Kathrines langer Lauf in die Gleichheit
Plötzlich hört die Frau mit der Startnummer 261 das Trappen von Lederschuhen hinter sich. Zwischen dem gleichmäßigen, dumpfen Aufklatschen der Gummisohlen hunderter Laufschuhe ist das ein irritierendes Geräusch, denn diese Schuhe gehören nicht hierher. Instinktiv wendet sie den Kopf. Und blickt „in das bösartigste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Ein dicker Mann, ein Hüne mit gebleckten Zähnen wollte sich auf mich stürzen, und ehe ich reagieren konnte, packte er meine Schulter, riss mich zurück und schrie: ‚Raus aus meinem Rennen! Zur Hölle mit dir!‘“ Der tobende Mann versucht, Kathrine Switzer die Startnummern vom Sweatshirt zu reißen. Aber plötzlich fliegt ihr Angreifer durch die Luft. „Er landete am Straßenrand wie ein Haufen zerknitterter Klamotten.“ Dorthin befördert hat ihn Kathrines Freund Tom, der ebenfalls mitläuft.
Die Fotos von diesem Vorfall gehen nur wenig später um die ganze Welt. Denn den Journalisten, die das Ganze beobachtet haben, ist klar: Hier hat sich gerade ein handfester Skandal zugetragen, ja, mehr als das: ein historisches Ereignis.
Im Jahr 1967 dürfen Frauen im Wettkampf maximal 800 Meter laufen
Was war passiert? Aus heutiger Sicht nichts Besonderes. Die 21-jährige Kathrine Switzer war zum Bostoner Marathon angetreten. Tausende Frauen tun das heutzutage. Aber wir schreiben das Jahr 1967. Frauen dürfen bei Wettkämpfen maximal 800 Meter laufen, und selbst das erst nach hartem Kampf. Und nun will diese junge Journalistik-Studentin aus Syracuse 42 Kilometer schaffen, und das beim berühmtesten Marathonlauf der Welt. Jock Semple, der Organisator des Laufs, ist außer sich. Als er die Frau sieht, rast er auf die Bahn, um sie aus dem Rennen zu drängen. Aber Tom Miller, der nicht nur Kathrines Freund, sondern auch Hammerwerfer mit einschüchternden Körpermaßen ist, sorgt mit seinem Körpereinsatz dafür, dass seine Freundin weiterlaufen kann. „Einen winzigen Augenblick überlegte ich, ob ich aussteigen sollte“ schreibt Kathrine Switzer 45 Jahre später. „Aber wenn ich jetzt aufhörte, würde nie jemand glauben, dass eine Frau fähig ist, einen Marathon zu laufen.“ Vier Stunden und zwanzig Minuten später lieferte Kathrine Switzer der Welt den Beweis.
In ihrer Autobiografie „Marathon Woman“ erzählt die heute 70-Jährige die abenteuerliche Geschichte ihres hochsymbolischen Sieges. Und sie berichtet von ihrem Kampf für die (olympische) Anerkennung des Frauenlaufsports – für den sie mindestens so viel Ausdauer brauchte wie für ihre Marathonläufe.
Am Anfang ihrer rasenden Karriere steht eine Schlüsselszene. Die Familie Switzer sitzt beim Abendessen. Die zwölfjährige Kathrine verkündet ihren Eltern und ihrem älteren Bruder, dass sie sich als Cheerleaderin im Team ihrer High School bewerben will. Da schaut der Vater der Tochter in die Augen und sagt: „Weißt du, Liebes, du solltest nicht am Rand stehen und anderen zujubeln. Die Leute sollten dir zujubeln. Das Leben ist zum Mitmachen da, nicht zum Zuschauen.“
Kathrine ist eine begeisterte Sportlerin. Sie klettert auf Bäume und springt vom Hausdach, um den Nachbarjungen zu beweisen, dass auch sie ein Fallschirmspringer sein könnte. Das weiß der Vater. Er rät seiner Tochter, statt zum Cheerleading lieber in das Hockeyteam der Schule zu gehen. Um sich dafür in Form zu bringen, sagt er, solle sie einfach jeden Tag eine Meile laufen. Eine Meile, so rechnet er aus, das sind sieben Runden im Hof. Kathrine setzt sich in Bewegung.
Kathrine wächst in der Gewissheit auf: Mädchen sind nicht nur Dekoration
Die Disziplin und die langen Beine hat sie vom Vater, einem 1,90 Meter-Riesen und Offizier der US-Armee. Die Gewissheit, dass Mädchen nicht zu Dekorationszwecken geschaffen sind, gibt ihr die Mutter, die als Lehrerin und Leiterin der Studienberatung einer großen Highschool Besseres zu tun hat, als ihrem Mann abends die Pantoffeln zu bringen. „Meine Mutter konnte alles, und mein Vater achtete sie. Ihr Gehalt war eine wichtige Einnahmequelle.“
Ende der 1950er Jahre ist eine laufende Frau eine Ungeheuerlichkeit. Bei den ersten olympischen Spielen im Jahr 1896 hatte man weiblichen Athleten die Teilnahme ohnehin komplett verboten. Nach massiven Protesten der sich auf dem Höhepunkt befindenden Ersten Frauenbewegung wurden Frauen 1900 für die Disziplinen Golf, Tennis und Krocket zugelassen. Erst 1928 kam die Leichtathletik dazu und damit auch der 800-Meter-Lauf.
Doch als die Läuferinnen keuchend in den Innenkreis des Amsterdamer Stadions taumelten, gaben sich die Medien entsetzt über diese weibliche „Zurschaustellung von Erschöpfung“. Der britische Sportjournalist und mehrfache Olympiasieger Harold Abrahams nannte die Läuferinnen „eine Schande für die Weiblichkeit“ und eine „Gefahr für alle Frauen“. Er forderte, die Langstrecken-Wettkämpfe für Frauen wieder zu verbieten. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) stimmte ihm zu. Erst 32 Jahre später, bei der Olympiade 1960 in Rom durften 800-Meter-Läuferinnen wieder antreten.
Als Kathrine ihre tägliche Meile im elterlichen Hof läuft, ist ihr Role Model die römische Göttin Diana, denn reale Vorbilder gibt es zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie Laufschuhe für Mädchen und Frauen. Ihre Freundinnen finden die rennende Kathy einfach nur peinlich und raten ihr dringend, mit der albernen Lauferei aufzuhören, sie bekäme davon „dicke Beine und einen Schnurrbart“. Kathrine aber bekommt: Selbstbewusstsein. Sie spürt, wie gut sie sich nach ihren Läufen in ihrem Körper fühlt. Aus dem Stand wird sie mit ihrer Kondition eine der besten Spielerinnen im Hockeyteam. „Das Laufen ist eine einschneidende Erfahrung für Frauen. Es bewirkt Erfolgsgefühle, fördert Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen“, wird sie später in einem ihrer Laufbücher schreiben. Die 13-Jährige steigert das Pensum auf drei Meilen.
Ihr Vorbild für das tägliche Lauftraining ist die römische Göttin Diana
Als sie an die Uni von Syracuse geht, wird sie beim Leichtathletik-Trainer vorstellig. Der erklärt ihr, dass sie als Frau nicht an Wettkämpfen teilnehmen darf, aber er erlaubt ihr immerhin, mit den Männern zu trainieren. Kathrines Laufkumpel wird Arnie Briggs. Jeden Abend läuft die junge Studentin nun sechs Meilen, also knapp zehn Kilometer, mit dem 50-jährigen Briefträger und Marathon-Veteran. Eines Abends, als Arnie mit seiner Schwärmerei über den Boston Marathon, bei dem er einmal Zehnter geworden war, wieder einmal kein Ende findet, brüllt die genervte Kathrine: „Arnie, wir wollen jetzt nicht mehr von diesem Marathon reden. Lass uns das verdammte Ding laufen!“ Arnie aber erklärt kategorisch: „Frauen schaffen diese Entfernung nicht, sie können nicht so weit laufen!“ Das Ergebnis des handfesten Streites, der nun folgt, endet mit einem schicksalsschweren Satz: „Wenn du mir im Training zeigst, dass du die Distanz schaffst, wäre ich der erste, der mit dir zum Boston Marathon fährt.“ Es ist Dezember 1966. Ende März 1967 läuft Kathrine Switzer im Training zum ersten, aber nicht zum letzten Mal in ihrem Leben 26 Meilen, also 42 Kilometer. Am 19. April 1967 steht sie, zusammen mit Arnie Briggs und Tom Miller an der Startlinie in Boston.
Eigentlich hatte sich Kathrine gar nicht offiziell anmelden wollen. Aber sie stellt fest: Es gibt keine Regel, die Frauen die Teilnahme am Marathon verbietet. Die Amateur Athletic Union (AAU) hält die Teilnahme einer Frau an einem Marathonlauf offenbar für derartig abwegig, dass sie weibliche Läufer in ihrem Regelwerk gar nicht erst erwähnt. Kathrine Virginia Switzer meldet sich also doch an – sicherheitshalber mit ihren Initialen: K.V. Switzer. Sie bekommt die Startnummer 261. Was nun folgt, ist Geschichte.
Aber diese Geschichte ist mit den internationalen Schlagzeilen über die Sensation, die Switzers Ausschluss aus der AAU zur Folge hat, noch lange nicht zu Ende. Im Gegenteil: Sie ist der Startschuss für eine regelrechte Frauenmarathon-Bewegung – die natürlich eng mit der erstarkenden Frauenbewegung, der Women’s Lib, zusammenarbeitet. Immer mehr Frauen laufen, was das Zeug hält. Sie verbessern stetig ihre Zeiten, geben Interviews und setzen die Sportverbände unter Druck.
Etappensieg! 1972 sind auch "die Damen" beim Boston Marathon willkommen
Am 16. April 1972 feiern die Läuferinnen einen Etappensieg: Fünf Jahre nach Kathrine Switzers Lauf im April 1967 verkündet Jock Semple vor dem Start des Boston Marathons, wenn auch grollend: „Und deshalb, äh… seid ihr Damen in Boston willkommen. Aber ihr müsst euch mit derselben Zeit wie die Männer qualifizieren.“ Diese Zeit liegt bei 3:30 Stunden. Alle vier Läuferinnen kommen schneller ans Ziel. Und sie wissen, dass dies nicht nur ein sportlicher Sieg ist. „Wir wussten, dass wir eine politische und gesellschaftliche Barriere eingerissen hatten, so wie unsere Ahninnen, die Suffragetten, als sie das Wahlrecht erkämpft hatten oder die Universitäten zwangen, auch Frauen studieren zu lassen.“ Die erfolgreiche Teilnahme der Frauen „warf jahrtausendealte Vorurteile über weibliche Schwäche über Bord“.
Jetzt will Kathrine Switzer den Marathon zur olympischen Disziplin machen. Sie wird weitere zwölf Jahre dafür brauchen. Jahre, in denen sie unermüdlich Frauenläufe organisiert, Interviews gibt und Sportfunktionäre bearbeitet. Die Aufmerksamkeit der Medien ist den Marathon-Läuferinnen sicher, und so überzeugt Switzer schließlich 1977 den Kosmetikkonzern Avon internationale Frauenläufe zu sponsern. Überall auf der Welt beginnen die Frauen öffentlich zu laufen, von Singapur bis Rio de Janeiro. Jedes Mal nehmen Hunderte, manchmal Tausende teil. Beim großen Asienlauf in Tokio ist die älteste Läuferin 70 Jahre alt, sie ist 1908 geboren, zu einer Zeit, als in China kleinen Mädchen noch die Füße eingebunden und verkrüppelt wurden. Beim Internationalen Frauenlauf in London gehen 1980 Frauen aus 27 Ländern von fünf Kontinenten an den Start. Und Organisatorin Switzer ahnt: „Jetzt können sie uns nicht mehr ablehnen!“
Sie, das sind die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees. Bevor das IOC eine Sportart zu den olympischen Spielen zulässt, will es den Beweis, dass weltweit genügend Menschen diesen Sport auf Spitzenniveau betreiben. Lobbyistin Switzer hat Recht: Das IOC kann nicht mehr anders. Es beschließt: 88 Jahre nach Beginn der olympischen Spiele wird der Marathon für Frauen olympisch.
1984 kann das IOC nicht mehr anders - und lässt auch Läuferinnen zu
Am 5. August 1984 gehen bei der Olympiade in Los Angeles 50 Läuferinnen aus 28 Ländern an den Start. Nach genau zwei Stunden, 24 Minuten und 54 Sekunden läuft die Amerikanerin Joan Benoit als erste über die Ziellinie. 90.000 Menschen im Stadion und zwei Milliarden an den Bildschirmen sehen zu, wie das geschieht, was keine 20 Jahre zuvor niemand für möglich gehalten hätte. „Sie nimmt den Hut ab und winkt damit kurz der Menge zu, eine bescheidene Geste, die von einem explosionsartig anschwellenden Jubel im Stadion aufgenommen wird. Und von unseren Herzen.“ Im anschließenden Interview dankt die Siegerin „den Pionierinnen, die den Lauf als Teil der Olympischen Spiele durchgesetzt haben“.
Weiterlesen: Kathrine Switzer: Marathon Woman (spomedis, 22.95 €)