Lady Gaga: Der kalkulierte Freak
Auf dem Titelbild der Juli-Ausgabe des Rolling Stone trägt Lady Gaga, womit sie sich in letzter Zeit vorzugsweise in der Öffentlichkeit zeigt: nichts als eine blonde Perücke, BH und Slip. Wobei Slip eine heftige Übertreibung für das schwarze Riemchen ist, das ihren hübschen Hintern alles andere als bedeckt. Aus ihren Brüsten ragen zwei Maschinenpistolen. Sie lächelt nicht und sieht weder verführerisch noch besonders hübsch aus. Wer beim Anblick ihres Körpers auf sexuelle Gedanken kommt, vergisst sie spätestens, wenn er das abweisende Gesicht ansieht. Es zeigt keine herrische Domina-Strenge, sondern pures Desinteresse. Das irritiert.
Solche optischen Irritationen sind einer der Hauptgründe für ihren phänomenalen Erfolg. Nichts passt zusammen, und das ist neu. An der Sängerin Lady Gaga fällt als Erstes ihre Riesenstimme auf. „Sie ist einer dieser seltenen Vögel“, sagt die Schauspielerin und Performerin Whoopi Goldberg über sie, „die auch allein ohne jeden Fehler weitersingen können, wenn hinter ihnen die Band explodiert. Ich bewundere diese Frau."
Lady Gaga schreibt die meisten ihrer Erfolgssongs selber. Sie sind so leicht konsumierbar wie Zuckerwatte, aber die Zuckerwatte scheint direkt aus dem Gefrierfach zu kommen. Ihre Songs sind Ohrwürmer, aber kälter als die ihrer Konkurrentinnen. Doch wenn sie unvermutet bei Konzerten eine romantische Ballade schmettert, stellt sich die Frage, ob die Lady etwa ein verkleideter Hippie ist. Wenn die Sängerin sich selbst am Klavier begleitet, sieht und hört man, dass sie auch eine hervorragende Pianistin ist. Aber instrumentelle Virtuosität ist bei Sängerinnen nicht erfolgsentscheidend. Entscheidend ist, dass ihre Songs eingängig sind und ihre Auftritte auf der Bühne und in Videos zeigen, dass die Sängerin mit Sex nicht geizt.
Lady Gaga ist die Heißeste von allen oder die Wunderlichste, je nach Ansicht.
Aber sie ist so unverwechselbar, dass sie einem nicht aus dem Kopf geht. Für den attraktiven Auftritt tun auch andere stimmgewaltige Sängerinnen wie Beyoncé, Rihanna oder Christina Aguilera eine Menge. Wenn es um knappe Bekleidung geht, ist keine von ihnen zurückhaltend. Und im Glitzerbikini haben auch schon Madonna und Britney Spears gesungen. Der Grund war immer derselbe: Über Sex ist Popmusik am leichtesten verkäuflich.
Auch Lady Gaga strahlt eine beachtliche erotische Energie aus und stöckelt bei Konzerten mit ihrem zarten Körper ausgiebig halbnackt über die Bühne. Aber im Unterschied zu allen anderen will sie nicht begehrenswert sein. Ihre Hüftschwünge törnen nicht an, sondern sind die fast klinische Nachahmung eines Bühnenrituals, das sie so mimt, als versuche sie, damit seine Bedeutung herauszufinden. Sie wirkt wie ein Alien, der unversehens im Popgeschäft gelandet ist und die Gesetze des Berühmtseins erforscht.
Das liegt nicht nur daran, dass sie sich gelegentlich eine Colabüchse oder ein Telefon ins Haar steckt, blutverschmiert auftritt, ein Netz vor dem Gesicht trägt oder sich die Augen mit farbigem Glitzer bis fast zu den Mundwinkeln zuschminkt. Und mitunter so steife Outfits trägt, dass sie sich damit kaum hinsetzen kann. Aber das ist höchstens auf eine Art sexy, die die Welt bisher an Frauen so nicht wahrnahm. Genau das ist Lady Gagas Absicht: „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich aussehe wie die anderen perfekten kleinen Popsängerinnen. Ich denke, ich verändere die Vorstellung davon, was Leute für sexy halten.“
Allein innerhalb eines Monats werden die Videos der Sängerin, deren Name bis vor zwei Jahren praktisch unbekannt war, auf YouTube über eine Milliarde Mal angeklickt. Lady Gaga hat inzwischen über 11 Millionen Alben und 40 Millionen Singles verkauft. Im Mai setzte Time Magazine die 24-Jährige als eine der „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“ aufs Cover. Mit anderen Worten: Ihre bizarre Umdeutung von Sex und Attraktivität im Popgeschäft stößt bei jungen Frauen und Männern weltweit auf Begeisterung oder zumindest auf Neugier.
Dazu braucht es auch eine simple Botschaft, mit der sich Millionen von Teenagern über die tanzbare Musik hinaus identifizieren können. Die Rolling Stones sangen „I Can’t Get No Satisfaction“ – gibt es einen Teenager auf der
Welt, männlich oder weiblich, der sich nicht irgendwann vor seinem Erwachsenwerden, oft auch danach, damit identifizieren kann?
Madonna war das vor Ehrgeiz brennende „Material Girl“, schon Jahre bevor der gleichnamige Song kam – eine Frau, die sich Freiheiten und Rücksichtslosigkeiten herausnahm, die Frauen damals noch nicht zugestanden wurden. Lady Gagas Lieblingsworte sind monsters, freaks und fame. Sie nennt ihre Fans „my little monsters“. Zehn Millionen Menschen haben sich auf Facebook als ihre Freunde eingetragen. Fame ist klar, jeder will heute berühmt werden. Freaks und monsters sind die Jugendlichen, die sich als Außenseiter fühlen. Wer ist jung und kein Außenseiter? Fast jeder kannte oder kennt als Teenager das Gefühl, nicht dazuzugehören, ob ihn die anderen so wahrnehmen oder nicht.
Daran appelliert die Sängerin in den bombastischen Outfits, und sie weiß, wovon sie singt. „Ich war nicht wie die anderen, wollte aber dazugehören“, sagt sie über ihre Schulzeit in der feinen New Yorker Privatschule „Convent of the Sacred Heart“, wo Paris und Nicky Hilton ihre Mitschülerinnen waren. „Aber dann auch lieber nicht, weil ich vielleicht eben doch lieber wie Boy George gewesen wäre.“ Und: „Meine Kleider, meine Songs, meine Schminke haben nur den einen Zweck, für meine Fans einen Ort zu schaffen, wo sie sich frei fühlen. In mir haben sie einen Freak, mit dem sie zusammen sein können.“
Lady Gaga sagt, sie habe junge Männer geliebt, die aussahen wie Mädchen, aber sie sah selber auch gern wie ein Junge aus. Und die Androgynität der Dragqueens habe sie immer fasziniert. Über ihre Bisexualität ist viel spekuliert worden, nachdem sie erklärt hatte, ihre jeweiligen Freunde hätten Mühe damit, dass sie sich von Frauen angezogen fühle. In einem Interview mit ABC-Starmoderatorin Barbara Walters sagte sie, sie sei noch nie in eine Frau verliebt gewesen, aber es gebe da durchaus sexuelle Beziehungen zu – nicht mit – Frauen. Der wirren Aussagen klare Botschaft: „Wer immer ich bin, wer immer ihr seid, lasst uns feiern, dass wir sein können, was wir wollen. Egal, wie uns die andern sehen.“
Als im Internet das Gerücht zu kursieren begann, Lady Gaga sei in Wahrheit ein Zwitter, bestätigte sie das begeistert. Mehrere Videos zeigen sie in so knapper Reizwäsche, dass darin auch der winzigste Penis nicht unbemerkt bleiben könnte.
Aber sie wollte keine Vorstellung von sich aus ihrer Freakshow ausschließen. „Madonna hätte nie behauptet, sie habe einen Penis. Sie hat schon seit Jahrzehnten keinen Humor mehr“, schrieb das New York Magazine. „Gaga ist lustig und verspielt. Sie will ein Mutant sein, eine Comic-Figur.“ Und jemand, in den jeder hineininterpretieren kann, was er will. Nicht zufällig gibt sie immer seltener Interviews.
Lady Gaga, geborene Stefani Germanotta, Tochter italienischer Einwanderer, die es zu mittlerem Wohlstand gebracht haben, der ausreichte, in New Yorks Upper West Side zu wohnen und Stefani und deren Schwester Natali in Privatschulen zu schicken, wirkte auf ihre Mitschülerinnen nicht wie eine Außenseiterin. Sie war beliebt, sang, nahm Klavierunterricht, spielte mit Begeisterung Schülertheater, schrieb bereits eigene Songtexte und kleidete sich eher unauffällig. Der damals noch brünette Teenager mit der kräftigen Nase kellnerte neben der Schule und kaufte mit dem ersten eigenen Geld eine Gucci-Tasche, „weil alle Mädchen in meiner Schule diese schicken Taschen hatten. Aber meine Eltern waren nicht bereit, mir eine Tasche für 600 Dollar zu kaufen.“ Bei der Party zu ihrem 16. Geburtstag verteilten ihre stolzen Eltern Demo-Bänder mit den Songs ihrer Tochter. „Jeder spielte die Bänder und dachte, sie wird ein Star“, erinnert sich einer der Geburtstagsgäste. „Sie war mit Abstand die Talentierteste an der Schule, aber auch eine der Freundlichsten. Sie hatte nichts von einer Diva.“
Nach Abschluss der Highschool gewann Stefani Germanotta eines der raren Stipendien für die renommierte Kunsthochschule Tisch der New York University. Sie begann, Musik zu studieren, fühlte sich aber unterfordert: „Wenn man einmal gelernt hat, wie man über Kunst nachdenken muss, kann man auch allein weiterlernen.“ Nach einem Jahr an der Universität wollte sie sich als Musikerin selbstständig machen. Ihr Vater willigte ein, ihr ein Jahr lang die Miete zu bezahlen. Sollte sie bis dann nicht erfolgreich sein, so seine Bedingung, müsse sie weiterstudieren. „Ich verließ meine Familie, nahm die billigste Wohnung, die ich finden konnte und aß Scheiße, bis mir jemand zuhören wollte“, sagt Lady Gaga rückblickend.
Sie war damals 18 und gründete mit Freunden von der Universität die Stefani-Germanotta-Band, mit der sie vor bescheidenem Publikum ihre vorwiegend balladenartigen Lieder sang. „Wir traten auf, spielten, dann betranken wir uns“, sagte ihr damaliger Manager. „Sie sagte, ihr Ziel sei, mit 21 einen Plattenvertrag in der Tasche zu haben.“ Aber wie dahin kommen?
Stefani hatte zwar die wesentlich bessere Stimme als Madonna. Aber anders als Madonna, die jeden ihrer Karriereschritte kühl kalkulierte, hatte die junge Frau von der Upper West Side keine konkrete Idee, wie sie zu dem ersehnten Ruhm kommen sollte. Eine Woche vor Ablauf der vom Vater gesetzten Frist hatte sie einen Auftritt mit der Sängerin Wendy Starland, die mit Rob Fusari zusammenarbeitete, der Hits für Destiny’s Child und Will Smith produziert hatte. Starland wusste, dass Fusari eine Leadsängerin für eine Band suchte, die nicht unbedingt schön, aber charismatisch sein sollte. „Stefanis Selbstbewusstsein füllte den Raum“, sagt Starland rückblickend, „ihre Präsenz war enorm. Und furchtlos. Ihre Stimme konnte weich sein oder brüllen.“ Sie rief Fusari an und sagte, sie habe die Sängerin gefunden.
Als Stefani Germanotta dem Produzenten am Klavier vorspielte, war Fusari sofort klar, dass sie keine Leadsängerin war, sondern eine Solistin: „Ich dachte: Das ist ein weiblicher John Lennon. Sie war ein außerordentlich seltsames Talent.“ Die beiden begannen gemeinsam, an Rocksongs und Balladen zu arbeiten. Beides gefiel Experten nicht. Sie begannen auch eine Affäre. Darüber, wer in Anklang an den Queen-Song „Radio Gaga“ ihren Künstlernamen Lady Gaga erfand, streiten sie sich inzwischen. Jeder behauptet, es sei seine Idee gewesen.
Als Fusari in einem Artikel las, dass Erfolgsproduzent Timbaland der portugiesisch-kanadischen Sängerin Nelly Furtado zu einem Comeback verholfen hatte, indem er sie aus der Folklore-Ecke geholt und ihr ein laszives Image als Dancing Queen verpasst hatte, entschieden sie, dass Klubmusik einen Versuch wert sei. Aber dafür, sagte Fusari, müsse sie wie ein Star aussehen. Und zwar täglich. Lady Gaga hatte bisher mit Vorliebe Leggings und Sweatshirts getragen. Mode interessierte sie nicht sonderlich. Jetzt kürzte sie ihre Röcke, weil sie dachte, Fusari wolle sie sexyer haben, bis nichts mehr davon übrigblieb. Dafür trug sie Strumpfhosen unter der Spitzenunterwäsche.
Als das Plattenlabel Island Def Jam 2007 einen bereits unterzeichneten Vertrag mit ihr platzen ließ, weil man ihre Songvorschläge nicht gut genug fand, verzichtete Lady Gaga auf den ihr zustehenden Vorschuss und behielt stattdessen ihre Rechte an den Songs. Es sollte sich als goldener Deal erweisen. Zwei Jahre später sind zwei der Tracks Welthits.
Inzwischen hatte Lady Gaga sich von Fusari getrennt und sich in den Drummer Luc Carl verliebt. Über ihn lernte sie Lady Starlight kennen, eine DJane und Performerin, mit der sie sich sofort anfreundete. Gemeinsam kreierten sie das Burlesque-Programm „Lady Gaga and the Starlight Revue“ und tingelten damit durch kleine New Yorker Klubs und Go-go-Bars. Es sei, sagt Gaga, eine Zeit gewesen, in der sie regelmäßig Kokain schnupfte und drastisch an Gewicht verlor. Fusari, damals noch ein gelegentlicher Freund, verschaffte ihr einen Kontakt zum Talent-Scout Vincent Herbert, der sie Jimmy Iovine vorstellte, dem Chef des Plattenlabels Interscope.
Lady Gaga wurde zwar engagiert, aber nur als Songwriterin für die gerade kahlgeschorene Britney Spears und die Pussycat Dolls. An ihren eigenen Songs arbeitete sie mit dem marokkanischen Produzenten RedOne weiter. Herbert, von Gagas Talent überzeugt, schickte sie auf eigene Kosten zu Festivals. Seit ein Zuschauer aus dem Publikum „Amy Winehouse!“ gebrüllt hatte, machte er sich Sorgen um ihren Look und bat sie, die Haare blond zu färben: „Sie tat es sofort. Gott sei Dank hört das Mädchen zu.“
Immer noch auf der Suche nach einem Image, das sie von allen andern abheben würde, stieß Lady Gaga auf die Bücher von Andy Warhol, der behauptet hatte, Startum sei eine eigene Kunstform. Wie scheu und freundlich der Mensch hinter der Form auch sein mochte, als Star konnte er dennoch riesig werden. Warhol, sagt Lady Gaga heute, habe sie gelehrt, aus sich ein Spektakel zu machen.
Inzwischen konsequent als exzentrischer Popstar gekleidet, nahm sie Tanzunterricht und drehte ihr erstes Video, „Just Dance“. Ihr Debütalbum „The Fame“ kam im August 2008 auf den Markt und eroberte schnell weltweit Spitzenplätze in den Charts, außer in den USA, wo Lady Gaga erst 2009 nach sechs Grammy-Nominierungen flächendeckend zur Kenntnis genommen wurde. Für die im Sommer gelaufenen US-Konzerte ihrer „Monster Ball Tour“ war Monate vorher kein einziges Ticket mehr erhältlich.
Popkritiker waren und sind sich überwiegend einig, dass ihre Musik klug gemachter Pop-Mainstream ist, der keine musikalischen Grenzen verschiebt. Lady Gaga ist nicht Madonna. Doch, schrieb der englische Guardian, „sie schafft den schwierigen Trick, genau im Zentrum jener Welt zu stehen, über die sie sich lustig macht. Warhol hätte sie geliebt. Lasst uns den Sound ihrer Videos runterdrehen, dann lieben wir sie alle.“
Lady Gagas Fans ist die musikalische Grenzverschiebung deutlich unwichtiger als das, was Lady Gaga mit ihrer Kostümkiste optisch verschiebt: Für keinen anderen Star zieht sich das weibliche und oft auch das männliche Publikum fantasievoller, schöner, gewagter und schräger an als für Lady Gaga. Eine Neudefinition von „sexy“ ist in Gang gesetzt.
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