Alice Schwarzer schreibt

Arundhati Roy: Stoppt den Krieg!

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Alice Schwarzer: Arundhati, Sie waren gegen die ­krie­gerischen Interventionen im Irak und in ­Afgha­nistan. Wie viele Menschen im Westen, so auch ich. Jetzt, neun Jahre später, werden die Toten nicht mehr lebendig, sind die Infrastrukturen zerbombt und herrscht eine teilweise noch größere Gesetzlosigkeit als zuvor, gerade auch für Frauen. Was kann, muss der Westen nun tun?
Arundhati Roy: Es ist eine verfahrene Situation, in der wir nicht mehr einfach das Richtige oder Falsche tun können. Die Fortsetzung der ­Besat­zung aber wäre auf jeden Fall das Falsche! Afghanistan kann nicht auf konventionelle Weise unterworfen oder besiegt werden, daran ist schon der vorherige ­Besatzer, die Sowjetunion, gescheitert. Und die jetzt herrschenden Taliban sind ja die Kinder des Kampfes der Amerikaner gegen die Russen. Sie sind ohne Frauen in den ­Lagern aufgewachsen und entsprechend verroht. Doch sie sind heute die entscheidende Kraft, und ihr Kampf gegen die wechselnden Besatzer legitimiert sie in den Augen der Bevölkerung immer wieder aufs Neue.

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Es ist richtig, dass die Taliban in Afghanistan nicht zuletzt ein Produkt des heißen Kalten Krieges sind. Aber es gab den Islamismus schon vorher, nicht nur als Reaktion, sondern auch aus eigener Kraft. Denken wir nur an die Muslimbrüder in Ägypten oder den Aufbruch Khomeinis 1979 im Iran. Ist dieser weltweite Fundamenta­lismus nicht heute auch eine Gefahr für ­Indien? Ihr Land liegt schließlich neben Pakistan und Iran.
Von welchem Fundamentalismus ist die Rede? Es gibt viele Fundamentalismen. Es gibt den Hindu-Fundamentalismus oder auch den Fundamentalismus des Freien Marktes. Sicher, der islamische Fundamentalismus indoktriniert schon die ­Kinder – aber der kapitalistische Fundamentalismus indoktriniert sie schon, bevor sie auf die Welt kommen.

Wie das?
Mittels Werbung und Konsumwahn.

Kann man das gleichsetzen? Und erübrigt die Kritik am Kapitalismus eine Kritik am Islamismus?
Nun, allein meine Art der Existenz ist doch schon eine Kritik an den Taliban. Ich wäre eine der ersten, die unter ihrer Herrschaft gesteinigt würden. Doch es ging den Alliierten ja gar nicht um die Rechte der Frauen, als sie Afghanistan bombardierten …

… nein, das sieht nicht so aus …
… und für Indien sehe ich keine islamistische Gefahr. Sicher, bei uns leben 150 Millionen Muslime. Und sie alle werden jetzt unter dem Vorwand der islamistischen Gefahr verfolgt. In Gujarat wurden im Februar 2002 etwa 2.000 Muslime und Musliminnen öffentlich vergewaltigt und getötet. Doch kein Gericht hat ihnen je Gerechtigkeit widerfahren lassen. Im Gegenteil: Der dafür verantwortliche Politiker, Narendra Modi, wurde dreimal wiedergewählt und soll jetzt auch noch Ministerpräsident werden. Und der BJP-Abgeordnete Varun Gandhi verkündete jüngst öffentlich, alle Muslime müssten sterilisiert werden. Das ist eine Politik, die die Notausgänge versiegelt und dann auf Menschenjagd geht. Es geht um Vernichtung.

Und die Widerstandsbewegungen?
Bei denen wird jede Art von gewaltlosem Widerstand erstickt und niedergeschlagen. So werden letztendlich auch die friedlich Protestierenden in die Gewalt getrieben. Dennoch, die einzige Antwort darauf bleibt die Gewaltfreiheit. Man darf Unrecht nicht mit Unrecht beantworten, sondern muss seine Integrität wahren.

Aber droht die indische Provinz Kaschmir, die um Autonomie kämpft, nicht dennoch zum Einfallstor für die Islamisten zu werden? 
Wir leben heute in einer merkwürdigen ­Situation. Die mächtigen Länder, die 95 Prozent aller Waffen der Welt haben, sind alle Mitglieder des Sicherheitsrates. Und jedes kleine Land, das sich dagegen stellt, wird sofort als "Terrorist" abgestempelt. ­Allein in Kaschmir sind 500.000 indische Soldaten stationiert. Angeblich geht es da­rum, die islamistische Gefahr abzuwenden. Doch das ist nur ein Vorwand. In Wahrheit geht es um Landnahme und Ausbeutung der Bodenschätze, allem voran das kriegswichtige Bauxit. Die einzige Islamistin da ist eine verschleierte Militante namens Asiya Andrabi, deren Foto man häufig in der Zeitung sieht, dabei hat sie keine Gefolgschaft. Ihr Hype dient nur der Polarisierung, ist ein Vorwand für die Eskalation

Und welche Rolle spielen die Frauen in den indischen Widerstandsbewegungen?
Als ich im letzten Jahr im Kaschmirtal war, habe ich die Frauen gefragt: Könnte es sein, dass Frieden hier das Ende des Friedens für Frauen bedeuten würde? Da haben sie mir geantwortet: Und welchen Frieden haben wir jetzt? Permanente Militärkontrollen und Vergewaltigungen. Im Swattal waren es darum die Frauen, die die Taliban gerufen haben – weil sie sich von denen mehr Schutz versprochen haben als von den Soldaten. Doch es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass das alles irgendwann furchtbar gegen die Frauen zurückschlägt.

Davon ist sogar auszugehen … Wir haben ja in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt erlebt, wie ein Übel von einem noch größeren Übel abgelöst wurde – siehe Iran, wo der Polizeistaat des Schahs durch den Gottesstaat der Mullahs abgelöst wurde. Oder Palästina, wo die Mädchen heute daran gehindert werden, zur Schule zu gehen, und die Frauen unter den Schleier gezwungen werden. Immer waren es die Frauen, die in vorderster Front den Wechsel unter Einsatz ihres ­Lebens mit erkämpft hatten – und dann um ihre eigenen Rechte betrogen wurden.
Die Frauen stehen in der Tat auch heute an vorderster Front beim Widerstand. So kommen in Afghanistan die kritischsten Texte von RAWA, den revolutionären Frauen. RAWA hat die Taliban bekämpft, die Russen, die Amerikaner – und jetzt wieder die Taliban. Dasselbe gilt für ­Indien. Doch die Verhältnisse sind sehr komplex. Bei uns kann man die freiesten Frauen der Welt finden, aber auch ­weib­liche Leibeigene. Die Frauen schwanken zwischen Botox und Burka. Darum muss dieser Kampf immer von innen her ­geführt werden. Das gilt für die Frauen im Westen, die sich gegen den Jugendwahn wehren oder den Schlankheits- und Schönheitswahn ebenso wie für uns. Aber in Indien dürfen die Frauen wenigstens noch alt werden. Oder Hexen sein …

Beim Kampf gegen den Schönheitswahn bin ich dabei. Dennoch kann man doch nicht unterschlagen, dass es einen enormen ­Unterschied macht, ob ich als Frau immerhin formal gleichberechtigt bin und theoretisch gleiche Chancen habe – oder ob ich rechtlich unmündig bin und so unabhängig, dass ich noch nicht einmal mehr alleine das Haus verlassen kann, wie es in Afghanistan und inzwischen auch im Irak der Fall ist. Doch von all diesen Fragen versteht die ­Autorin vom "Gott der kleinen Dinge" ja sehr viel, wie wir Leserinnen wissen. Die politische Essayistin Roy allerdings scheint das vergessen zu haben. Ihr politischer Diskurs, Arundhati, ist ein klassisch linker – ihr literarischer sehr viel komplexer.
Bei dem Kampf gegen die Staudämme hat die feministische Bewegung in Indien keine Position bezogen. Aber im gesamten Widerstand stehen die Frauen an vorderster Front. Und sie sind auch besonders betroffen. Ein großer Teil des enteigneten Landbesitzes zum Beispiel ­gehört den Frauen, sie verloren buchstäblich den Boden unter den Füßen. Aber die Entschädigungen für das enteignete Land ging nur an die Männer. Auch aus diesem Grund kämpfen die Frauen noch stärker als die Männer gegen die Staudämme. Frauen spielen auch eine führende Rolle bei den NGOs – und die Hälfte der maoistischen Kämpfer in den Wäldern sind Frauen. Der Widerstand in ­Indien hat also stark feministische Züge.

Zumindest weibliche Züge … Aber noch einmal nachgehakt: Was ist mit der politischen Vordenkerin Arundhati Roy? Sie analysieren die Metaebenen der Macht in Ihren ­Essays – aber die Ursprünge von Macht und Gewalt in der Familie und zwischen den Geschlechtern verschweigen Sie.
Ich schreibe über all diese Probleme ja im "Gott der kleinen Dinge". Denn ich meine, diese quasi "privaten" Themen haben ihren Platz eher in der narrativen Literatur. Die Analyse der objektiven Machtverhältnisse aber, die Rolle von ­Kapital, Staaten und Mächtigen, gehören in den politischen Essay.

Kommen wir zu Ihnen, Arundhati. Sie sind bei Ihrer Großmutter aufgewachsen. Was war das für eine Frau?
Meine Großmutter war eine blinde Violinistin und durchaus beeindruckend. Aber sie war weniger stark als meine Mutter, die mich vor allem geprägt hat. Meinen Vater kenne ich kaum. Ich bin unter starken Frauen aufgewachsen – in meiner ­Familie waren es eigentlich eher die Frauen, die die Männer unterdrückt haben.

Wir kennen die leidenschaftlich wütende Arundhati Roy. Gibt es auch die fröhliche? Worüber können Sie sich freuen?
Über die kleinen Dinge im Leben: ein schönes Licht, eine Blume, ein Lächeln. Eigentlich bin ich ein sehr lebens­froher Mensch.

Zum Weiterlesen: Arundhati Roy: "Der Gott der kleinen Dinge", "Die Politik der Macht" (beide btb). Im März 2010 erscheint der Essayband "Aus der Werkstatt der Demokratie" (Fischer).

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