Alice Schwarzer schreibt

RAF 1989: Wie war das in den 50ern?

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Selten war ich auf eine Begegnung so gespannt wie auf die mit ihr. Was wohl aus ihr geworden war in den letzten 30 Jahren? Renate Riemeck, 1950 jüngste Professorin in der Bundesrepublik. Um 1958 Vorbild aufmüpfiger Studentinnen nicht nur in Wuppertal (wo sie an der Pädagogischen Hochschule unterrichtete). Um 1960 ein öffentlicher „Fall" und erstes Opfer der Berufsverbote Grund: angebliche „Ostkontakte". 1961 Mitbegründerin und Vorsitzende des Grünen-Vorläufers DFU (Deutsche Friedensunion); eine Partei, die schon damals gegen Atomwaffen und Aufrüstung, für Frieden und den Dialog mit dem Osten kämpfte. Und, nicht zuletzt - soziale Mutter von Ulrike Meinhof und über Jahrzehnte deren geistiges wie politisches Vorbild.

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Wie habe ich es mit 19 bedauert, noch nicht wählen zu dürfen (damals ging das erst ab 21)! Klar war, wer meine Stimme gekriegt hätte: die DFU. Denn in dieser Zeit der Wiederbewaffnung, des Wirtschaftswunders und des Mauer-Kitsches schien mir bei den Wahlen 1961 die DFU die einzige wirkliche Opposition, und für diese DFU stand vor allem ein Name, ein Kopf (der auch den Spiegel-Titel vom 23. August 1961 zierte): Renate Riemeck, eine „muntere Junggesellin, ein wenig viril und ein wenig charmant", die „in das mickrige Bonner Wahlkampf-Feuer gepustet" hatte (so der Spiegel kokett in seiner Titelstory).

Mitten im Wahlkampf wurde die Mauer gebaut. Deutscher Revanchismus hatte Hochsaison. Die DFU bekam gerade noch knappe zwei Prozent und verschwand in der Versenkung. Ganz wie Renate Riemeck. Die tauchte erst wieder auf, als Ulrike Meinhof steckbrieflich gesucht wurde. Jetzt wurde bekannt: Renate Riemeck hatte nach dem Tod von Ulrikes Mutter im Jahre 1949 als 28-Jährige die Vormundschaft für die damals 14-Jährige und deren Schwester Wienke übernommen. Bis zu Ulrikes Eheschließung 1962 blieb sie, nach ihren eigenen Worten, deren „engste Vertraute".

Die Historikerin Riemeck musste als politisch Unerwünschte 1960 ihre Stelle als Professorin aufgeben und lebt seither von ihrer Arbeit als Referentin und Buchautorin: Veröffentlichungen u.a. Mitteleuropa. "Bilanz eines Jahrhunderts" (Fischer Verlag); "Moskau und der Vatikan" (Verlag Die Pforte). Die große politische Bühne betrat sie nie mehr. Dabei spielt eine späte Kinderlähmung, gegen die sie seit 1960 jahrelang ankämpfen musste, eine wesentliche Rolle. Aber vielleicht auch die bittere Erfahrung mit Ulrike Meinhof...

Renate Riemeck lebt heute, zusammen mit ihrer Freundin in einem idyllischen Dorf an der hessischen Bergstraße. Die Frau, die mir die Tür öffnet, ist 28 Jahre älter als die auf dem DFU-Wahlplakat. Aber sie strahlt noch immer die Energie und Angriffslust aus, die sie auch damals gehabt haben muss. Mit den Worten „Ach, da ist ja die Oberhexe!" und einem Handschlag werde ich energisch begrüßt. Nach einem ersten Kennenlernen und der zweiten Tasse Kaffee schalte ich das Tonband an.

Alice Schwarzer Renate Riemeck, Sie waren schon immer eine Frühstarterin und Ausnahmefrau. Sie haben 1943 mit 23 promoviert und sind dann auch gleich Assistentin an der Uni in Jena geworden...
Renate Riemeck Kein Wunder, die Männer waren ja alle eingezogen, da mussten sie einfach auf Frauen zurückgreifen. Eigentlich hatte ich auch das Kriegsende schon eher erwartet, nach dem Untergang der 6. Armee. Aber es dauerte dann ja doch noch ein Jahr und ein halbes Jahr dazu, bis es endlich soweit war. Als dann die amerikanischen Soldaten vor Jena standen und, obwohl die deutschen Soldaten alle weg waren, noch anfingen zu ballern - da bin ich denen entgegengezogen und habe gesagt: Sie brauchen nicht mehr zu schießen! Kurz vorher war ich mit einem Bettlaken in der Aktentasche runtergegangen in die Stadt und hatte es zusammen mit einem Vorarbeiter als weiße Fahne auf dem Hochhaus der Zeiss-Werke gehißt. Mein Bettlaken. Das war mein schönstes Kriegserlebnis!

Sie lebten damals schon mit den Meinhofs zusammen, der Witwe Ingeborg und ihren Töchtern Ulrike und Wienke. Wieso eigentlich?
Das war 1940. Ingeborg Meinhof und ich, wir waren beide im ersten Semester, sie war allerdings elf Jahre älter und gerade verwitwet. Eines Tages gingen wir zusammen ein Stück Weg nach Hause, und da sagte sie zu mir:,,Was halten Sie davon? Wie wird das weitergehen mit dem Krieg?" Ich antwortete ganz spontan: „Den Krieg muss Hitler verlieren!" - So begann unsere Freundschaft. Aber die feste Verbindung hat Ulrike gestiftet. Sie war damals fünf und von ihrer Mutter mit einem kleinen Rucksack zu mir geschickt worden, um mir ein Buch zu bringen, an dem wir beide arbeiteten. Sie war ein entzückendes Kind und sehr vertrauensselig. Am nächsten Tag kam sie wieder. Diesmal mit kaputtem Spielzeug. Sie bat mich, ihr Spielzeug heilzumachen. - Dann ging sie nach Hause und sagte zu ihrer Mutter: Du brauchst das Zimmer, das wir übrig haben, nicht mehr zu vermieten. Da zieht die Renate ein. Und heiraten brauchst du auch nicht mehr. Denn die Renate macht jetzt das Spielzeug heil. Ich wurde so etwas wie die große Schwester von Ulrike, und wohl auch eine Art Vaterersatz. Nach dem Tod ihrer Mutter, damals war sie 14, sagte sie zu mir: „Wir haben jetzt nur noch dich." Na ja, wir sind dann auch zusammengeblieben. Ulrike war so rührend, sie wollte immer, dass ich im Rinnstein unten ging— sie lief dann auf dem Bürgersteig oben, damit sie mich direkt unterhaken konnte. „Du musst jetzt sehen, dass du mit einem Menschen erwachsener Art befreundet bist", sagte sie.

War Ulrike für Sie der wichtigste Mensch bei den Meinhofs?
Ja. Und ich wurde es wohl auch für sie. Sie hing immer an meinen Fersen. Sie war ein unglaublich heiteres, lebhaftes, sehr eigensinniges kleines Wesen, kommunikativ bis zum letzten. Man konnte mit ihr nirgendwo hingehen, ohne dass sie alte Leute unterhielt. Sie war auch der Mittelpunkt einer Bande von Jungs und Mädchen, aber überwiegend Jungs. Im Gegensatz zu ihrer Schwester weinte sie nie, wenn sie Schmerzen hatte. Und sie war sehr gutmütig. Eines Tages fanden wir auf einem Spaziergang auf dem Schlachtfeld von Jena ein kleines Kaninchen, das in eine Grube gefallen war. „Das holen wir raus", sagte Ulrike und schaffte das auch mit einem Balken. Darüber hat sie dann die erste Geschichte ihres Lebens geschrieben. Ganz typisch für sie ist auch folgendes: Eines Tages kam sie zu mir und sagte; „Du, ich glaube, ich muss den Bubi heiraten." Ja, warum denn?, habe ich gefragt. „Der schützt sich immer so an mir", hat sie geantwortet.

Menschen schützen und retten, damit war ja Ulrike nun doppelt vorbelastet: durch ihre Familie, in der die Männer seit Generationen Pastoren waren, und durch Sie. In einem Aufsatz über Ihre Kindheit im Dritten Reich haben Sie die wesentlichen Stationen geschildert: Kind einer katholisch-protestantischen Ehe; aus großbürgerlichem Elternhaus, aber aus einer zerrütteten Ehe und ab dem zwölften Lebensjahr allein mit der völlig verarmten Mutter, die nicht zum Vater zurückwollte; früh geprägt vom politisch sehr bewussten und „über alles geliebten" Großvater, der Sie schon als Kleines an die Hand nahm und Ihnen die Welt erklärte. Ihre Mutter schickte Sie zwar mit zwölf in die Hitlerjugend (,,Wo man singt, da lass dich ruhig nieder"), war aber ab dem Reichtagsbrand erklärte Antifaschistin mit Zivilcourage. Sie selbst hatte schon als Schülerin Kontakt zu den Widerständlern und den damals verbotenen Anthroposophen. Nach dem Reichstagsbrand hatte Ihre Mutter zu Ihnen gesagt: „Vergiss nie, dass du jüdischen Kinderärzten zweimal dein Leben verdankst!"
Ich habe ja auch nicht zufällig über „Ketzer" promoviert. Damit meinte ich eigentlich die Juden.

Was wussten Sie persönlich eigentlich vor 1945 über die KZs?
Es gab nichts, was ich nicht gewusst hätte. Und ich fand es so erbärmlich, dass die Menschen hinterher alle behaupteten, sie hätten nichts gewusst - selbst dann nicht, wenn sie, wie wir, so nahe bei einem KZ wie Buchenwald lebten.

Wussten Sie auch von der systematischen Vernichtung der Juden?
Von dem Ausmaß habe ich erst später erfahren. Ich wusste aber, dass sie alle nach Auschwitz geschickt und dort auch umgebracht wurden. Das hat mich natürlich geprägt. Ich habe 1945, kurz vor dem Zusammenbruch, zufällig gesehen, wie Leute aus dem KZ Buchenwald auf der Landstraße von Weimar nach Jena getrieben wurden. Ich sehe diesen ganzen Zug von Elendsgestalten noch heute vor mir... Damals sagte ich leise zu den KZlern: Es dauert nicht mehr lange, es dauert nicht mehr lange. Und ich habe mir geschworen: Nie in meinem Leben werde ich etwas gegen diese Menschen sagen oder sogar tun.

In Buchenwald waren ja überwiegend politische Häftlinge, Kommunisten und andere Widerständler gewesen. - In der Tat haben Sie sich selbst in den Zeiten des Kalten Krieges, als man Sie so hetzte unter dem Vorwand angeblicher „Ostkontakte", nicht von den Kommunisten distanziert, obwohl Sie selbst nie Kommunistin waren.
Das war für mich selbstverständlich.

Können Sie einmal für diejenigen, die diese Zeit nicht erlebt haben, die Verhältnisse und Ihre Ziele genauer schildern?
Nach dem Krieg war ich entschlossen, in die Lehrerbildung zu gehen, weil die Lehrer die Jugend erziehen. Mein erster schwerer Schock kam 1952/53, als unter Adenauer die Diskussion um die Wiederbewaffnung anfing. Von da an war ich sehr wachsam. Als sich die erste Anti-Atom-Bewegung entwickelte, war ich sofort dabei. Damals lehrte ich an der Pädagogischen Hochschule in Wuppertal, und da dachten fast alle so wie ich. Bei einem Protestmarsch gegen die Atombewaffnung ging das ganze Kollegium mit.

Die Menschen hatten damals ja auch die Schnauze voll vom Krieg.
Stimmt, die Mehrheit wollte keinen Krieg mehr. Wie die dann ganz allmählich umgedreht wurden, das war sehr interessant. Ich engagierte mich damals ganz offen gegen die Remilitarisierung, schrieb Artikel, trat auf Veranstaltungen auf. Einmal sprach ich vor 20.000 Leuten, da war auch der Herbert Wehner dabei. Er sagte zu mir: „Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?" Und ich antwortete: „Ich weiß, was ich tue. Aber wissen Sie, was Sie tun?" - Damals hatte die SPD unter Führung von Wehner gerade ihren Rechtsruck vollzogen und stimmte mit für die Wiederbewaffnung und für die Atombombe. Diejenigen, die jetzt noch wagten, dagegenzureden, wurden immer weniger. Selbst der Physiker Weizsäcker, der Bruder vom heutigen Bundespräsidenten, der zunächst gegen die Atombombe gewesen war, kam von einer mehrmonatigen Amerikareise zurück und sagte nun: „Man kann gar nichts machen..." Mit der Bombe leben! hieß das neue Weizsäcker-Schlagwort, das der Anti-Atom-Bewegung einen schweren Schlag versetzte. Ja, und dann kamen auch noch die Angriffe auf Niemöller. Der war in Polen gewesen und hatte sich nicht von der Oder-Neiße-Grenze distanziert... Dem bin ich dann zur Seite gesprungen, habe einen Artikel darüber geschrieben, wie beschämend es ist, Polen nicht endlich in Frieden zu lassen, und wie aberwitzig, ihnen die Oder-Neiße-Linie übelzunehmen: Denn die stammt ja noch nicht einmal von den Russen, sondern von Churchill.

Ein hochaktuelles Thema...
Traurig genug. 1958 habe ich dann noch einen kritischen Artikel über den sehr reaktionären, demagogischen und verdummenden Wahlkampf von Adenauer geschrieben. Das war wohl zuviel. Jetzt wurde ich in der konservativen Presse angegriffen. „Professor Riemeck prüft Marx", hieß es. Das war der Auslöser der ganzen Hatz. Das Ulkige war, dass ich noch nicht mal Marx geprüft hatte - und wenn, warum nicht - sondern dass ein Kollege das getan hatte. Das hat mich am meisten gekränkt.

Das war ja die Zeit der McCarthy-Prozesse in den USA und des KP-Verbotes in der BRD. Adenauer ließ Kerzen „für unsere Schwestern und Brüder drüben" in die Fenster stellen, und Brandt hielt als Berliner Bürgermeister flammende, antikommunistische Reden. Das Ausmaß der antikommunistischen Hetze kann man sich heute, 20 Jahre nach 68 und auf dem Höhepunkt der Gorbi-Euphorie, kaum noch vorstellen.
Ja, und es war auch ganz klar, dass es zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik darum ging, ob wir einen Rückfall in die Obrigkeitsstaatlichkeit zulassen und eine Militarisierung allen Denkens und Fühlens. Jemand wie ich musste da einfach mundtot gemacht werden, weil ich die Wirklichkeit sagte.

Was war die Wirklichkeit?
Nie wieder Krieg! Und dass wir als Deutsche nicht in das westliche Militärbündnis gehören, sondern als Mitteleuropäer unsere Verbindung zum Osten erhalten müssen. Und dann kam auch noch die Gründung der DFU - nun stand ich endgültig unter Verdacht, von der „Zone" vereinnahmt worden zu sein.

Wie kamen Sie eigentlich in diese charismatische Rolle des Stars der außerparlamentarischen Opposition und Gründerin einer Oppositionspartei?
Durch die Proteste gegen mich war ich ja in aller Munde. So kam es, dass sich viele Leute an mich wandten, darunter zum Beispiel der Vater der Geschwister Scholl, ehemalige Emigranten, ganz Linke, aber auch Leute wie Albert Schweitzer, der Urwalddoktor und damaliger Friedensnobelpreisträger. Der schrieb mir, es freue ihn zutiefst, dass es Menschen wie mich in Deutschland gäbe, und ich hätte ja so furchtbar recht.

Und Ulrike Meinhof in dieser Zeit?
Ulrike studierte damals noch in Gießen und war verlobt mit einem sehr netten jungen Mann, der ausgerechnet Atomphysiker war. Katholisch war er auch noch. So kam es, dass sie zunächst gar nicht begeistert war von der Anti-Atom-Bewegung. Sie sagte: "Um Gottes willen, mach das bloß nicht." Ich antwortete ihr: Das ist deine Meinung, du mußt selber sehen, wie du da hinein und hinaus kommst... Na schön, die Verlobung löste sich auf, und sie ging an die Uni Münster. Da kam sie rasch in Kontakt mit Leuten aus der Anti-Atom-Bewegung und machte dann auch bald selber mit. Von Münster ging sie nach Berlin, begegnete Klaus Röhl und fing an, in konkret zu schreiben. Ich blieb in all den Jahren so eine Art Zuflucht für sie. Vor allem, nachdem sie 1962 die Zwillinge bekommen hatte und ja auch gleichzeitig ein Tumor in ihrem Kopf entdeckt worden war. Ulrikes Kinder waren in den ersten Jahren viel hier, bei mir und meiner Freundin, wir haben die Zwillinge mit großgezogen. Ulrikes Ehe lief ja auch sehr schnell schief. Ich bin gar nicht so sicher, ob der Konflikt wirklich soviel mit Politik zu tun hatte. Ulrike war, glaube ich, vor allem verletzt über seine Frauengeschichten. Ich weiß noch, wie es Weihnachten 1965 draußen plötzlich hupte: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. Und dann stürmten auch schon die Zwillinge rein, und die schrien auch: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh. - Ja, also, Kindererziehung, da kann ich mitreden.

Nicht nur da. Wenn Sie einmal den Vergleich ziehen zwischen der DFU damals und den Grünen heute...
Ich habe nie die Konstruktion einer Partei für richtig gehalten. Deswegen habe ich mich damals ja auch geweigert, allein DFU-Vorsitzende zu werden. Wir waren ein Dreierkollegium. Eigentlich wäre ich eher für eine Bewegung gewesen, nicht für eine Partei. Denn solange etwas in Bewegung ist, solange ist da auch noch Leben drin. Danach verhärtet sich das, entstehen nach ganz bestimmten Gesetzen sich verselbständigende Strukturen. Das war mir ganz klar, ich habe schließlich Geschichte studiert: In dem Moment, wo man sich institutionalisiert, müssen alle Aufbruchsgefühle und Utopien weichen... Die Grünen hatten es aber vor dem Hintergrund, der ihnen vorangegangenen Jahre des politischen Aufbruchs sehr viel leichter. Man konnte die Grünen nicht mehr so isolieren wie einst die DFU. Auch, weil sich in der ganzen Welt etwas verändert hat.

Sie haben viel über die Rolle der Kirche, Sekten und Geheimbünde - wie die Freimaurer - geschrieben. Wie beurteilen Sie heute die Rolle des Vatikans in der Ostpolitik, gerade auch im Zusammenhang mit Polen und der UdSSR?
Mit dem Wojtyla-Papst hat das mächtige Kardinalskollegium sich ein wahres Bollwerk gegen den Osten, gegen den Kommunismus und gegen Rußland ausgesucht. Mit Wojtyla ist nun wirklich einer der altmodischsten katholischen Bischöfe zum Papst gemacht worden. Der ist total veraltet, auch innerhalb der Katholischen Kirche.

Aber doch kein Zufall. Ein Kommunisten-Fresser und Frauen-Fresser...
Na klar! Diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht im Vatikan sitzen, wollen ja auch genau so einen Mann auf diesem Platz.

Christentum und Islam sind - trotz oder sogar wegen ihrer reaktionären Führer - beide wieder im Kommen und beide auf Rückschritt eingestellt. Die Schar der Gläubigen wächst dennoch. Stoßen die Religionen da in ein Vakuum? Hatten Kommunismus und Sozialismus ein zu eindimensionales materialistisches Denken, haben sie die metaphysischen Bedürfnisse der Menschen vernachlässigt?
Nach der Aufklärung kommt die Romantik... Die psychologische Macht von religiösen Führern wie Papst oder Khomeini ist zweifellos unterschätzt worden. Dennoch glaube ich, dass einige Errungenschaften der Aufklärung nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Wenn ich mir die Entwicklung im Islam so anschaue, auch und gerade, was die Frauen betrifft, bin ich nicht so optimistisch. Es ist ja kein Zufall, dass gerade jetzt so frauenfeindliche Religionen wieder einen Aufschwung bekommen.
Bestimmt nicht. Es ist ja auch unerhört, dass die Frauen sogar hier verschleiert rumlaufen und selbst hierzulande Moscheen und Koranschulen gebaut werden können.

1970 war noch eine Zeit der Aufklärung. Trotzdem ging Ulrike Meinhof damals in den Untergrund, vertauschte die Schreibmaschine mit dem Maschinengewehr. 1971 haben Sie, Renate Riemeck, in einem offenen Brief an Ulrike appelliert: „Mit propagandistischem Symbolismus ist dem amerikanischen Imperialismus nicht beizukommen (er ist kein Papiertiger). Genauso, wie man den Verhältnissen in der BRD nicht mit einem bloßen Symbol einer selbsternannten 'Roten Armee' beikommen kann (...). Ich weiß nicht, wie weit dein Einfluss innerhalb der Gruppe reicht, wie weit deine Freunde rationalen Überlegungen zugänglich sind. Aber du solltest versuchen, die Chancen von bundesrepublikanischen Stadtguerillas einmal an der sozialen Realität dieses Landes zu messen." - Ulrike antwortete nie.
Ulrikes Sprung aus dem Fenster, der am Anfang ihres Weges in den Untergrund stand, war ganz sicher eine Kurzschlußhandlung. Dann konnte sie nicht mehr zurück. Zuletzt war sie, glaube ich, nur noch die Gefangene der Gruppe. In den Jahren zuvor war sie ja von den politischen Themen mehr und mehr auf soziale Themen gekommen. Heimkinder, das war ihr Problem, Bambule. Ich glaube, das hatte auch viel mit ihrer ganz persönlichen Situation zu tun: Schließlich hatte sie ja kleine Kinder, von denen sie nicht wusste, wohin mit ihnen. Zuletzt wirkte sie sehr müde, sehr resigniert auf mich. ,,Es hat alles keinen Zweck mehr", sagte sie 1969. - Auffallend fand ich auch, wie unsicher und wankelmütig sie in ihren Auffassungen geworden war. So hatte sie zum Beispiel den Kaufhausbrand in Frankfurt, in den Baader und Ensslin verwickelt waren, in einem ersten Text sehr scharf verurteilt. Ich sagte entsetzt zu ihr: Das darfst du so nicht schreiben! Vermutlich hat auch der Klaus (Röhl) ganz ähnlich argumentiert. In dem Artikel, den sie dann kurz darauf veröffentlichte, schrieb sie jedenfalls genau das Gegenteil. - Ich dachte, mein Gott, was soll aus Ulrike werden? Sie kam mir damals so schwach und manipulierbar vor. Als sie sich dann von Röhl trennte, wusste sie noch nicht einmal, wie sie die Kinder ernähren sollte.

Was ist eigentlich aus den Zwillingen geworden?
Denen geht es gut! Die eine wird Ärztin, die andere Journalistin. Sie haben dasselbe Lachen wie Ulrike - genauso hell und mitreißend.

Wie erklären Sie sich eigentlich, dass Ulrike in all den Jahren im Untergrund und im Gefängnis nie versucht hat, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen?
Ich glaube, sie hätte nicht gewusst, wie sie das alles vor mir rechtfertigen soll. Und sie hat wohl auch Angst vor meinen Argumenten gehabt.

Hat man in dieser Zeit versucht, auch auf Sie Druck auszuüben?
Klar. Autokontrollen, eine Razzia mitten in der Nacht. Und ein sehr merkwürdiger Besuch. Eines Tages fuhr hier bei mir vor dem Haus ein schicker Mercedes vor und ein großer, eleganter Herr mit Blumenstrauß stieg aus. Er stellt sich vor als „Herr Klaus". Klaus mit Nachnamen, aus Godesberg, vom Bundeskriminalamt. Wir hatten hier ein ungefähr anderthalbstündiges Gespräch. Er behauptete, er komme „aus Sorge um Ulrike" (ausgerechnet!). Und er fragte mich, ob ich „nicht etwas tun will für Ulrike", ihr zum Beispiel raten, „ins Ausland zu gehen, vielleicht nach Kuba".

Wann war das genau?
Im Spätherbst 1971.

Aber das war ja dann Monate vor der Verhaftung von Ulrike!
Genau. Sie wurde ja erst am 15. Juni 1972 verhaftet.

Und wie stellte sich das Bundeskriminalamt ein solches Treffen zwischen Ihnen und der damals als „Top-Terroristin" im ganzen Land Gejagten vor?
Das fragte ich Herrn Klaus auch. Ich sagte ihm, dass ich ja noch nicht einmal wisse, wo Ulrike sei, sie also gar nicht treffen könnte. Das ließe „sich arrangieren", antwortete mir Herr Klaus. „Auch der Flug nach Kuba ließe sich arrangieren."

Heißt das, dass auf dem Höhepunkt der RAF-Fahndungs-Hysterie das Bundeskriminalamt in Wahrheit wusste, wo die RAF zu finden war?
Genau das heißt es. Das war in der Zeit, in der schon Brandt/Scheel an der Regierung waren und das Berlin-Abkommen kurz vor dem Abschluss stand, das muss man zum politischen Hintergrundverständnis wissen. „Wir wissen", sagte Herr Klaus, „dass das ganze zusammenbricht, wenn Ulrike aus der Gruppe rausgebrochen wird." -Ich stieg also zum Schein darauf ein und fragte: „Und wo soll ich Ulrike treffen?" - Da antwortete mir Herr Klaus: „Vielleicht in der DDR." -  Das lehnte ich ab.

Soll das heißen, dass Ulrike zu der Zeit in der DDR war?
Nein, sie war hier. Aber sie kannten ihre Unterkunft! Und zwar zu einer Zeit, zu der es die meisten Toten der RAF noch nicht gab.

Das heißt, all diese Toten hätten verhindert werden können!
So ist es.

Sind Sie eigentlich im Wissen um solche Hintergründe und Mechanismen aus der aktiven Politik ausgestiegen?
Nein. Das hatte wirklich nur gesundheitliche Gründe. Ja, und noch etwas kam hinzu: Ich hatte keine Lust mehr, andauernd die parteiinternen Querelen zu glätten und fühlte mich auch als Aushängeschild von den progressiven Männern missbraucht.

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