel das Berliner Projekt ‚Dissens'. Der 1989 gegründete Verein ist unter anderem Träger einer Betreuten Jungen-WG, er bietet Projekttage und Antidiskriminierungstrainings ("Alle sind gleich - alle sind verschieden") für Schulklassen an und empfängt zweimal pro Woche Jungen mit Hang zur Gewalttätigkeit zur "sozialen Gruppenarbeit". Die ‚Dissens'-Gruppenleiter setzen dabei auf Sport und Erlebnispädagogik. "Wir spielen zum Beispiel mit den Jungs Fußball und versuchen dabei, den Teamgedanken in den Mittelpunkt zu stellen", erklärt ‚Dissens'-Gründer Ralf Puchert. Auch Fairness und Fürsorge sind wichtige Werte. Trete ich nach, wenn einer am Boden liegt, oder helfe ich ihm lieber wieder auf die Beine? Ziel: "Die Entwicklung einer stabilen und selbstbewussten Persönlichkeit."
Der Spiegel-Autor allerdings kommt in seinem Konglomerat aus Andeutungen und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten zu dem Schluss, ‚Dissens' gehe es um die "Zerstörung von Identitäten". Dabei spielte auch der Staat, der solche Projekte in jüngster Zeit kräftig fördert und Deutschland damit in ein gigantisches Umerziehungslager verwandle, eine finstere Rolle. Denn er nehme "sich heraus, neue Rollenbilder für die Menschen zu entwickeln" und stelle dabei "schon Jugendliche in den Dienst eines sozialpädagogischen Projekts, das auf einer zweifelhaften theoretischen Grundlage steht". Nämlich der, dass Jungen keineswegs so unumstößlich vom Testosteron determiniert sind, dass sie ihr Verhaltensrepertoire nicht um soziale Komponenten erweitern könnten.
Zweifelhaft findet Jungenarbeiter Andreas Peters eher die blinde Beharrlichkeit, mit der Pfister und andere Vertreter eines neuen Biologismus sich weigern zu erkennen, wohin es führt, wenn man das angeblich naturgegebene Machotum der Jungmänner lässt, wie es ist. "Man kann doch hingucken, wo man will: in die Kriminalitätsstatistik, die Schulabbrecherstatistik, die Verkehrsunfallstatistik. Alkoholmissbrauch oder Computerspiele. Da wird immer von Jugendlichen gesprochen, es betrifft aber zu 90 Prozent die Jungen."
"Die Gewaltkriminalität ist jung und männlich", bestätigte jüngst der Berliner Innensenator Erhart Körting, als er als Sprecher der Deutschen Innenministerkonferenz die neue Polizeiliche Kriminalstatistik präsentierte. Ergebnis: Die Gewalt von 14- bis 21-Jährigen steigt. 84 Prozent der Tatverdächtigen sind männlich.
"Darauf muss die Gesellschaft doch reagieren!" empört sich Andreas Peters. Und der Jungenarbeiter fragt: "Wie viele Amokläufer und wie viele Rütlischulen muss es denn noch geben, bevor was passiert?" Der Kölner Pädagoge weiß, wovon er spricht. Seit zehn Jahren vermittelt Peters in Kursen mit Titeln wie ‚Coole Jungs', dass Zuhören besser ist als Zuschlagen. Seit ein paar Monaten betreut er auch junge Straftäter im Knast. Und er beklagt: "Das Drama ist, dass man Gewalttätigkeit und Schulverweigerung bei Jungen als normal empfindet. Denn das bedeutet: Wir schreiben Zehntausende junge Männer einfach ab."
Es ist eine explosive Mischung, die sich da zusammengebraut hat. Auf der einen Seite sorgen Arbeitslosigkeit und eine selbstbewusste Mädchengeneration dafür, dass das Alleinernährermodell als Perspektive ausgedient hat. "Die Erwartungen an junge Männer haben sich erweitert", sagt Cäcilia Debbing. "Aber ein neues Verhaltensrepertoire anzunehmen, wird ihnen oft schwer gemacht. Oft sogar schwerer als den Mädchen." Es ist eben ein Unterschied, ob ein Mädchen KFZ-Mechanikerin wird oder ein Junge Erzieher.
"Ich beobachte einen Zusammenbruch ihres Wertesystems", bestätigt Jugendleiter Günter Endris. "Die Jungen fragen sich: Was ist denn jetzt meine Aufgabe in der Gesellschaft?" Antworten finden viele von ihnen in Pornos und Computerspielen. Da ist die Geschlechterwelt wieder in Ordnung.
Umso wichtiger, dass man den Jungen neue Handlungsmuster an die Hand gibt. Aber das passiert, trotz Erfurt und Pisa, viel zu selten. "Erstens fehlt Geschlechterpädagogik als Standardthema in der Ausbildung", klagt Debbing, die dies mit ihrer ‚Landesinitiative Jungenarbeit' ändern will. "Zweitens gibt es nach wie vor zu wenig männliche Pädagogen, die sich der geschlechtsbewussten Jungenarbeit widmen."
Das merkt auch Sandro Dell'Anna, wenn er wieder eine Anfrage von einer Schule oder einem Bildungsträger bekommt. Als Bildungsreferent der ‚Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW' ist er Anlaufstelle für Beratung, Qualifizierung und Vernetzung in Sachen Jungenarbeit und dafür zuständig, passende Pädagogen für ein Jungenprojekt oder Referenten für eine Fortbildung zu vermitteln. "Wir haben nicht ausreichend qualifizierte Jungenarbeiter in Nordrhein-Westfalen. Ich kann viele Anfragen nicht stillen."
Obwohl die Jungenarbeit seit Ende der 80er von Vereinen namens ‚Mann-o-Meter' oder ‚Kääls e.V'. praktiziert wird, ist sie von einem Durchbruch in den Mainstream weit entfernt. "Und ich verstehe nicht", klagt Andreas Peters, "woher diese Abwehr kommt."
Es ist sicher kein Zufall, dass der Rückfall in den Biologismus gerade in dem Moment ausbricht, wo Deutschland von einer Kanzlerin regiert wird und die konservative Familienministerin unerschütterlich lächelnd von Männern mehr Einsatz bei Kinderaufzucht und Altenpflege fordert; wo im Wochenrhythmus erscheinende neue Sachbücher Eva Hermans Ernährermodell den Vogel zeigen und Frauen in Ermangelung brauchbarer Väter in den Gebärstreik treten, kurz: in dem Moment, wo es bei den Männern ans Eingemachte geht. "Solange es nur um die Frauen ging, konnte man das großzügig und väterlich begleiten. Aber jetzt, wo sich die Männer verändern sollen, wird es langsam kritisch", sagt Dissens-Leiter Puchert. Ein "Aufbäumen des Patriarchats", für das "denen kein Mittel zu schade ist", diagnostiziert Cäcilia Debbing und kontert: "Sollen sie doch. Das zeigt doch nur, dass was passiert." Stimmt.
Von einem (geschlechter)diktatorischen Regime, das Autor Pfister mit seiner Wortwahl vom "Umerziehungslager" suggeriert, kann dabei keine Rede sein. Die neuen Wege, die Jungs beschreiten sollen, sind nicht mit Schranken und Tretminen gepflastert, sondern mit Wegweisern und Hinweisschildern. "Begrenzen und unterstützen" lautet das Jungenarbeits-Konzept des Pädagogen Puchert, will heißen: "Man muss klare Grenzen setzen, wenn es um Gewalt geht. Und man muss den Jungen mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen als die traditionelle Männerrolle ihnen bietet."
Nicht Zerstörung ist hier das Motto, sondern Zugewinn. "Jungenhaben im Laufe ihrer Mann-Werdung häufig erfahren müssen, dass sie sich viel von ihrer Persönlichkeit abgeschnitten haben, weil ihnen als Kind suggeriert wurde: Das macht ein Junge nicht!" berichtet Sandro Dell'Anna aus der LAG Jungenarbeit. Deshalb möchte er dem "starken Geschlecht" seine Kraft nicht nehmen, sondern ihnen vermitteln: "Du bist okay wie du bist - und du kannst zusätzliche Erfahrungen machen."
"Wir müssen den Jungen, den Männern und den Politikern deutlich machen, dass es für sie etwas zu gewinnen gibt", sagt Cäcilia Debbing. "Dass die Lebenserwartung der Männer steigt, wenn sie nicht 70 Stunden pro Woche arbeiten, dass sich nicht so viele 18-jährige Jungs mit 180 um den Baum wickeln müssen und dass das Baby, um das man sich kümmert, lecker riecht und einem ein Küsschen gibt."
Alex hat schon gewonnen - einen Ausbildungsplatz als Erzieher. Denn nach seinen ersten Vorlesestunden kann er sich durchaus vorstellen, sein Berufsleben mit Kindern zu verbringen. Er geht neue Wege.
Chantal Louis, EMMA Juli/August 2007