Das kleine Mädchen, das ich war: Elfriede Gerstl

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1938, als Österreich an Nazi­deutschland angeschlossen wurde, war Elfriede Gerstl gerade sechs Jahre alt. Das Kind musste sich tot stellen, um zu überleben: Im Versteck entging die jüdische Familie der Deportation. Nach der Befreiung besuchte Elfriede Gerstl erstmals eine reguläre Schule, machte Abitur und begann Medizin, später Psychologie zu studieren - und zu schreiben. 1955 erschienen ihre ersten Texte in der einzigen Literaturzeitschrit, die es damals in Wien überhaupt gab. Fünf Jahre später heiratete sie — 28jährig — einen Kollegen, brach das Stu­dium ab und bekam eine Tochter. Dennoch schrieb sie weiter, 1962 erschien ein kleiner Gedichtband. 1973 veröffentlichte der Verlag Jugend und Volk Hörspiele: "Berechtigte Fragen", 1978 gab die Edition Neue Texte Gerstls ersten Roman heraus, "Spielräume". Im letzten Jahr setzte sie sich kritisch und scharfzüngig mit den Selbstgefälligkeiten der österreichischen Kulturfunktionäre auseinander. Diese auch hierzulande sehr lesenswerten Aufsätze "Narren und Funktionäre" erschienen als Sonderheft bei Frischfleisch und Löwenmaul (einer österreichischen Kulturzeitschrift).

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Meine ersten drei Lebensjahre verbrachte ich in einer großbürgerlichen Wohnung, der Flur schien mir mit meinem kleinen Dreirad fast endlos befahrbar, am wohlsten fühlte ich mich in der Küche, wo mir die jeweilige Köchin (mein Vater wechselte oft die Angestellten, was mich sehr ärgerte, weil ich mich oft schon mit diesen angefreundet hatte) Teigausstecher und andere Küchengeräte anvertraute. Mein "Fräulein" (wie man damals sagte), die ich immer Theta nannte, war, so glaube ich jetzt, vor allem dazu da, um mit mir, vornehmlich im Belvedere-Garten, spazieren zu gehen; besonders zu Zeiten, in denen mein Vater wieder mal viel Geld verspielt hatte, war so zu zeigen, dass wir uns eine schicke blauweißgekleidete Bonne noch leisten konnten.

Meine Mutter, die mir schön und in vielerlei Kleidern erschien, habe ich in diesen ersten Jahren als von mir Abschied nehmend in Erinnerung, weil sie ausging; oder seufzend und schluchzend im Bett liegend, und wie ich heute weiß, an vielerlei psychosomatischen Leiden erkrankt. Von meinem Vater, einem kleingewachsenen Mann aus kleinen Verhältnissen, milder Vorliebe für große Frauen, Nachtlokale und einen mondänen Lebensstil, der ihm immer eine Nummer zu groß blieb, sind mir einige Bilder im Kopf geblieben. Am Mittagstisch gutgelaunt sich von mir füttern lassend, unwirsch Angestellte anbrummend, in der Ordination im weißen Mantel für Kinder Micky-Maus-Filme vorführend. Im Haus der Zahnpraxis befand sich ein großes Ringstrassencafe, das "Korso", das mit vielen großen Spiegeln ausgestattet war. Dort saß ich manchmal mit Mutter und "Fräulein", schaute die schönen bunten Damen in den Modezeitschriften an und wartete darauf, daß mein Vater kurz vorbeikam, denn sein zweiter Arbeitsplatz war an den Bridge-Tischen im Spielzimmer des Cafés. Als ich fünf Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden.

Ich lebte nun mit Mutter, Großmutter und Tante, drei verbitterten Frauen, die von ihren Männern verlassen worden waren, in einer Zweizimmerwohnung. Bis in die späten Abendstunden wurde miteinander gestritten, um Schuldfragen aller Art, um eine ungerecht verteilte Erbschaft, über betrügersiche Anwälte. Jetzt lag meine Mutter meist im Bett, die Ärzte hatten ihre großen Auftritte. Ich musste in der kleinen Wohnung fast alles mitanhören, lernte bald lesen und zog mich in eine Phantasiewelt zurück, die u. a. von Karl May, Daniel Defoe und Sven Hedin gespeist wurde. Ich war oft krank. Weil meine Mutter ständig befürchtete, dass ich mich erkälten könnte, war ich meist zu warm gekleidet, wenn ich dann wieder mal erkältet war, marschierten ihre Ärzte an meinem Bett auf, furchterregende aber auch faszinierende Personen, die unverständliche Wörter gebrauchten. Kein Wunder, dass ich einige Jahre lang Ärztin werden wollte. Meine oft übertriebenen Krankheitsängste, die auch heute noch fallweise für Stunden auftreten können, leite ich aus dem Sanatoriumsklima dieser Zeit her, in dem ich auch die jeweils angeordnete Magen- oder Gallediät meiner Mutter zu essen bekam.

Ich erinnere mich an einen Spaziergang, bei dem mir ein Staubkörnchen ins Auge flog, worauf ich von dem verdatterten "Fräulein" verlangte, zum Augenarzt geführt zu werden. Als sie mich ablenken und mir zum Trost eine Eistüte spendieren wollte, wehrte ich erschrocken ab, weil erstens meine Mutter schimpfen würde und zweitens ich davon Halsschmerzen bekäme. Kinder kamen nur sehr selten zu Besuch, Rollenspiele mit meinen Puppen lehnte ich ab, dazu war ich wohl zu gestört. Gegen morgendliche Beklemmungen und Angstgefühle bekam ich Digitalis und Baldriantropfen, wegen eines Muttermals am rechten Knie durfte ich nicht laufen, um nicht hinzufallen und fühlte mich krank und verletzlich wie meine Mutter. Spätere Untersuchungen ergaben, dass ich keinerlei somatische Behandlung gebraucht hätte. Richtig lachen konnte ich eigentlich nur, wenn meine Tante, die Schwester meiner Mutter, die das arme häßliche Entlein in der Familie war und von allen gehackt wurde, aber als einzige unkonventionell lebte, komische Geschichten von Sängern und Schauspielern erzählte, mit denen sie bis spät nachts in ihrem Stammcafé saß.

Mit Vorliebe hockte sie auf dem Boden des bürgerlichen Speisezimmers, probierte exzentrische Hüte, brachte allerhand Trödel nach Hause, schlief bis Mittag und zeigte lauter "abweichende" Verhaltensweisen, die ich aufregend fand. Sie repräsentierte für mich eine Freiheit, die mich für Augenblicke meine Ängste und Krankheiten vergessen ließ. Sie sagte auch manchmal merkwürdige, unverständliche Sätze, wie zum Beispiel "Mich mögen die Männer nicht, ich bin eine frigide Frau". An den verstörten Gesichtern von Mutter und Oma konnte ich erkennen, dass sie schon wieder etwas ungehöriges gesagt hatte.

Mit 11 Jahren traf mich meine erste Menstruation völlig unvorbereitet. Ich war überzeugt davon, diesmal von einer furchtbaren Krankheit befallen zu sein. Als ich meiner Mutter davon erzählte, war sie ungewöhnlich verlegen und sagte, ich müsste mich daran gewöhnen, was ich da schildere käme nun jeden Monat, meine Kinderärztin, die auch gerufen wurde, würde mir alles nötige er­klären. Sie nahm die Sache viel leichter, sagte Gratulation, jetzt bist du erwachsen und rezeptierte ein Mittel gegen die starken Krämpfe, die nun jeden Monat auftraten.

Da haben wir ja jetzt eine richtige kleine Frau, wenn du Fragen hast, frag ruhig, sagte Mittlers Hausarzt anlässlich seines nächsten Besuches und tätschelte mir die Wange. Ich wusste aber nicht was ich fragen sollte, war vor allem beklommen und ließ meine Mutter von meinen Beschwerden erzählen.

Ich erinnere mich, dass schon früh (spätestens aber mit vier oder fünf Jahren in der "Frauenwohnung") allerlei Phobien, Zwangsgedanken und paranoide Vorstellungen auftraten, die von mir mitgeteilt oder verheimlicht wurden. Nicht geheimzuhalten war meine Furcht vor Spinnen, vor denen ich schreiend davon lief und verlangte, dass sie sofort gelötet würden. Bekannt war mein Zählzwang (Treppenstufen, Pflastersteine auf der Straße) und meine Angst, dass mich meine Mutter im Wartezimmer von Ärzten oder Anwälten vergessen könnte, wie ich sagte, das heißt ich hielt es für möglich, dass sie mich dort zurücklassen wollte. Geheim hielt ich Gedanken wie: diese Eltern sind gar nicht meine Eltern, die französischen Vokabeln, die meine Lehrerin mich abfragt, bedeuten ganz etwas anderes, als man mir gesagt hat. Auch sogenannte philosophische Gedanken, wie sie wahrscheinlich jedes Kind hat (warum ist die Welt wie sie ist und nicht anders, warum bleiben die Gegenstände konstant, das heißt warum verändern sie sich nicht über Nacht, warum sind sie am Morgen gleich und am gleichen Ort), hielt ich als etwas Abstruses geheim.

Als Beruf für ein Mädchen (mit Jungen hatte ich keinerlei Kontakt, die ich im Park beobachtet hatte, erschienen mir nur laut, aggressiv, angeberisch) imponierte mir Tänzerin oder Trapezkünstlerin (wohl wegen meiner Höhenangst) oder eben Kinderärztin. Nicht zu werden wie meine Mutter war mein sehnlichster Wunsch, nicht von einem launischen Ehemann Geld zu brauchen, das, wie ich meinte, nur durch Weinen und Streiten zu bekommen war. Aufmüpfig war die damals sehr ungewöhnliche Weigerung meiner Mutter, Hausarbeit zu machen, so dass wir, nachdem die Köchin endgültig entlassen worden war, oft ins Restaurant gingen (nur Diätspeisen wurden handgefertigt) und ihre Bedenkenlosigkeit im Erfinden von Ausreden und phantasievollen Geschichten, mit denen sie Gläubiger zu vertrösten verstand. Kredit hatten wir bei der Wäscherin, genannt Fidamutti, beim Praktiker, dem Dr. Wurmfeld sowie eine Monatsrechnung bei der Milchfrau gegenüber, der Frau Wellikei. 1938 musste meine Mutter ihre von ihrem'Vater geerbten Häuser in Köln an die Nazibürokratie zwangsverkaufen und zwar weit unter ihrem Wert, in Österreich musste der Schmuck ohne Gegenwert abgeliefert werden, mein Vater emigrierte sehr bald, während wir aus Unentschlossenheit blieben, bis es zu spät war. Ich bewunderte die Fähigkeit meiner Mutter detailreiche Geschichten zu erfinden, war aber verunsichert, weil von mir zugleich (eigene) "Wahrhaftigkeit", aber auch Verschwiegenheit erwartet wurde. Manche Geschichten wurden beim Wiedererzählen abgewandelt, manche wurden ins Repertoire aufgenommen und auch jenseits ihres ursprünglichen Zwecks als wahre Begebenheit wieder und wieder erzählt. Ihre Fabulierkunst hat dazu beigetragen, dass wir der Deportation entronnen sind.

Einmal nahmen die "Ordner" (die Nazis bedienten sich jüdischer Funktionäre, die, nachdem sie einen "Transport" erfolgreich abgefertigt hatten, selbst deportiert wurden) uns nicht mit unfeinen bereitstehen Lastwagen, weil meine Mutter krank im Bett liegend und mit Attesten ausgestattet erklärte, nicht gehen zu können, und weil gerade keine Tragbahre aufzutreiben war, wurde unser "Reisetermin" für eine Woche verschoben.

Auch andere Tricks gelangen ihr. In der kleinen Substandardwohnung, in die man uns mit wenig Hausrat überraschend gebracht hatte und wo meine Großmutter 1942 an Herzschlag starb, stellten wir uns einige Wochen lang "tot" oder schon deportiert. Wir gingen nicht mehr aus, hatten die damals übliche Verdunklungsrolle aus dickem schwarzem Papier heruntergelassen, verhielten uns ruhig, flüsterten und bekamen im Tausch gegen versteckt gehaltene Schmuckstücke von einer eingeweihten Nachbarin Lebensmittel und Zeitungen.

Unsere unmittelbaren Nachbarn waren verreist (der Mann, ein Nazi, im Feld, die Frau am Land) und die anderen Bewohner des Hauses sollten die Wohnung für leer halten. Ob manche geahnt hatten, dass wir noch da waren oder es für zu unwahrscheinlich hielten, dass man sich in der eigenen Wohnung versteckt — es hat uns jedenfalls niemand angezeigt. Erst als unsere Mitwisserin von neuen Verhaftungen in der Straße erzählte, wechselten wir unbemerkt in eine andere leerstehende Wohnung in unserem früheren Wohnhaus, die uns für solche Fälle von der Hauswartsfrau angeboten war. Schlimm war, dass wir so leise sein mussten, (man konnte fast nur auf dem Bett liegen) und dass es zum Lesen der wenigen Bücher (z. B. Lederstrumpf und Schillers Balladen) gar so dämmrig war. Nur an richtig sonnigen Tagen fiel ausreichend Licht durch die Löcher in dem Rolleau, die der ganzen Länge nach in regelmäßigen Abständen und an beiden Seiten wiederkehrten.

Sich diesen Löchern zu nähern, war aber nicht ratsam, weil man von gegenüber beobachtet werden konnte, erst abends konnte ich schon mal einen Blick riskieren in die beleuchteten Kleinwohnungen, wo Leute am Tisch saßen oder im Sommer im Unterhemd herumgingen.

Ein etwa gleichaltriges Mädchen hatte meine ganze Bewunderung. Sie war schön gekleidet, ihre Mutter nähte für sie am Fenster sitzend, braun gebrannt kam sie erst abends, vermutlich vom Schwimmen nach Hause und schien mir sehr selbstbewusst. Ich hatte keine Hoffnung, sie jemals kennenzulernen.

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"Nur Verdopplung" (8/1986)

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