Es hat mich nie jemand gefragt
Die Worte des französischen „ewigen Juden“ Finkelkraut stellte die deutsche Jüdin Toni vor ihre Diplomarbeit über „Selbstkonzepte jüdischer und nichtjüdischer Studenten“. Und sie fügte hinzu: „Das ist der Roman, in dem ich aufwuchs.“ Am Beispiel von je 55 Befragten beider Seiten erforschte die Frankfurterin das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein jüdischer Jugendlicher in Relation zu nichtjüdischen.
„Ich hatte das Bedürfnis“, sagt sie, „meine eigene Geschichte aufzuarbeiten, mehr zu erfahren“. Am Ende ihrer fundierten Arbeit schreibt die junge Psychologin: „Persönlich löste die intensive Beschäftigung mit der Geschichte, die auch meine ist, tiefste Betroffenheit über das unvorstellbare Ausmaß des Grauens bei mir aus.“ Und sie gesteht: „Dies macht es mir zwischendurch unmöglich, an dem Thema weiterzuarbeiten.“
Heute, fünf Jahre danach, sitzt Toni vor mir: klug, beherrscht, vernünftig. Doch mit dem Kopf allein läßt sich Leid und Erniedrigung nicht begreifen – und schon gar nicht verarbeiten... Getroffen haben wir uns in den Räumen der Erziehungsberatung der Jüdischen Gemeinde, im zweiten Stock der (erhalten gebliebenen) Synagoge im Westend. Toni arbeitet hier als Erziehungsberaterin.
Kennengelernt hatten wir uns auf dem „Jahreskongress der jüdischen Jugend in Deutschland“ 1993 in München. Ich war eingeladen, das Eröffnungsreferat zu halten und hatte als Thema die heutige Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gewählt, sowie die Parallelen zwischen Antisemitismus und Sexismus. Toni war damals eine von rund 400 jungen Juden und Jüdinnen, die zuhörten und anschließend leidenschaftlich diskutierten. Nachts um zwei, als schon alle im Bett waren, saßen wir drei noch immer in der Hotelbar und redeten: Toni, ihre Freundin und ich.
Toni lebt heute in Frankfurt. Ihre Eltern haben wunderbarerweise beide die rumänischen Arbeitslager überlebt und zogen 1945 nach Israel. Dort aber fiel ihnen nicht nur das Hebräisch schwer. Sie fühlten sich fremd und gingen nach Deutschland, „da sprach man einfach die Sprache, die sie am besten konnten“. Die kleine Toni war damals fünf und fand das gar nicht lustig. „Es war so kalt hier.“
In der Diplomarbeit resümiert das Kind Überlebender den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur seelischen und körperlichen Verfassung all derer, die den KZs entrinnen konnten, und ihrer Kinder und Kindeskinder. Sie schildert das sogenannte „Überlebenssyndrom“, das die Opfer dieses „Seelenmordes“ verfolgt, Tag und Nacht. Sie beschreibt den Verlust des „Urvertrauens“ in diese Welt und das ständige Sich-fürchten-müssen, begleitet von Herzklopfen, Händezittern und Schwäche. Und sie fragt: „Welche Auswirkungen haben die Erinnerungen und Leiden der Eltern auf die psychische Entwicklung ihrer Kinder?“
Diese Kinder, die Eltern haben, die selber Schutz und Hilfe brauchen und so manches Mal zu Kindern ihrer Kinder werden. Eltern, die in großer Angst sind um ihre Kinder und sie schützen wollen, im Übermaß. Eltern, denen ihr Leben gestohlen wurde, und die sich ein zweites (Aus)Leben durch ihre Kinder erhoffen. Eltern, die als „teilnahmslos und kalt“ empfunden werden, weil sie all ihre Kraft zum eigenen Weiterleben brauchen. Eltern, die die Erniedrigung nie wirklich überwinden konnten. Eltern, denen soviel angetan wurde, daß das Kind es nie wagen würde, widerspenstig oder gar garstig mit ihnen zu sein...
Wer verachtet wird, verachtet sich selbst. Das kennen wir von uns Frauen, und das ist bei Juden nicht anders. Diese Selbstverachtung setzt sich in den Kindern fort. In Kindern, die auch noch im Land der Täter leben. Es ist also nicht überraschend, wenn die junge Psychologin bei ihrer Untersuchung eine „geringere Selbstachtung“ bei jüdischen StudentInnen feststellt als bei nichtjüdischen. Auffallend: In rein jüdischen Zusammenhängen steigt das Selbstbewußtsein. Hier sind jüdische Menschen endlich einmal nicht mehr „die Anderen“, sondern machen selbst das Gesetz.
Das ist wohl auch der Grund, warum eine Toni, die sich selbst als „nicht unbedingt gläubig“ bezeichnet, sich enger an die Jüdische Gemeinde anschloß und sogar einen jüdischen Studentenverband gegründet hat. Hier muß sie sich wenigstens nicht so Grobheiten anhören wie „draußen“, aus dem Munde von Franziska van Almsick zum Beispiel.
Über die ist Toni richtig empört! „Als sie zur Rede gestellt wurde wegen ihrer Hitler-Sprüche, da hat sie doch tatsächlich gesagt, Hitler sei doch eine Person der Geschichte, und sie würde überhaupt nicht verstehen, weshalb es jetzt so ein Theater gäbe. Sie interessiere sich eben für Geschichte, und damit müßte man doch jetzt wieder freier umgehen können. Die Probleme, die es mal gegeben hätte, die seien schließlich längst abgehakt...“
Abgehakt. Das hat das junge Sport-idol wirklich gesagt. Und das erbost die Tochter zweier Holocaust-Überlebender am meisten. Abgehakt! Wie Toni sich erklärt, daß die 17jährige Almsick das so sagen kann? „Na ja, die ist eben in einem Land zur Schule gegangen, das traditionell antiisraelisch eingestellt war. Gleichzeitig gab es in der DDR kaum noch lebende Juden. Die Almsick hat also vermutlich Israel mit Juden gleichgesetzt. Außerdem wollen viele junge Menschen nichts zu tun haben mit den dunklen Seiten der Geschichte. Hä, schon wieder Nationalsozialismus, man kann’s bald nicht mehr hören... Da wird verdrängt. Sonst müßte man sich ja auch fragen: Was hat eigentlich meine eigene Familie gemacht?!“
Und während die einen immer dickfelliger werden, werden die anderen dünnhäutiger. „Wenn ich zum Beispiel das Modewort ‘abartig’ höre“, sagt Toni, „da sträuben sich mir die Nackenhaare. Da denke ich gleich ‘entartet’. Mit der Parole wurden vor nicht so langer Zeit noch Leute verfolgt und Bücher und Bilder verbrannt.“
Auch Toni spricht, wie alle, mit denen ich in diesen Monaten rede, vom geschärften Blick und von der großen Sensibilität. Offenen Antisemitismus hat sie noch nie erlebt in Deutschland. „Vor allem, wenn sie wissen, daß ich Jüdin bin“, spottet Toni. „Dann kommt ihnen kein falsches Wort über die Lippen. Immer wenn ich nachhake, haben die Leute Menschen versteckt und waren sowieso alle dagegen. Ich habe in Deutschland noch nie jemanden getroffen, der gesagt hat: Ich habe die NSDAP gewählt. Oder: Ich bin verführt worden, tut mir leid. Oder gar: Ich denke heute noch so. Nö, das waren alles Widerstandskämpfer.“
Und während Toni draußen das beflissen „tolerante“ und „saubere“ Deutschland begegnet, herrschen drinnen die Erinnerungen. Das lastende Schweigen der Mutter. Die „Abenteuergeschichten“ des Vaters, der sich vor den Nazis verstecken und flüchten mußte. Wie die Eltern mit der Demütigung fertiggeworden sind? „Darüber haben sie nie ein Wort verloren.“
Der Vater, der vor einigen Jahren gestorben ist, wäre eigentlich lieber nach Amerika gegangen. Doch die Mutter wollte nach Deutschland. Dennoch ist Israel ihre „Heimat“ geblieben. Und die Tochter, die noch mit der Mutter zusammenwohnt? „Gute Frage“, sagt sie. „Ich fühle mich hier schon zuhause – aber von Heimat zu sprechen, das wäre zuviel. Im Grunde genommen würde ich mich als Europäerin verstehen wollen – und Israel dazurechnen.“ Nur auf internationalen jüdischen Treffen, unter Studenten zum Beispiel, ist Tonis Nationalität ein klarer Fall: in den Augen der ausländischen Juden ist sie allemal deutsch, typisch deutsch.
Im Frankfurter Gymnasium wiederum war Toni immer die Jüdin, wenn auch die freundlich „tolerierte“ Jüdin. „Daß ich Jüdin bin, war für niemanden ein Problem. Wir hatten auch einen Moslem in der Klasse. Aber wenn das Thema auf Nationalsozialismus kam, war immer ich dran. Weil ich was wußte, was die anderen nicht wußten...“
In den zwei, drei Stunden, die wir zusammensitzen, landen wir immer wieder bei der Frage nach dem Verhalten der Nichtjuden in diesem Land, in dem es vor einem halben Jahrhundert noch tödlich war, Jude zu sein. Und Toni antwortet stereotyp, es sei „eigentlich okay“, ihr habe noch nie jemand etwas getan, und sie würde wirklich „toleriert“.
Doch genügt das? Genügt es, daß die (potentiellen) TäterInnen und ihre Kinder „tolerant“ sind mit den Opfern und deren Kindern? Genügt es, daß wir 50 Jahre danach so tun, als sei nichts gewesen.
Toni scheint zunächst nicht zu verstehen, was ich meine. Allmählich aber spüre ich, daß sie es eigentlich weiß, es aber nicht sagen will. Ist das ihr schmerzliches Geheimnis? Ich frage direkt: „Was erwarten Sie von Menschen, die Ihnen nahe sind?“ Und Toni antwortet so direkt wie ich sie gefragt habe: „Eigentlich nichts mehr. Also von nichtjüdischer Seite nichts mehr.“
Und dann bricht es aus ihr heraus: „Für mich war immer klar, daß ich das Land verlassen muß, wenn das hier mal wieder nach rechts abdriftet. Früher haben meine Freundinnen und Freunde genauso geredet, haben gesagt, dann würde ich sofort nach Kanada oder Australien gehen. Heute, wo sie älter und gesettelter sind, habe ich das Gefühl: Außer mir würde keiner gehen. Die müßten ja auch nicht gehen. Die könnten sich arrangieren.“
Toni rührt in ihrem kalt gewordenen Kaffee. „Sicher, solange die Verhältnisse liberal sind, ist alles bestens. Aber sobald es sich verschärft, kann ich nicht mehr auf die Leute bauen. Ich glaube auch nicht, daß ich durch meine Freundschaft etwas bewirkt habe. Ich glaube nicht, daß sie aufstehen und wirklich etwas tun würden.“
Und die Menschen, die ihr ganz nahe sind? Da antwortet Toni ganz ruhig: „Ich bin auch von meinen besten nichtjüdischen Freunden in Deutschland noch nie nach meiner Geschichte gefragt worden. Die wollen das einfach nicht wissen.“
Plötzlich hören wir draußen Töne, deutsche Töne. Marschschritte, skan-dierte Parolen und Megaphone. Wir treten ans Fenster der Synagoge und schauen hinunter auf die Straße. Jugendliche und ihre Lehrer mit Transparenten. „50 Jahre Hiroshima“ steht da drauf. Der Trupp bleibt vor der Synagoge stehen und beginnt, durch die Megaphone zu rufen.
Ich glaube, in diesem Augenblick beschleicht uns beide sowas wie Angst. Dabei ist es so gut gemeint.