Tracey Emin

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"Als ich geboren wurde, hielten sie mich für tot", so beginnt das Buch, und der Ton hellt sich später nur unwesentlich auf. Es geht bei diesen Geschichten, wie im Werk von Tracey Emin praktisch immer, um Unschuld oder den Verlust davon, nie um Schuld, und man kann deshalb leicht denken, dass ihre Kunst naiv ist – tatsächlich hat sie sich, so pathetisch das klingt, mit ihren Arbeiten aus der Rolle des Opfers befreit, in die sie hineingeboren wurde. Sie beschreibt das sehr direkt und drastisch, das Verhältnis von Sex und Macht: "Manchmal spritzten sie einfach nur ab und ließen mich liegen, wo ich gerade war, halb nackt", und gleich im nächsten Satz: "Es gab keine Moral, keine Regeln oder Urteile. Ich machte, was mir gefiel."

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War das also Freiheit, Sex? Oder war es Verletzung? Im Video gibt die Musik die Antwort, die keine ist: "You make me feel I am real." Sie dreht sich im Kreis – und kommt immer wieder auf Fragen zurück, die bleiben. Kinder zum Beispiel. "Ich wollte nie Kinder", das schreibt sie neben eine Reihe von Kinderschuhen, die sich die ganze Wand lang ziehen. "Nun, das ist eine Lüge. Manchmal wollte ich, aber meistens nur dann, wenn ich schwanger war." All ihren toten Kindern ist diese Arbeit gewidmet, schreibt sie. "I give up crying", das ist vielleicht der Schlüsselsatz dieser Ausstellung.

Was kann oder was soll also die Kunst? Sie kann Leben retten, und sei es das einer Künstlerin, bei der man nie sicher weiß, ob ihre Egozentrik oder ihre Empathie wirklich echt sind – aber was hieß schon "echt" in den postmodernen Neunzigern? Die Kunst der Tracey Emin wirkt von heute aus betrachtet wie eine sehr komprimierte, sehr zugängliche Botschaft aus dieser euphorischen, verlustreichen Zeit, die heute gleichzeitig nah erscheint und fern. Emin zeigt das eher im Kleinen als im Großen. Ihr Mikroskop ist ein Fernglas.

Gleich zu Beginn der Ausstellung "Tracey Emin. 20 Years" im Kunstmuseum Bern zeigt ein Video, wie sie als kauerndes Kleinkind in einer verwahrlosten Wohnung zwischen dem Müll ihres Lebens liegt, zu Füßen ihrer Mutter, die an ihr vorbeistarrt. Seltsam gebannt verfolgt man den Weg der Kamera, verwackelte Bilder einer verwackelten Biografie. Schicksal, Schmutz, Sex, das ist es doch, was die Leute wollen – so könnte man den kurzen und schnellen Ruhm der Tracey Emin zusammenfassen.

Ist sie geistesschwach, ist sie ein Kind geblieben? Dafür sprächen die Naivität, die Grellheit, die Selbstverliebtheit, der Selbsthass ihres Werkes. Ist sie zu bedauern? Dafür spräche ihre Biografie: Vergewaltigung, Missbrauch, Tod und Abtreibung, die den eigentlichen Kern dieses Werkes bilden. Sie selbst inszeniert sich oft in dieser Pose, die vielleicht gar keine ist bei dieser authentizitätsfixierten Künstlerin.

Aber das wäre etwas zu einfach. 20 Jahre Tracey Emin, das bedeutet vor allem: Die späten achtziger und die frühen neunziger Jahre in all ihrer Widersprüchlichkeit, zwischen der Prächtigkeit des Pop und der Feier des Schäbigen, des Schalen – eine Hinwendung zum Alltag fand damals statt, zur eigenen Geschichte, zum gelebten Leben, das in aller Genauigkeit und bis an die Ekelgrenze ausgeleuchtet wurde. Mit heutigem Krisenblick, der ja alles retrospektiv bedeutungsvoll einfärbt, scheint das, was sich damals etwa in den traurigen, vom Leben trunkenen Fotografien von Nan Goldin ankündigte, wie ein vorweggenommenes Endspiel inmitten all des Geldmachens und Geldausgebens und des Glamours der neunziger Jahre, der mittlerweile in den Castingshows versickert.

Tracey Emin ist da mit ihrem Werk an einer Schnittstelle. Die wackelige Euphorie der vergangenen Epoche ist darin zu finden, etwa in den Bettlaken, die mit Parolen bestickt sind wie "Don't look for revenge it just happens" oder "If you don't like it then go fuck yourself". Und auch ein Exhibitionismus, der heute allgegenwärtig zu sein scheint, aber für sie eine Art Erinnerungsübung ist, eine Möglichkeit, die Wunde weiter offenzuhalten, die ihr eigenes Leben ist. Die Berner Ausstellung, die zum ersten Mal Tracey Emins Werk im Zusammenhang zeigte, deutete dann auch Größe und Grenzen dieser Künstlerin an. Sie ist mit ihren Videos so etwas wie eine Anti-Pipilotti-Rist, deren Buntheit immer in Gefahr ist, poetisch und gefällig zu werden. Sie ist aber auch nicht Sophie Calle, die im eigenen oder fremden Leben nach Mustern, Rätseln, fast nach Schönheit sucht. Tracey Emins Medium ist, wenn man das so knapp sagen kann, das Hässliche, und gerade darum wirkt die Ausstellung dort, wo sie das Werk allzu museal inszeniert, etwas aufgeblasen.

Es ist klein, dieses Werk, weil es privat ist, und je länger sich der Blick darauf richtet und je größer mit den Jahren die Distanz wird, desto kleiner wirkt dieses Werk – was nicht als Werturteil gemeint ist, sondern den Effekt beschreibt, der sich einstellt, wenn man etwas so Verworrenes betrachtet wie die eigene oder die fremde Biografie.

Bei Tracey Emin, deren Werk man auch lesen kann als den wütenden Kampf um weibliche Selbstbestimmung, bedeutet das: Gebrochenheit, Gespaltenheit, Gedoppeltsein bis zum Selbstverlust. Der türkische Vater lebt mit seiner Ehefrau zusammen, nicht etwa mit der Mutter der beiden Zwillinge Tracey und Paul. Die sind nur deshalb auf der Welt, weil ihr Onkel Colin ihre Mutter von der Abtreibung abbrachte – jener Onkel Colin, der am 5. Februar 1982 in einem "Horror Crash" starb, sein Sportwagen war zusammengefaltet wie von der Schrottpresse, der Guardian berichtete darüber, und Tracey Emin machte daraus ein todtrauriges Arrangement, das ihren Pass zeigt und die goldene zerknüllte Packung Benson & Hedges, die Colin immer gern geraucht hat. Sie habe nicht geweint, schreibt sie im Brief an ihren toten Onkel, weil sie immer schon gewusst habe, dass so etwas passieren würde.

Es ist vielleicht diese mal fatalistische, mal humorvolle Haltung dem Unglück gegenüber, die heute an Tracey Emin anziehender ist als der angeblich so spektakuläre Tabubruch, wie er etwa in dem mit Namen bestickten Zelt "Everyone I Have Ever Slept With" von 1995 inszeniert war oder 1999, als sie ihr verwüstetes, verschmutztes Bett ausstellte. Das Leben der Tracey Emin ist eine Schlacht, lustvoll, schmerzhaft, grausam, brutal, selten zärtlich, im Alkohol verloren – die Kunst wird hier als Rache und Selbstschutz eingesetzt und sorgt, trotz allem, erstaunlicherweise für gute Laune.

Tracey Emin: Strangeland (Blumenbar Verlag, 17.90 Euro)

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