Kathrines langer Lauf in die Gleichheit

Historischer Moment: Kathrine Switzer läuft trotz Widerstand beim Boston Marathon.
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Plötzlich hört die Frau mit der Startnummer 261 das Trappen von Lederschuhen hinter sich. Zwischen dem gleichmäßigen, dumpfen Aufklatschen der Gummisohlen hunderter Laufschuhe ist das ein irritierendes Geräusch, denn diese Schuhe gehören nicht hierher. Instinktiv wendet sie den Kopf. Und blickt „in das bösartigste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Ein dicker Mann, ein Hüne mit gebleckten Zähnen wollte sich auf mich stürzen, und ehe ich reagieren konnte, packte er meine Schulter, riss mich ­zurück und schrie: ‚Raus aus meinem Rennen! Zur Hölle mit dir!‘“ Der tobende Mann versucht, Kathrine Switzer die Startnummern vom Sweatshirt zu reißen. Aber plötzlich fliegt ihr Angreifer durch die Luft. „Er landete am Straßenrand wie ein Haufen zerknitterter Klamotten.“ Dorthin befördert hat ihn Kathrines Freund Tom, der ebenfalls mitläuft.

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Die Fotos von diesem Vorfall gehen nur wenig später um die ganze Welt. Denn den Journalisten, die das Ganze ­beobachtet haben, ist klar: Hier hat sich gerade ein handfester Skandal zugetragen, ja, mehr als das: ein historisches Ereignis.

Im Jahr 1967 dürfen Frauen im Wettkampf maximal 800 Meter laufen

Was war passiert? Aus heutiger Sicht nichts Besonderes. Die 21-jährige Kathrine Switzer war zum Bostoner Marathon angetreten. Tausende Frauen tun das heutzutage. Aber wir schreiben das Jahr 1967. Frauen dürfen bei Wettkämpfen maximal 800 Meter laufen, und selbst das erst nach hartem Kampf. Und nun will diese junge Journalistik-Studentin aus Syracuse 42 Kilometer schaffen, und das beim berühmtesten Marathonlauf der Welt. Jock Semple, der Organisator des Laufs, ist außer sich. Als er die Frau sieht, rast er auf die Bahn, um sie aus dem Rennen zu drängen. Aber Tom Miller, der nicht nur Kathrines Freund, sondern auch Hammerwerfer mit einschüchternden Körpermaßen ist, sorgt mit seinem Körpereinsatz dafür, dass seine Freundin weiterlaufen kann. „Einen winzigen Augenblick überlegte ich, ob ich aussteigen sollte“ schreibt Kathrine Switzer 45 Jahre später. „Aber wenn ich jetzt aufhörte, würde nie ­jemand glauben, dass eine Frau fähig ist, einen Marathon zu laufen.“ Vier Stunden und zwanzig Minuten später lieferte Kathrine Switzer der Welt den Beweis.

In ihrer Autobiografie „Marathon Woman“ erzählt die heute 70-Jährige die abenteuerliche Geschichte ihres hochsymbolischen Sieges. Und sie berichtet von ihrem Kampf für die (olympische) Anerkennung des Frauenlaufsports – für den sie mindestens so viel Ausdauer brauchte wie für ihre Marathonläufe.

Am Anfang ihrer rasenden Karriere steht eine Schlüsselszene. Die Familie Switzer sitzt beim Abendessen. Die zwölfjährige Kathrine verkündet ihren Eltern und ihrem älteren Bruder, dass sie sich als Cheerleaderin im Team ihrer High School bewerben will. Da schaut der Vater der Tochter in die Augen und sagt: „Weißt du, Liebes, du solltest nicht am Rand stehen und anderen zujubeln. Die Leute sollten dir zujubeln. Das Leben ist zum Mitmachen da, nicht zum Zuschauen.“

Kathrine ist eine begeisterte Sportlerin. Sie klettert auf Bäume und springt vom Hausdach, um den Nachbarjungen zu beweisen, dass auch sie ein Fallschirmspringer sein könnte. Das weiß der Vater. Er rät seiner Tochter, statt zum Cheerleading lieber in das Hockeyteam der Schule zu gehen. Um sich dafür in Form zu bringen, sagt er, solle sie einfach jeden Tag eine Meile laufen. Eine Meile, so rechnet er aus, das sind sieben Runden im Hof. Kathrine setzt sich in Bewegung.

Kathrine wächst in der Gewissheit auf: Mädchen sind nicht nur Dekoration

Die Disziplin und die langen Beine hat sie vom Vater, einem 1,90 Meter-Riesen und Offizier der US-Armee. Die Gewissheit, dass Mädchen nicht zu Dekorationszwecken geschaffen sind, gibt ihr die Mutter, die als Lehrerin und Leiterin der Studienberatung einer großen Highschool Besseres zu tun hat, als ihrem Mann abends die Pantoffeln zu bringen. „Meine Mutter konnte alles, und mein Vater achtete sie. Ihr Gehalt war eine wichtige Einnahmequelle.“

Ende der 1950er Jahre ist eine laufende Frau eine Ungeheuerlichkeit. Bei den ersten olympischen Spielen im Jahr 1896 hatte man weiblichen Athleten die Teilnahme ohnehin komplett verboten. Nach massiven Protesten der sich auf dem Höhepunkt ­befindenden Ersten Frauenbewegung wurden Frauen 1900 für die Disziplinen Golf, Tennis und Krocket zugelassen. Erst 1928 kam die Leichtathletik dazu und damit auch der 800-Meter-Lauf.

Doch als die Läuferinnen keuchend in den Innenkreis des Amsterdamer Stadions taumelten, gaben sich die Medien entsetzt über diese weibliche „Zurschaustellung von Erschöpfung“. Der britische Sportjournalist und mehrfache Olympiasieger Harold Abrahams nannte die Läuferinnen „eine Schande für die Weiblichkeit“ und eine „Gefahr für alle Frauen“. Er forderte, die Langstrecken-Wettkämpfe für Frauen wieder zu verbieten. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) stimmte ihm zu. Erst 32 Jahre später, bei der Olympiade 1960 in Rom durften 800-Meter-Läuferinnen wieder antreten.

Als Kathrine ihre tägliche Meile im ­elterlichen Hof läuft, ist ihr Role Model die römische Göttin Diana, denn reale Vorbilder gibt es zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie Laufschuhe für Mädchen und Frauen. Ihre Freundinnen finden die rennende Kathy einfach nur peinlich und raten ihr dringend, mit der albernen Lauferei aufzuhören, sie bekäme davon „dicke Beine und einen Schnurrbart“. Kathrine aber bekommt: Selbstbewusstsein. Sie spürt, wie gut sie sich nach ihren Läufen in ihrem Körper fühlt. Aus dem Stand wird sie mit ihrer Kondition eine der besten Spielerinnen im Hockeyteam. „Das Laufen ist eine einschneidende Erfahrung für ­Frauen. Es bewirkt Erfolgsgefühle, fördert Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen“, wird sie später in einem ihrer Laufbücher schreiben. Die 13-Jährige steigert das Pensum auf drei Meilen.

Ihr Vorbild für das tägliche Lauftraining ist die römische Göttin Diana

Als sie an die Uni von Syracuse geht, wird sie beim Leichtathletik-Trainer vorstellig. Der erklärt ihr, dass sie als Frau nicht an Wettkämpfen teilnehmen darf, aber er erlaubt ihr immerhin, mit den Männern zu trainieren. Kathrines Laufkumpel wird Arnie Briggs. Jeden Abend läuft die junge Studentin nun sechs Meilen, also knapp zehn Kilometer, mit dem 50-jährigen Briefträger und Marathon-­Veteran. Eines Abends, als Arnie mit seiner Schwärmerei über den Boston Marathon, bei dem er einmal Zehnter geworden war, wieder einmal kein Ende findet, brüllt die genervte Kathrine: „Arnie, wir wollen jetzt nicht mehr von diesem Marathon reden. Lass uns das verdammte Ding laufen!“ Arnie aber erklärt kategorisch: „Frauen schaffen diese Entfernung nicht, sie können nicht so weit laufen!“ Das Ergebnis des handfesten Streites, der nun folgt, endet mit einem schicksalsschweren Satz: „Wenn du mir im Training zeigst, dass du die Distanz schaffst, wäre ich der erste, der mit dir zum Boston Marathon fährt.“ Es ist Dezember 1966. Ende März 1967 läuft Kathrine Switzer im Training zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in ihrem Leben 26 Meilen, also 42 Kilometer. Am 19. April 1967 steht sie, zusammen mit Arnie Briggs und Tom Miller an der Startlinie in Boston.

Eigentlich hatte sich Kathrine gar nicht offiziell anmelden wollen. Aber sie stellt fest: Es gibt keine Regel, die Frauen die Teilnahme am Marathon verbietet. Die Amateur Athletic Union (AAU) hält die Teilnahme einer Frau an einem Marathonlauf offenbar für derartig abwegig, dass sie weibliche Läufer in ihrem Regelwerk gar nicht erst erwähnt. Kathrine Virginia Switzer meldet sich also doch an – sicherheitshalber mit ihren Initialen: K.V. Switzer. Sie bekommt die Startnummer 261. Was nun folgt, ist Geschichte.

Aber diese Geschichte ist mit den internationalen Schlagzeilen über die Sensation, die Switzers Ausschluss aus der AAU zur Folge hat, noch lange nicht zu Ende. Im Gegenteil: Sie ist der Startschuss für eine regelrechte Frauenmarathon-Bewegung – die natürlich eng mit der erstarkenden Frauenbewegung, der Women’s Lib, zusammenarbeitet. Immer mehr Frauen laufen, was das Zeug hält. Sie verbessern stetig ihre Zeiten, geben Interviews und setzen die Sportverbände unter Druck.

Etappensieg! 1972 sind auch "die Damen" beim Boston Marathon willkommen

Am 16. April 1972 feiern die Läuferinnen einen Etappensieg: Fünf Jahre nach Kathrine Switzers Lauf im April 1967 verkündet Jock Semple vor dem Start des Boston Marathons, wenn auch grollend: „Und deshalb, äh… seid ihr Damen in Boston willkommen. Aber ihr müsst euch mit derselben Zeit wie die Männer qualifizieren.“ Diese Zeit liegt bei 3:30 Stunden. Alle vier Läuferinnen kommen schneller ans Ziel. Und sie wissen, dass dies nicht nur ein sportlicher Sieg ist. „Wir wussten, dass wir eine politische und gesellschaftliche Barriere eingerissen hatten, so wie unsere Ahninnen, die Suffragetten, als sie das Wahlrecht erkämpft hatten oder die Universitäten zwangen, auch Frauen studieren zu lassen.“ Die erfolgreiche Teilnahme der Frauen „warf jahrtausendealte Vorurteile über weibliche Schwäche über Bord“.

Jetzt will Kathrine Switzer den Marathon zur olympischen Disziplin machen. Sie wird weitere zwölf Jahre dafür brauchen. Jahre, in denen sie unermüdlich Frauenläufe organisiert, Interviews gibt und Sportfunktionäre bearbeitet. Die Aufmerksamkeit der Medien ist den Marathon-Läuferinnen sicher, und so überzeugt Switzer schließlich 1977 den Kosmetikkonzern Avon internationale Frauenläufe zu sponsern. Überall auf der Welt beginnen die Frauen öffentlich zu laufen, von Singapur bis Rio de Janeiro. Jedes Mal nehmen Hunderte, manchmal Tausende teil. Beim großen Asienlauf in Tokio ist die älteste Läuferin 70 Jahre alt, sie ist 1908 geboren, zu einer Zeit, als in China kleinen Mädchen noch die Füße eingebunden und verkrüppelt wurden. Beim ­Internationalen Frauenlauf in London gehen 1980 Frauen aus 27 Ländern von fünf Kontinenten an den Start. Und Organisatorin Switzer ahnt: „Jetzt können sie uns nicht mehr ablehnen!“

Sie, das sind die Mitglieder des Inter­nationalen Olympischen Komitees. Bevor das IOC eine Sportart zu den olympischen Spielen zulässt, will es den Beweis, dass weltweit genügend Menschen diesen Sport auf Spitzenniveau betreiben. Lobbyistin Switzer hat Recht: Das IOC kann nicht mehr anders. Es beschließt: 88 Jahre nach Beginn der olympischen Spiele wird der Marathon für Frauen olympisch.

1984 kann das IOC nicht mehr anders - und lässt auch Läuferinnen zu

Am 5. August 1984 gehen bei der Olympiade in Los Angeles 50 Läuferinnen aus 28 Ländern an den Start. Nach genau zwei Stunden, 24 Minuten und 54 Sekunden läuft die Amerikanerin Joan Benoit als erste über die Ziellinie. 90.000 Menschen im Stadion und zwei Milliarden an den Bildschirmen sehen zu, wie das geschieht, was keine 20 Jahre zuvor niemand für möglich gehalten hätte. „Sie nimmt den Hut ab und winkt damit kurz der Menge zu, eine bescheidene Geste, die von einem explosionsartig anschwellenden Jubel im Stadion aufgenommen wird. Und von unseren Herzen.“ Im anschließenden Interview dankt die Siegerin „den Pionierinnen, die den Lauf als Teil der Olympischen Spiele durchgesetzt haben“.

Weiterlesen: Kathrine Switzer: Marathon Woman (spomedis, 22.95 €)

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Der Sprung über die letzte Hürde

Fußballerin Brandi Chastain im Siegestaumel - das Bild von 1999 zeigt erstmal einen neuen Typus Frauenkörper.
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Das Foto ging um die Welt. Es zeigt die US-Stürmerin Brandi Chastain, die sich im Freudentaumel nach dem Siegestor der neuen Fußballweltmeisterinnen 1999 ihr Trikot über den Kopf reißt. Dieses Bild, mit dem Newsweek sogar titeln wird, findet zweifellos auch den Zuspruch der Foto-Redaktionen, weil es eine Fußballerin im schwarzen Sport-BH zeigt. Aber nicht nur. Die eigentliche Sensation ist eine andere. Nämlich die, dass auf diesem Foto ein neuer Typus Frauenkörper zu sehen ist. "Das war ein Körper mit Quadrizeps, Bizeps und Latissimus dorsi. Ein Körper, der sich dem Versuch, ihn zum Objekt zu machen, entzog."

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Als Colette Dowling das Endspiel USA-China zusammen mit ihrer Schwiegertochter und ihrem 13-jährigen Enkelsohn anschaut, kommen ihr in ihrem Fernsehsessel die Tränen. Der Feministin Jahrgang 1938 und Mutter zweier Töchter ist klar, dass sie gerade Zeugin einer "kulturellen Revolution" geworden ist. "In meiner Generation wäre ein Körper wie der von Brandi Chastain undenkbar gewesen. Selbst wenn man sich eine solche Muskulatur bei einer Frau hätte vorstellen können, hätte sie als Abnormität gegolten."

Brandi Chastain hatte mit einem einzigen Handgriff kurz und schmerzlos das demontiert, was Dowling in ihrem Buch "Hürdenlauf" den "Mythos von der weiblichen Schwäche" nennt. Diese bis heute unumstößliche Kategorisierung von Männern und Frauen in das "starke" und das "schwache" - dafür aber "schöne" Geschlecht hat, wie Dowling feststellt, frappierende Ähnlichkeit mit einem anderen uns wohl bekannten Märchen aus der Welt des Geschlechterkampfs: dem vom "klugen" und dem "dummen" Geschlecht oder anders gesagt: vom Mann als intellektuellem Kreateur und der Frau als naturverbundener Reproduzentin. Dass Frauen von Natur aus dümmer sind als Männer, glaubt heutzutage bis auf wenige Ausnahmen kein Mensch mehr. Dass sie von Natur aus schwächer sind, gilt - auch unter Frauen - dagegen immer noch als gottgegebene Tatsache. Eine "Tatsache", die die Anhänger eines "natürlichen Unterschieds" zwischen den Geschlechtern in Zeiten grassierender Emanzipation gern als allerletzten Joker aus dem Ärmel ziehen.

So war es kein Wunder, dass die Zeitungen vor Schadenfreude feixten, als die kluge First Lady Hillary Clinton ihren Ballwurf, mit dem sie 1994 in Chicago die Baseball-Saison eröffnen sollte, fulminant vereierte. Im Gegensatz zu ihrem Mann Bill, der seinen Ball, ganz Sportsman, mit voller Wucht durchs Stadion pfefferte. Spaltenlang analysierten die Journalisten die beiden Würfe, und die Botschaft war klar: Hillary mag ihren Mann IQ-mäßig in den Schatten stellen aber Muckis hat sie keine. Weil sie eben doch (nur) eine Frau ist. Na also, da haben wir's.

Frauen haben unter Beweis gestellt, dass sie Männern intellektuell ebenbürtig sind? Sie fahren beruflich auf der Überholspur, sind finanziell unabhängig geworden? Frauen sind Ingenieurinnen, LKW-Fahrerinnen, Ministerinnen? Okay, Baby, aber wenns hart auf hart kommt, Klammer auf und du weißt, dass es das für euch Frauen oft tut, Klammer zu, dann bin ich eben doch der Stärkere.

Der Preis, den Mädchen und Frauen für die angelernte Schwäche, für die ihnen eingebläute Angst vor zu viel "unweiblicher" Muskulatur zahlen, ist hoch. Sport schützt nicht nur vor Krankheiten. Zum Beispiel vor Osteoporose, denn ab dem 14. Lebensjahr fällt die Knochendichte von Mädchen, die keinen Sport treiben, dramatisch ab. Oder vor Viruserkrankungen und Krebs, denn Sport erhöht die körpereigene Produktion von "Killerzellen". Amerikanische Studien bewiesen auch, dass sportlich aktive Mädchen bessere Noten haben und um fast 40 Prozent seltener die Schule abbrechen. Je mehr Sport Mädchen treiben, umso später haben sie ihren ersten Sex und umso seltener werden sie als Teenager schwanger.

Die Gefahr, missbraucht und vergewaltigt zu werden, sinkt ebenfalls, denn: "Während der Adoleszenz verwandeln die meisten Mädchen ihren Körper in einen Opfer-Körper. Das ist eine Fortsetzung des Sichkleinmachens aus der frühen Kindheit. Einen Opfer-Körper haben diejenigen, die die Überzeugung hegen, dass sie unfähig sind zu physischer Kraft." Ohne Kraft und Bewegung leben Frauen, "als ob unser Körper ständig auf Schutz angewiesen ist".

In dem "Hürdenlauf" auf dem Weg zur Gleichberechtigung ist deshalb, nachdem die Frauen im letzten Jahrhundert die Hürden Bildung ganz und die Hürde Geld halb genommen haben, das dritte und letzte von den Frauen zu überspringende Hindernis vor der Zielgeraden zur wirklichen Geschlechtergleichheit die Kraft, die" Körperhürde". Und die Frauen sind auf dem Sprung.

Schon vor über einem halben Jahrhundert analysierte Simone de Beauvoir, die "Tatsache" vom "naturgegebenen Unterschied" zwischen den Männer- und Frauenkörpern als kulturelles Resultat einer Jahrtausende währenden schlechteren Ernährung von Frauen, mangelnder Bewegung und einengender Kleidung. Rund 50 Jahre später folgert Colette Dowling: "Es drängt sich, wie die Blöße des Kaisers, der Verdacht auf, dass vielleicht letzten Endes überhaupt kein nennenswerter Kraftunterschied zwischen Männern und Frauen besteht. Vielleicht handelt es sich, wie schon bei dem einstmals vermuteten Unterschied zwischen weiblichen und männlichen intellektuellen Fähigkeiten, nur um eine Frage ungleicher Chancen und ungleichen Trainings."

Körper verändern sich erstaunlich schnell, wie wir unter anderem durch die Erhebungen des "Deutschen Instituts für Bekleidungsindustrie" wissen, das alle zehn Jahre 1.500 Frauen und Männer vermisst. Und siehe da: Zwischen den letzten beiden Messungen ist die deutsche Durchschnittsfrau erstens um fast drei Zentimeter gewachsen, sie hat zweitens zwei Zentimeter an Brustumfang verloren und drittens ihr Verhältnis zwischen Hüfte und Taille verringert (siehe EMMA 2/2002). Will heißen: Nicht nur der deutsche Frauenkörper hat sich vermännlicht. In extrem kurzer Zeitspanne haben die weiblichen Körper auf bessere Ernährung, mehr Bewegung und weniger Schwangerschaften reagiert.

Es ist nicht neu, dass Frauen diese Zusammenhänge durchschauen. Die englische Feministin Mary Wollestonecraft beklagte schon 1792 die offensive "körperliche Verkrüppelung" von Mädchen. In den britischen Internaten gestattete man ihnen nicht, "frei zu spielen wie die Jungen. Man erlaubt ihnen nicht, sich im prächtigsten Garten auch nur einen Schritt von den breiten Wegen zu entfernen, und lässt sie darauf mit erhobenem Kopf, nach außen gesetzten Fußspitzen und straff nach hinten gezogenen Schultern auf und ab schreiten."

Pubertierende Mädchen von körperlicher Aktivität abzuhalten, das wurde in Reaktion auf die frühen Rebellinnen bei den Ärzten des 19. Jahrhunderts regelrecht schick. Medizinische Ratgeber rieten jungen Frauen dringend von sportlicher Betätigung ab. Kräfte ließen sich in ausreichendem Maße in der Küche, im Waschhaus und im Garten sammeln den "Turnhallen der Natur für heranwachsende Mädchen". Der Mediziner Thomas Emmet empfahl in seinem verbreiteten Ratgeber jungen Mädchen, "das Jahr vor und zwei Jahre nach der Pubertät ruhend zu verbringen". Bei Zuwiderhandlung drohten apokalyptische Konsequenzen: Übertriebene sportliche Betätigung ließe "die Genitalorgane zur Verkümmerung neigen". Selbstverständlich nur die weiblichen. Sportliche junge Frauen riskierten "eine Lageverschiebung der Gebärmutter" und "rauben so künftige Generationen". Dowling: "Es überrascht kaum, dass die Mädchen, nachdem man sie dazu überredet hatte, das Rennen und Springen und Bäumeklettern sein zu lassen, bald tatsächlich Anzeichen von konstitutioneller Schwäche zeigten."

Die Herren Mediziner wussten, warum sie die jungen Frauen zur Bewegungslosigkeit verdammten es stand nichts weniger auf dem Spiel als die männliche Vorherrschaft. "Zu viel Aktivität mit männlichem Charakter bewirkt, dass der weibliche Körper dem eines Mannes ähnlicher wird", sorgte sich der Gesundheitspädagoge S.K. Westman. Genau darauf wollten Frauen wie Wollstonecraft hinaus: "Erst wenn Frauen dieselben Chancen zur Körperertüchtigung erhalten wie Männer, wird sich herausstellen, wie weit die 'natürliche Überlegenheit' des Mannes reicht."

So grotesk die Ausführungen der Mediziner vergangener Jahrhunderte klingen mögen die Gleichung "Schwäche = weiblich" ist bis heute unwidersprochen. Nicht nur das Argument von den hoch gefährdeten weiblichen Geschlechtsorganen vernehmen wir, wenn auch in leicht modifizierter Formulierung, noch immer aus dem Munde von Sportfunktionären, sobald Frauen Fußballfelder, Skischanzen oder Boxringe erobern. Noch immer haben Mädchen nicht die schon von Wollestonecraft angemahnten wirklich "selben Chancen zur Körperertüchtigung". So weisen zahlreiche aktuelle Untersuchungen nach, dass Mädchen auch heute noch von Kindesbeinen an erheblich weniger Möglichkeiten haben, ihren Bewegungsdrang auszutoben, als kleine Jungen.

"Bereits im Säulingsalter ermutigen Eltern eher ihre Söhne als ihre Töchter zu grobmotorischem Verhalten", stellen die Bewegungswissenschaftlerinnen Tonya Toole und Judith Kretzschmar fest. So ergab eine Studie zum Umgang von Eltern mit ihren 20 bis 24 Monate alten Kindern, dass die Jungen selbstständig spielen durften, während die Mädchen ermahnt wurden, wenn sie herumrannten, sprangen und kletterten. Gelobt hingegen wurden sie, wenn sie mit Puppen spielten, um Hilfe baten oder fernsahen. Interessanterweise waren sich die Eltern der Tatsache, dass sie ihre Kinder je nach Geschlecht sehr unterschiedlich behandelten, überhaupt nicht bewusst.
In einer anderen Studie wurden die Eltern von Kleinkindern in der Mitte eines Raumes platziert, von ihren Kindern durch eine Barriere aus Kissen getrennt. Die kleinen Jungen wurden von den Eltern aufgefordert, zu ihnen über die Barriere zu klettern die Mädchen hoben sie einfach drüber. "Wie kann da der Befund überraschen, dass schon bei zweieinhalbjährigen Kindern Jungen mehr Kraft und Stärke zeigen?", fragt Dowling und klagt: "Da kraftvolle Bewegung und ausgreifender Raumanspruch männlich codiert sind, vermeiden Mädchen beides. Sie übernehmen sanfte, eingeschränkte Bewegungen eine Art Schwächerepertoire."

Eine Befragung britischer SportlehrerInnen 1992 ergab, dass die PädagogInnen durchweg Mädchen "naturgegeben" für "weniger kraftvoll, aggressiv und stark" als Jungen hielten. Dementsprechend förderten sie die weiblichen Schüler "traditionell" - das heißt: weniger. Fazit der Studien: "Naturgegeben" ist hier gar nichts.

Das hätte eigentlich spätestens zu dem Zeitpunkt klar sein müssen, als die ersten Sportlerinnen ihre männlichen Kollegen in Wettkämpfen besiegten. So wie die australische Schwimm-Meisterin Shelley Taylor-Smith, die 1995 einen neuen zweigeschlechtlichen Weltrekord aufstellte: Sie schwamm in fünf Stunden, 45 Minuten und 26 Sekunden um Manhattan herum. Oder die amerikanische Radfahrerin Seana Hogan, die den bestehenden Männerrekord auf der Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles um fast eine Stunde unterbot.

Wann immer Sportlerinnen Sportler übertreffen, bricht Panik aus. Strategie Nummer eins, dem Einhalt zu gebieten, ist, die betreffenden Frauen zu einer Art unnatürlichem, weil "unweiblichem" (vermutlich homosexuellen) Monster zu erklären. Wie Martina Navratilova, die sich bei ihrer Hochzeit als "grobschlächtiges Raubtier" titulieren lassen musste, bei dem "eine Chromosomenschraube locker" sei.

Die zweite Strategie besteht schlicht darin, die bisher gültigen Regeln zu ändern oder den Frauen den errungenen Titel wg. Geschlecht abzuerkennen. Als Helene Mayer 1938 den amerikanischen Fechtmeister schlug, verbot die "Fencing Commission" nicht nur postwendend Kämpfe Mann gegen Frau, sondern erkannte Siegerin Mayer den Titel einfach wieder ab. Begründung: Männer würden gegen Frauen nicht mit vollem Einsatz kämpfen (Will heißen: Er hat sie gewinnen lassen). Als Barbara Mayer-Winters das Finale im Klippenspringen von Acapulco erreichte, wurde sie disqualifiziert "zu ihrem eigenen Schutz". Als die chinesische Skeetschützin Zhang Shan 1992 als erste Frau eine Goldmedaille in einem gemischten Wettbewerb gewann, beschloss das Internationale Olympische Komitee (IOC) auf der Stelle, bei der nächsten Olympiade die Frauen getrennt antreten zu lassen.

Der spektakulärste Sieg dieser Art dürfte allerdings das Tennismatch zwischen Billie Jean King und Bobby Riggs gewesen sein. Es fand nicht zufällig in dem Jahr statt, als sich die amerikanische Frauenbewegung auf dem Höhepunkt befand: 1973. Mit 30.000 ZuschauerInnen im Stadion und 50 Millionen vor den Fernsehern war das Spiel King gegen Riggs damals das größte Sport-Fernsehereignis aller Zeiten.

Billie Jean King wusste, was auf dem Spiel stand. "Als ich mit einer Übelkeit bis zum Erbrechen in der Kabine saß, ging mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf, dass es hier nicht um ein Tennisspiel ging, sondern um soziale Veränderung." King siegte - und veränderte. "Die Revolution im Frauensport ist in vollem Gange", verkündete Time, "und krempelt alles um - nicht nur im aktiven Sport selbst, sondern auch in den Einstellungen."

30 Jahre später hat sich, triumphiert Colette Dowling, "ein regelrechter Evolutionssprung vollzogen. 30 Jahre später hat sich, triumphiert Colette Dowling, ein regelrechter Evolutionssprung vollzogen. Die Frauen beginnen, die 'muskuläre Lücke' zu schließe." So wie Brandi Chastain mit ihrem Latissimus dorsi oder die rund zehn Millionen fußballernden amerikanischen Girls. Mädchen, die beständig an der Ausbildung ihrer Bizeps und Quadrizeps und anderen Muskelpartien arbeiten. Und noch dazu an ihrem Durchsetzungsvermögen, Kampfgeist und ähnlich unweiblichen Eigenschaften. Noch 1971 hatten nur 30.000 amerikanische Schülerinnen am Mannschaftssport ihrer Colleges teilgenommen heute sind es 2,4 Millionen. Noch 1971 waren nur 15 Prozent der College-Athleten Frauen - heute sind es 40 Prozent. Kurzum: Der Fall Brandi Chastain steht für viele.

Auch in Deutschland setzen Mädchen und Frauen zum Sprung über die letzte Hürde an. Noch 1975 trieb nur jedes dritte Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren Sport, im Jahr 2001 sind es schon über 40 Prozent. Nur jede sechste Frau zwischen 18 und 21 Jahren war 1975 sportlich aktiv, 2001 ist es schon jede vierte - und bis zum Alter von 60 jede fünfte.

Typische Frauensportarten sind zwar noch immer Klassiker wie Tanzen und Turnen, aber auch im Volleyball und beim Schwimmen haben die Mädels die Jungs inzwischen überholt. Und sogar bei den harten Männersportarten mischen sie jetzt mit: Rund 10.000 Frauen boxen, rund 11.000 stemmen Gewichte und 33.000 machen Karate. Fußball ist heute mit knapp 850.000 Aktivistinnen der mit Abstand beliebteste weibliche Mannschaftssport.

Während die Männer ihren Marathon-Rekord zwischen 1964 und 1995 um schlappe fünf Minuten und zwei Sekunden verbesserten - erhöhten die Frauen den ihren in diesem Zeitraum um über eine Stunde! Kein Zweifel: Die Frauen sind dabei, die "muskuläre Lücke" zu schließen. Und sie stehen dazu. Während sich Steffi Graf noch zwecks Weiblichkeitswahrung ein spezielles Training für lange, schmale Muskeln auferlegte, pfeifen die Williams-Schwestern auf die Presse-Kommentare über ihr "Möbelpackerkreuz". Selbst Rollenbrecherin Navratilova, die ihrerseits Körpergrenzen durchbrach, stellte unlängst neidlos fest: "Gegen die Williams-Schwestern sehe ich aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve."

Jüngst berichtete der Spiegel bass erstaunt über die Stabhochspringerin Annika Becker, die bei den Leichathletik-Europameisterschaften als erste Frau der Welt 4,84 Meter überflog. Wie sie das geschafft hat? Ganz einfach: "Sie springt wie ein Mann." Bis dato hatten sich die weiblichen Stabhochspringer "regelrecht am Stab emporgehangelt". Diese Zeiten sind vorbei. Denn die 20-jährige Studentin Becker ist "wesentlich athletischer gebaut als die meisten ihrer Konkurrentinnen" und kommt mit ihrer Anlaufgeschwindigkeit der der Männer "schon erheblich nah": "Dann drischt sie den Stab mit einer derartigen Wucht in den Einstichkasten, dass er sich zum Bersten biegt, im nächsten Moment barsch zurückschnellt und Annika Becker über die Latte schießt." Becker plant, beizeiten die bis dato für Frauen utopische Fünf-Meter-Hürde zu überfliegen.

Als das amerikanische Frauen-Eishockeyteam 1998 sein Olympia-Debut gab und die "Kämpferinnen, die gekommen waren, um zu siegen" (New York Times), prompt die Goldmedaille holten, kommentierte ihr Trainer trocken: "Das ist das öffentliche Totengeläut für das künstliche Konstrukt von männlich und weiblich im Sport." Und die amerikanische Top-Volleyballerin Gabrielle Reece fügte hinzu: "Bis vor kurzem lautete die einzige Aussage, zu der sich Frauen bekannten: 'Ich bin sexy'." Neuerdings aber sagen die Frauen laut Reece: "Ich habe einen scharfen Verstand und traue mir viel zu - und ich kann dir in den Arsch treten."

Zum Weiterlesen: Colette Dowling: Hürdenlauf. Frauen, Sport und Gleichberechtigung (Fischer, 9.90 €). Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht (Rowohlt, TB, 12.50€).

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