Tödliche Glamourwelt

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Bei der Carlos-Miele-Schau hört man Backstage nur russisch gefärbtes Englisch. Die Models schminken sich ab, aus Carlos Mieles glamourösen Jetsetterinnen werden wieder abgearbeitete Teenager. Die Mädchen sind dünn, aber nicht mager. Doch nach einer Woche in den Zelten von Bryant Park habe ich das Gefühl, meinem eigenen Urteil nicht mehr trauen zu können. Der Unterschied zwischen dünn und klapperdünn ist nicht mehr zu erkennen.

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Natalya Gotsii verzieht das Gesicht, als ich sie nach den neuen Richtlinien der Branche frage. Jeder an der New Yorker Fashion Week verzieht das Gesicht, sobald ich auf das Thema zu sprechen komme. Nach einem Jahr Medienkritik an superdünnen Models hat niemand mehr Lust, sich zu erklären. Gotsiis Reaktion hat einen zusätzlichen Grund. Sie war eines der Models, an denen die Kontroverse aufgehängt wurde – CNN brachte ein Foto von ihr, auf dem man deutlich jede einzelne ihrer Rippen sah.

„Alle reden sie von den ukrainischen Models“, stöhnt Natalya Gotsii. „Nach der letzten Fashion Week haben die Medien viel über mich berichtet. Ich war zwei Monate nicht hier, weil die Kunden nicht mit mir arbeiten wollten. Mit mir und Snejana und den anderen ukrainischen Models.“ Alle Models seien doch dünn, sie wisse nicht, warum man sich auf sie gestürzt habe. „Manche sind vielleicht sehr dünn, aber sie sehen natürlich aus. Und ein paar sehen vielleicht tatsächlich nicht sehr gesund aus.“

Ihre Mutter habe beim Anblick der Fotos geweint, sagt Natalya Gotsii. Doch sie behauptet, die Aufnahmen seien bearbeitet gewesen. Die Ringe unter den Augen (ich sehe sie tatsächlich – bräunliche Halbmonde) seien genetisch bedingt – ihr Bruder habe sie auch. „Aber das interessiert niemand, sie nehmen einen Namen und schreiben irgendeinen Scheiß dazu. Wir gehen aus, wir essen, jede von uns isst, es gibt keine Magersucht in der Branche.“

Das stimmt natürlich nicht. Die 18-jährige Uruguayerin Eliana Ramos starb, lebensgefährlich abgemagert, offenbar an Herzversagen. Ihre ältere Schwester Luisel ebenfalls, nachdem sie sich nur noch von Salatblättern und Cola light ernährt hatte. Das brasilianische Model Ana Carolina Reston wog bei ihrem Tod nur noch 40 Kilo.
Natalya Gotsii hat keine Lust, sich auf diese Diskussion einzulassen. Auf den besagten Fotos trug sie ein weißes, an Kettchen hängendes Haltertop, das den Blick auf ihre Rippen freigab. In einem braungrauen Bikini stand sie da, die Hände auf den Hüften, und starrte in die Kamera, ein sonnengebräuntes Skelett.

Allein heute hat Natalya Gotsii schon zwei Schauen absolviert, und am Abend steht eine dritte auf dem Programm. Morgens um halb sieben war die erste Anprobe. In der nächsten Woche fliegt sie nach Paris, von dort aus nach Mailand. „Fast einen Monat lang lebt man nur für die Schauen. Mode, Mode, Mode – man wird ganz wirr im Kopf. Vielleicht sehe ich in zwei Wochen wieder so erschöpft aus.“ Und dann schaut sie mir in die Augen und fragt: „Ich seh nicht schrecklich aus, oder?“

Man spreche bei der Fashion Week das Thema Magersucht an, und schon erinnert jemand an die glanzvolle, vergangene Ära der Supermodels, an Christy Turlington, Naomi Campbell, Cindy Crawford oder Linda Evangelista, die Frau mit kräftigen Beinen und prachtvoller Mähne, die für weniger als 10.000 Dollar nicht einmal aufstand. Das war die Zeit, als Models noch Persönlichkeiten waren. Sie waren Stars, sie stellten Forderungen, und ihre Gesichter waren überall zu sehen. Heute scheint es, um es leicht abgewandelt mit Norma Desmond im Film „Sunset Boulevard“ zu sagen, als seien nicht die Kleider, sondern die Models geschrumpft. Und in der Tat ist auch die Garderobe immer schmaler geworden: Die Präsentationsmodelle sind von Größe 36 auf 34 und 32 zurückgegangen: Size Zero.

Längst spricht die Modewelt nicht mehr voller Ehrfurcht von den Models, eher mit freundlicher Herablassung. „Schöne Freaks“ seien sie, höre ich immer wieder, „genetische Anomalien“ – spindeldürre Mädchen mit Giraffenhals und dem breiten, hübschen Püppchengesicht, das gerade en vogue ist.

Aber viele haben auch Mitleid mit den Models, bei denen es sich oft um Schulabbrecherinnen handelt, die aus armen Ländern kommen; Teenies, die nur eine kurze Karriere vor sich haben. Sie sind alle austauschbar. Von den 100.000 Dollar Wochengage eines Topmädchens können die meisten nur träumen. Einige bekannte Designer bezahlen die Mädchen ausschließlich mit Garderobe.

In der großen Magersuchtsdiskussion wird über die Models geredet, aber man hört kaum etwas von ihnen selbst. Weshalb Natalia Vodianova, dieses russische Aschenputtel und eine der großen, schweigsamen Schönen, so viel Aufsehen erregte, als sie sich bei der Pressekonferenz des Verbands der amerikanischen Modedesigner zu Wort meldete. Das war am ersten Tag der Fashion Week, um acht Uhr morgens.

Da war der Dampf aus dem Thema schon ziemlich draußen, denn die Richtlinien der Branche – vor Wochen den Medien präsentiert – waren schon längst zerpflückt worden. Während Madrid und Mailand verfügt hatten, dass Models mit dem Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18 beziehungsweise 18,5 nicht an den Schauen teilnehmen durften, machten die Amerikaner nur unverbindliche Vorschläge. Designer sollten Backstage gesunde Snacks bereitstellen, es sollte kein Alkohol mehr geben und nicht mehr geraucht werden. Models unter 16 sollten nicht mehr engagiert werden, und die Mädchen sollten nicht bis nach Mitternacht aufbleiben müssen. Die Richtlinien schienen ein vernünftiger erster Schritt und zugleich eine Art präventives Abwiegeln zu sein. Aber es war wenig wahrscheinlich, dass diese vorsichtigen Anregungen beherzigt würden. Leute wie Karl Lagerfeld sprachen schon von einem „politisch korrekten Faschismus“.

Susan Ice, Ärztliche Direktorin des Renfrew Center, einer Institution zur Behandlung von Essstörungen, sprach von „biopsychosozialen Krankheiten“, die auf familiäre Verhältnisse und genetische Faktoren zurückzuführen seien. Fitness-Guru David Kirsch plädierte für Aufklärung. Joy Bauer, Ernährungsberaterin des New Yorker City Ballet, bot Workshops an, bei denen Schlankheitsmythen entzaubert werden und die Models lernen, „vernünftig zu essen, wegen des erhöhten Energiebedarfs und weil es gut für ihre Schönheit ist, für Haut, Haare, Zähne, Muskeltonus, Straffheit … alles Dinge, die den Mädels wichtig sind“.

Dann stand Natalia Vodianova auf, mit diesen riesengroßen, traurigen Augen in dem schönen, breiten Gesicht, das jeder vom Vogue-Titel und der Calvin-Klein-Werbung kennt. „Ich komme aus einfachen Verhältnissen“, sagt sie, an die paar handverlesenen Modeleute gewandt. Rechts neben ihr saß Anna Wintour, das Gesicht hinter dem vertrauten Pagenschnitt verborgen. „Ich habe gegessen, weil ich überleben wollte“. Als die 17-Jährige im Jahr 2000 in Paris eintraf, stellte sie fest, dass die anderen Models immer nur an ihr Gewicht dachten. „Zuerst glaubte ich, mir wird das nie passieren. Aber als ich zu arbeiten begann, achtete ich dann extrem auf meine Figur … Essen war nicht mehr so wichtig. Ich fand viele Freundinnen, die so lebten, und alles war viel zu aufregend, als dass wir uns deswegen Sorgen gemacht hätten.“

Natalia Vodianova bekam mit 19 ein Kind und wurde rasch noch dünner, als sie es zuvor gewesen war. Die Modewelt war beeindruckt. Bei einer Körpergröße von 1,75 Metern wog sie nur 48 Kilo. Die Haare wurden dünner, sie war nervös und depressiv – aber auch ein Laufstegstar mit dem ersten großen Werbevertrag.

Nachdem eine Freundin ihr gut zugeredet hatte, suchte sie Hilfe, legte ein wenig zu, wurde gesünder. Als sie dann 51 Kilo wog, sagte ihre Agentin, die Designer beklagten sich darüber, dass sie nicht mehr so dünn sei wie früher. „Ich verteidigte mich, wies darauf hin, dass es doch verrückt sei, Maße wie 83-58-86 für normal zu halten. Ich glaube, weil ich eines der gefragteren Models war, hat mich der Vorfall nicht ernsthaft verunsichert. Aber ich weiß, wenn ich damals nachgegeben hätte, wäre das für mich bestimmt gefährlich geworden.“

Die Models, die sie bis dahin auf dem Weg nach oben kennen gelernt hatte, seien gefügiger gewesen. „Sie waren ganz jung, meistens furchtbar einsam, weit weg von zu Hause und der Familie. Die meisten kamen aus armen Verhältnissen und unterstützten die Eltern. Sie hatten in der Kindheit von einem besseren Leben geträumt, und die meisten taten alles, um diesen Traum wahr zu machen.“

Während der Fashion Week erklärten die Models immer wieder, dass sie sich von den Medien bedrängt fühlten, als müssten sie sich ständig für ihr Aussehen rechtfertigen. „Ich kann essen, was ich will“, behauptet Eva. „Es wird immer jemanden geben, der übertreibt“, sagt Sophie. „Meine Mitbewohnerinnen und ich essen alles. Wir schaufeln es geradezu rein.“

Sabrina Hunter sieht das anders. Ich finde die afroamerikanische Schönheit nicht auf dem Catwalk, sondern draußen am Stand von Cingular. Mit dem Modeln habe sie aufgehört, sagt sie, der Druck sei so groß gewesen, dass sie sich völlig unvernünftig ernährt habe. Bei einer Körpergröße von 1,77 Metern sollte sie 52 Kilo wiegen, besser weniger. Nachdem sie bei einer US-Agentur unterschrieben hatte, wurde sie vor die Alternative gestellt: Entweder du nimmst ab, oder du legst zu und kommst in die Kategorie Übergröße. Nachdem es mit dem Zunehmen nicht klappte, begann sie, nur noch 600 Kalorien täglich zu sich zu nehmen und jeden Tag sieben, acht Kilometer zu laufen. „Ich wurde extrem launisch und depressiv. Und man hat es mir auch angesehen, im Gesicht“, sagt sie. „Aber so sehen ja alle Models aus“.

Ein Model, das mit 14 noch keinen Busen und keine Hüfte hat, wird sich ein paar Jahre später für das Beibehalten einer solchen Figur gewaltig anstrengen müssen. Vielleicht wird sie zu extremen Maßnahmen greifen, um weiterhin dem Ideal zu entsprechen. Das gilt umso mehr für den neuen Typ Model, von denen viele, wie Natalia Vodianova, aus den ärmeren Regionen Osteuropas kommen. Für diese Mädchen ist der Zwang, superdünn zu bleiben, ein relativ geringer Preis, um nie mehr in die Verhältnisse zurückkehren zu müssen, in denen sie aufgewachsen sind.

„Bezeichnend für die Models von heute ist, dass sie regelrecht verheizt werden“, sagt Magali Amadei, ein Model, das offen über ihre überwundene Bulimie spricht. „Die Ära des Supermodels ist vorbei, die Mädchen verdienen nicht mehr so viel. Sie kommen jung ins Geschäft, und sie sind ersetzbar. Hinzu kommt, dass oft in ihrer Gegenwart über ihr Aussehen geredet wird, als ob sie keine Ohren hätten.“

Dieser Druck lastet besonders auf den Mädchen, die für den Laufsteg engagiert werden. Das Model darf nicht von der Kleidung ablenken, aber eine Chance auf Erfolg hat es nur, wenn es auffällt. Wird das Model bemerkt, kann es mit dem großen Preis rechnen – einem Werbevertrag. Diese Verträge geben finanzielle Sicherheit und machen die Mädchen bekannt, was ihnen einen gewissen Status verleiht – der aber überhaupt nicht zu vergleichen ist mit der Zeit, als Models und nicht Promis die Titelseiten der Modemagazine bevölkerten.

„Die Sache ist viel komplexer, als die Leute denken“, sagt Suzy Menkes, Modereporterin der „International Herald Tribune“. „Die Leute müssen akzeptieren, dass es um viel mehr geht als um grauenhafte Models, die hungern, um in die Sachen reinzupassen. Viele dieser Mädchen sind in der postkommunistischen Ära aufgewachsen, mit einer extrem schlechten Ernährung. Von Kindheit an haben sie nichts Anständiges zu essen bekommen. Das macht sie vielleicht attraktiv für Modedesigner, aber sie bringen keinen gesunden Körper mit. Es muss unglaublich schwer sein, von der ukrainischen Armut nach Paris zu kommen, und plötzlich von Luxusgebäck umgeben zu sein“.

Bei Vera Wang treffe ich Backstage auf Tanya Dziahileva (15). Sie arbeitet als Model, seit sie 14 ist. Sie kommt aus Weißrussland. Nachdem ich tagelang metronomgleiche Schritte und leere Blicke beobachtet habe, fällt sie mir als das erste Model auf, das lächelt. Ja, sie strahlte geradezu, während die Worte wie Champagner aus ihr heraussprudelten.

„Models sind Models. Es ist nicht wie bei normalen Leuten. Sie müssen schön sein, eine gute Haut haben, alles muss perfekt sein“. Die Mädchen, die sich übergeben, seien „einfach dumm, es ist doch dumm, nichts zu essen. Man muss gut essen. Ich esse tolle Sachen. Sushi, Fleisch, Steaks. Ich esse bestimmt mehr als Sie“.

„Eigentlich ist es ja nett, dass sich die Leute Sorgen um uns machen“, sagt sie leise, als ich auf die Richtlinien zu sprechen komme, denen zufolge sie nicht mehr als Model arbeiten dürfen. „Aber ich bin 15, und ich fühle mich gut bei dem, was ich tue. Ich will nicht aufhören, nicht einen Monat, nicht einen Tag. Ein paar Mädels sehen so jung aus, bei denen habe ich das Gefühl, ich müsse sie ins Bett bringen. Aber ich fühle mich nicht wie 15. Eher wie 20. Ich fühle mich wie 30. Es geht mir großartig. Mein Leben ist toll. Welche 15-Jährige kommt schon in der Welt herum? Es ist doch unglaublich. Es ist schön, es ist fantastisch. Das ist die Welt der Mode.“

Der, hier leicht gekürzte, Text erschien zuerst in Annabelle.

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