Walpurgisnacht: Die Hexen sind los!

1977 in München: "Frauen erobern die Nacht zurück!" - © Angela Neuke/ Rheinisches Landesmuseum
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Ende der 1970er und in den 1980er Jahren demonstrierten an diesem Abend Frauen in ganz Deutschland mit weiß bemalten Gesichtern, Fackeln und Kerzen (wie hier in München) gegen "die Ausgangssperre für Frauen bei Dunkelheit". Von Susan Brownmiller war gerade "Gegen unseren Willen" erschienen, Vergewaltigung endlich keine Schande für die Opfer mehr, sondern ein öffentlicher Skandal.

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Doch die Frauen protestierten nicht nur, sie feierten auch: Frauenfeste in der Walpurgisnacht allerorten unter dem provokanten Motto "Hexentanz". So wie die Schwarzen in ihrem Kampf um Menschenrechte erklärt hatten: "Black is beautiful", so sagten die Feministinnen jetzt stolz: "Ja, wir sind Hexen!" Sie beriefen sich dabei auf die Tradition der "Hagazussa", der Heilerinnen und Magierinnen am Rand der Gesellschaft, zwischen den Welten.

Denn das war die erste Beschimpfung, die den neuen Frauenrechtlerinnen entgegenschlug: Alles Hexen! Oder Lesben. Oder beides. Was nicht neu war, schon im Mittelalter hatte man unbequeme Frauen abserviert, indem man sie schlicht zu "Hexen" erklärte.

Quasi jede Frau konnte als "Hexe" denunziert werden und ihre Verurteilung war kein Problem: Eine "Hexe" wurde verbrannt oder auch gefesselt ins Wasser geworfen: Ging sie unter, war das die gerechte Strafe - überlebte sie, war es "Hexerei".

Die heutigen "Hexenfeste" berufen sich auf die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg, auf dem sich der Legende nach die Hexen trafen und mit dem Teufel tanzten. EMMA berichtete seit 1977 vielfach sowohl über die historische Hexenverfolgung als auch über die "neuen Hexen" und ihren Protest.

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Alice Schwarzer schreibt

Wir modernen Hexen

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Ich vermute, dass ich als neumodisches Exemplar der Gattung Hexen eingeladen worden bin, und ich will darauf auch noch gleich zu sprechen kommen. Es ist eben erwähnt worden, dass die Kölner Universität nicht ganz unschuldig ist an den Hexenverfolgungen. Viele von euch wissen ja, dass die Publikation des Hexenhammers - also die Systematisierung, die wissenschaftliche und juristische Begründung der Hexenverfolgung – ganz entschieden zu deren Gründlichkeit beigetragen hat. Einer der Autoren des Hexenhammers war Dekan an der Universität in Köln. Ich hoffe, für alle Frauen (und auch Männer), die hier sitzen, wirft es ein Licht auf die sogenannte Wissenschaft... Wissenschaft steht gemeinhin im Dienste der Herrschenden, und es ist nicht leicht, eine andere, eine kritische,  aufklärerische Art von Wissenschaft zu praktizieren. Trotzdem muss es immer wieder versucht werden. Und darum sind wir heute hier.

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Hexenverfolgung - dramatischer Teil unserer Geschichte.

Mein Vortrag ist mit der Frage angekündigt worden: Warum beschäftigt sich die neue Frauenbewegung heute so intensiv mit dem Thema "Hexen"? Meine Antwort: Weil der Frauenbewegung ganz einfach nichts anderes übrigbleibt! Die Hexenverfolgung ist ein Teil unserer Geschichte, und zwar ein ganz besonders schmerzlicher, dramatischer Teil: die Hexenverfolgungen sind sozusagen der Holocaust der Frauen. Aber auch heute noch - das wissen wir älteren Feministinnen, das lernt ihr jüngeren engagierten Frauen an der Uni auch sehr schnell, sobald ihr anfangt, unbequem zu werden - trifft uns unbequeme Frauen aus denselben Gründen dieses Stigma, "so eine" zu sein.

Heute lodern nicht die Scheiterhaufen, aber die modernen Hexenprozesse, Stil Weimar-Prozess, sind auch nicht ohne! Ich selbst erinnere mich sehr gut, wann das Stigma "Hexe" zum ersten Mal öffentlich über mich verhängt wurde. Das war 1974. Da habe ich eine Diskussion mit Esther Vilar gemacht. Ich sah damals so aus wie jetzt, nur war ich 13 Jahre jünger, das macht eine Frau ja gemeinhin nicht unbedingt "hexischer". Dennoch stand damals in der Bild-Zeitung über mich: "Sie guckt mit stechendem Blick durch die Brille, wie eine Hexe."

Ich hatte mir bei dieser Diskussion mehrere schwere Vergehen gegen die Spielregeln zuschulden kommen lassen, unter anderem als Journalistin nicht so zu tun, als stünde ich objektiv über dem Thema. Stattdessen habe ich meine eigene Betroffenheit und meine Empörung über den groben Sexismus der Vilar und über ihre Frauenverachtung in der Sendung selbst mit zum Thema gemacht. Das war damals in unseren Kreisen etwas sehr Unfeines, seine Betroffenheit zum Thema zu machen, man hat ja in der Presse, wie in der Wissenschaft, darüber zu stehen.

Ich gebe zu, dass die Schlagzeile damals in der Bild-Zeitung mich einen Moment lang erschrocken und eingeschüchtert hat. Und dass ich danach bei öffentlichen Auftritten eine Zeitlang wieder Kontaktlinsen getragen habe. - Dieses nur mal als Beispiel über die Wirkung solcher Klischees, die verletzen und einschüchtern wollen. Man setzt sich nicht mit der Sache auseinander, sondern diffamiert einfach die Person, die sie vertritt.

Die Hexen hatten eins gemeinsam: Sie sind Frauen ohne Mann.

Ich stehe in der Bundesrepublik ja als symbolische Figur öffentlich für das, was viele von uns engagierten Frauen tagtäglich erleben, nur bei mir kann man es dann eben manchmal auch in der Zeitung lesen. Für uns Feministinnen kommt zum Hexenklischee noch das Suffragettenklischee. Bei den Suffragetten ist es nicht anders als bei den Hexen. Wer da mal genauer hinschaut, sieht: Diese Suffragetten sind nicht ein paar alte schrullige Tanten mit komischen Kapotthütchen, die keinen Mann abgekriegt haben und nichts besseres zu tun hatten, als in London oder auch Berlin die Straße rauf und runter zu laufen fürs Wahlrecht, sondern das waren Frauen, die zum Teil ihr Leben riskiert haben mit Hungerstreiks in Gefängnissen, mit sehr militanter Gegenwehr, die sich anketteten, gegen die Polizei kämpften - kurzum, die nicht mehr und nicht weniger getan haben, als für die Menschenrechte der Frauen zu kämpfen und dafür ihr Leben riskierten. Nun ist die Frage: Waren die Hexen überhaupt solche Kämpferinnen? Ich habe die Bücher der Historikerinnen, der Hexen-Expertinnen gelesen, das hat mich ein bisschen kundiger gemacht. Bei allen Unterschiedlichkeiten, verschiedenen Herangehensweisen und Differenzierungen der Hexen-Forscherinnen belegen doch alle, dass die Frauen, die verfolgt, gefoltert, getötet worden sind als Hexen, in ihrer klischeehaften Darstellung immer eins gemeinsam haben: Sie sind Frauen ohne Mann. Und sie tun sich zusammen mit anderen Frauen.

Eines der ganz zentralen Vergehen, das signalisiert, dass man es hier mit den Spezies Hexen zu tun hat, ist also die Infragestellung der männlichen Potenz, der männlichen Macht, also des Mannes schlechthin. Im Hexenhammer lautet die Überschrift von Kapitel 9: "Ob die Hexen durch gauklerische Vorspielungen die männlichen Glieder behexen, so dass sie gleichsam aus den Körpern gänzlich herausgerissen sind." - Ihr kennt vielleicht die moderne Variante: "Schwanz-ab-Schwarzer"! Also die paar Zentimeter liegen den Herren doch noch immer sehr am Herzen, in denen scheint sich in der Tat einiges zu konzentrieren. Jede Frau, die denen nicht die gebührende Reverenz erweist, ist eine Hexe, gestern wie heute.

Die Hexen-Forscherinnen weisen immer wieder darauf hin, dass die Frauen, die verfolgt worden sind, in sehr unterschiedlichen Situationen waren. Manchmal waren es Frauen aus dem Volk, die einfach zwischen die Mühlsteine geraten sind. Oder es waren, wie in Köln die Henoth, Patrizierinnen, die den Männern nicht in ihre Geschäftsinteressen gepasst haben. Oder sie waren Opfer persönlicher Racheakte von einzelnen Männern. Oder die Hexenverfolgung war eben Ausdruck der Gesamthysterie und hat mehr oder weniger wahllos diese oder jene getroffen. Eines zieht sich jedoch mehr oder weniger durch alles: Die als Hexen verfolgten Frauen waren in der Realität oder in der Phantasie unbequem für das herrschende Geschlecht. Sie irritierten, sie störten die bestehende Ordnung.

Die ist verrückt. Die gehört ins Irrenhaus.

Eine moderne Variante der Hexenverfolgung ist die Psychiatrisierung von Frauen. Wir alle kennen das, auch bei uns selbst, bei unseren Müttern. Es hängt über allen Frauen wie ein Damoklesschwert: "Die ist verrückt. Die gehört ins Irrenhaus." - Es gibt eben viele Methoden, Menschen zu entmenschlichen und auszusondern, die modernen sind subtiler, aber nicht weniger effektiv: die Psychiatrie ist oft nicht viel besser als der Hexenturm.

Es war ja historisch nicht so, dass es nur die "weisen Frauen" getroffen hätte, die Hebammen und Heilkundigen zum Beispiel Querbeet, ohne Gesetzmäßigkeit bedrohte die Hexenverfolgung mal diese Frau und mal jene, also eigentlich alle. Das war nur scheinbar eine ganz irrationale Sache, ganz wie die antisemitischen Pogrome. Unterm Strich allerdings scheint mir das überhaupt nicht irrational: Das ist die Logik des Patriarchats.

Die Logik des Patriarchats ist die allgemeine Einschüchterung und allgemeine Verunsicherung und allgemeine Bedrohung aller Frauen: Es kann jederzeit jede treffen!

Dieses für alle Frauen einschüchternde und bedrohliche Klima wird immer dann geschaffen, wenn das Patriarchat sich bedroht fühlt. Wir haben wieder (moderne) Hexenverfolgungen und (moderne) Pogrome, seit Frauen wieder öffentlich unbequem bis widerständlerisch sind. Es muss sich darum auch für die historischen Hexen-Forscherinnen und -Forscher die Frage stellen: Wie war das eigentlich damals? War das auch eine Zeit, in der das Patriarchat es nötig hatte, zurückzuschlagen?

Vielleicht sind einige von euch der Meinung, dass das alles Probleme sind, die wirklich sehr gestrig sind, und dass diese Art von pogromhaften Verfolgungen, Folterungen und Vernichtungen heute nicht mehr möglich sind. Ich muss euch leider sagen, dass das falsch ist. Denn wir haben im 20. Jahrhundert eine wahre Renaissance der Folter. In keinem Jahrhundert, das ist beweisbar, wurde so viel gefoltert wie heute. 

Die Mächtigen greifen weltweit wieder zur Folter.

Obwohl die Folter dank der Aufklärung im 19. Jahrhundert weltweit quasi beseitigt worden war, feiert sie jetzt, in unserem modernen Zeitalter, weltweit neue Urstände: Nie wurden politisch Unbequeme von den jeweils Herrschenden so viel und, technisch wie medizinisch, so versiert gefoltert wie im 20. Jahrhundert! Warum also sollten ausgerechnet uns Frauen auf Dauer die brachialen Methoden der Hexenverfolgungen erspart bleiben? Die Wissenschaft - zum Beispiel die Mediziner (und vermutlich auch einiger Medizinerinnen) - spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Durchführung der modernen Folter.

In einer Welt, die im vergangenen Jahrzehnt mehrere, fast weltweite, zumindest den ganzen Westen umfassende Emanzipationsbewegungen erlebt hat, die die herrschenden Systeme fundamental infrage gestellt haben, greifen die Mächtigen wieder zur Folter: diesem letzten und schrecklichsten Mittel der Herrschaftssicherung.

Ich bin der Überzeugung, dass Gewalt und Folter -im Staat wie in der Familie- einfach die letzte Sicherung, die Notbremse der Mächtigen sind für das Aufrechterhalten herrschender Machtverhältnisse. Wenn sie sich nicht länger freiwillig beugen, beugt man die Menschen mit Gewalt - und die furchtbarste und abschreckendste Gewalt ist die Folter. Das gilt in Staaten wie in Familien.

Ihr alle wisst, was los ist in Südamerika und anderen Diktaturen, wie auch in Demokratien: Zu recht ist auch die Isolationshaft gegen sogenannte "Terroristen" in der BRD als Folter bezeichnet worden. Es existieren genug Erfahrungsberichte und medizinische Berichte, die zeigen, wie in der Isolationshaft der Körper und die Seele zerstört werden. Da ist zum Beispiel ein Text von Ulrike Meinhof, in dem sie eindringlich und minutiös ihre eigenen Foltererfahrungen in der Isolationshaft beschreibt.

Ihr alle wisst auch, oft aus ureigenster Erfahrung, was los ist in den Familien und auf unseren Straßen. Folter als Mittel zur Aufrechterhaltung der Macht existiert auch zwischen Männern und Frauen. Wir müssen zum Beispiel heute davon ausgehen - darauf weisen alle internationalen Zahlen hin - dass jede zweite Frau Vergewaltigungserfahrungen hat, auch jede zweite hier im Saal. Und jede dritte Inzest-Erfahrungen.

Was ist die Quelle für die innere Zerbrochenheit?

Es gibt einen Text von Jean Amery, der sich letztendlich das Leben genommen hat, weil er die selbst erlittene Folter nie überwunden hat. Ein deutscher Jude, der, wie er selbst sagt, nur "leicht" gefoltert wurde im 3. Reich. Er versucht zu beschreiben, wieso die Folter ihn so zerstört hat. Und er nennt in diesem Zusammenhang, als vergleichbar zu seinen Foltererfahrungen, auch die Vergewaltigung. Das ist ganz ungewöhnlich, dass ein Mann und dann auch noch in dieser Zeit - der Aufsatz wurde in den 50er Jahren geschrieben - selber diese Parallelen sieht. Amery definiert, was Folter ist: Wenn man an der eigenen Haut erlebt, dass einfach alles möglich ist; dass die Integrität des eigenen Körpers, der eigenen Seele vom anderen nicht respektiert wird: dass mir jemand in die Augen gucken kann und mich trotzdem foltert. Folter raubt, sagt Amery, dem/der Gefolterten das "Urvertrauen". In die Menschen. In die Welt.

Wer bedenkt, dass die Mehrheit der weiblichen Menschen in unserem Land und in der ganzen Welt alltägliche Folter erleidet (die Häuser für geschlagene Frauen sind überfüllt), der ahnt, dass das eine Quelle sein könnte für die innere Zerbrochenheit und Zerstörtheit so vieler Frauen. Der ahnt, was es Frauen heute so unendlich schwer macht, den aufrechten Gang zu gehen.

Warum rede ich von all diesen Dingen? Weil der all diesen Konflikten - von Hexen über Suffragetten bis Chile oder "Terroristen" – gemeinsame Grundmechanismus folgender ist: Menschen, die einem nicht passen, weil sie die Ordnung, von der einige profitieren, stören, sie vielleicht sogar infrage stellen, werden eingeschüchtert, gedemütigt, geschlagen und - wenn's gar nicht mehr anders geht - gefoltert, zur demonstrativen Abschreckung der anderen und zur Vernichtung der Widerspenstigen.

Die eine Sorte Mensch kann die andere Sorte Mensch foltern.

Ein alltägliches Beispiel für sexistische Folter sind diese kleinen Nachrichten auf der letzten Seite der Tageszeitungen: Sie wollte sich scheiden lassen, da verlor er die Nerven. Außerdem war sie eh eine Schlampe und hatte seine "Männerehre" gekränkt. Er schlug sie. Tot. Ein sensibles psychologisches Gutachten. Viel Verständnis bei der Männerjustiz. Fünf Jahre für Totschlag, zwei auf Bewährung. Frauenmord ist hierzulande ein Kavaliersdelikt. Ich erinnere nur an den Scholz-Prozess, nach dem Bubi Scholz zuguterletzt auch noch die 600.000 DM Lebensversicherung für die von ihm erschossene Ehefrau kassieren konnte. Voraussetzung dafür, dass eine Sorte Mensch die andere Sorte Mensch foltern kann, sind Machtverhältnisse. Dennoch müssen wir uns fragen: Was geht in den Menschen selbst vor, die so handeln? Und was sind ihre Motive und Mechanismen?

Ein Motiv ist die Herrschaftssicherung. Und der Mechanismus? Bevor Menschen foltern und andere Menschen wie die räudigen Hunde erschlagen können, müssen sie etwas tun: sie müssen ihr Opfer entmenschlichen, müssen es ausgrenzen aus der Gemeinschaft der Menschen. Sie müssen den Opfern die Menschenwürde nehmen, sie zu Kreaturen machen, die nichts anderes verdienen, als gefoltert zu werden. Das macht mann mit Frauen nicht anders als mit Schwarzen oder Juden. Die entwürdigende und entmenschlichende Propaganda geht der Tat, geht der Folter, geht dem Mord voraus.

Bevor man sechs Millionen Juden ermorden konnte, musste man sie entmenschlichen. Man hat sie mit Fratzen gezeigt, wie Tiere, Ratten, ganz ähnlich wird das heute mit Frauen gemacht. Man kennt das aus den Medien, und zwar nicht nur aus Porno- und Sexheften, sondern auch zunehmend aus den Zeitschriften, die zu Hause auf dem Couchtisch liegen: diese entwürdigende, erniedrigende, unmenschliche Darstellung von Frauen, die Pornographie. Bei der Pornographie geht es ja nicht etwa um nackte Haut, Sex oder Erotik; bei der Pornographie geht es um Machtdemonstration (der Männer) und Entwürdigung (der Frauen).

Manche Frauen sind auch Täterinnen.

Ihr habt vielleicht im jüngsten Stern das Cover zum Thema Video gesehen: eine nackte Frau mit gespreizten Schenkeln, zwischen den Schenkeln ein Bildschirm mit geöffnetem Mund. Aber dieser einfache Sexismus genügt noch nicht, dabei kriegen die Jungs keinen mehr hoch. Dazu muss noch ein Schlag Rassismus. Vorletztes Stern-Cover: eine schwarze Frau von vorne, nackt, hinter ihr der weiße Kolonialherr, der ihr an den Busen greift, natürlich zwei Köpfe größer, wie das so ist bei Herren. Titelzeile: "Was jeder Urlauber beim Sextourismus wissen muss". So hundsnormal ist die Erniedrigung und Entwürdigung von Frauen, dass, "Jeder Urlauber" sie sich erlauben kann. Übrigens auch in den sogenannten "Alternativreiseführern" findet ihr ganz lässige Alternativtips, wo mann die Mädels besonders billig kriegt, wo sie auch noch nicht ganz so abgegriffen sind, noch ein bisschen Seele haben, sodass man noch ein bisschen nett mit ihnen plaudern kann.

Allerdings: Frauen sind nicht immer Opfer. Manchmal sind sie auch Täterinnen (wie die weiblichen Kapos im KZ) oder Komplizinnen (wie die Mütter bei der Klitorisbeschneidung ihrer Töchter).

Bei der Witwenverbrennung in Indien zum Beispiel spielen die Schwiegermütter eine ganz furchtbare Rolle. Sie sind die Komplizinnen ihrer Söhne. Ich sah jüngst ein Interview mit einer Frau, die der Witwenverbrennung entkommen war und die, noch ganz entstellt, im Krankenhaus schilderte, wie ihre Schwiegermutter und ihr Ehemann mit ihr vor die Stadttore gegangen waren, und sie da ihr Grab mit der Schippe ausheben musste. Man hat sie ihr Gewand ausziehen lassen, weil der Stoff ganz hübsch war, den konnte man noch gebrauchen, und dann hat man sie mit der Schippe erschlagen und in die Grube gestoßen. In diesem einen Fall war die Frau nicht ganz tot. Sie konnte nach ein paar Stunden weg kriechen. Als ihr Mann und die Schwiegermutter - ein ganz sympathischer Mann, eine ganz sympathische Frau - später dazu interviewt wurden, lachten sie ohne jedes Schuldbewusstsein: "So ein Unsinn, das ist doch alles gelogen."

Was ich so frappierend fand an diesem Film, war die Seelenruhe der Täterinnen. Die hatten kein Schuldbewusstsein. Da hatte zuvor dieser Entmenschlichungsprozess (des Opfers) stattgefunden, der ihnen das Recht gab, das mit "so einer" zu tun, genau der Entmenschlichungsprozess, der vorher stattfinden muss, damit Menschen so mit Menschen umgehen können.

Der Verfolgung geht die Entmenschlichung voraus.

Und genau das ist es, was wir auch aus den historischen Hexenverfolgungen lernen können, und woran wir die modernen Hexenprozesse erkennen: Der Verfolgung und Vernichtung geht immer der Prozess der Entwürdigung, also Entmenschlichung des Opfers voraus. Das Gesicht des politischen Gegners wird zur Fratze verzerrt, Linke werden zu „Terroristen" oder zumindest "Sympathisanten". Gegen Juden richtet sich der Antisemitismus, gegen Schwarze der Rassismus, gegen Frauen der Sexismus - dessen heutige Speerspitze die Pornographie ist.

Das Furchtbare an diesem Entmenschlichungsprozess ist, dass die Opfer mit der Zeit selber ihre Würde verlieren. Es gibt sie: Die antisemitischen Juden. Die rassistischen Schwarzen. Und die sexistischen Frauen.

Die Ideologie ihrer Minderwertigkeit wird den Opfern nicht nur von außen entgegengehalten, sie kriecht ihnen mit der Zeit auch unter die Haut. Die Opfer verachten sich selbst, sie verachten ihresgleichen, sie biedern sich an bei den Herrschenden, sie verraten damit sich selbst.

Ich stehe hier als radikale Feministin, das heißt als eine Frau, die gleiche Rechte für alle Menschen, also auch für Frauen und Männer, fordert. Zentral ist für mich als Frau im Patriarchat das Ziel, es ganz einfach unmöglich zu machen, dass Frauen auch heute noch zu "Hexen" deklassiert werden. Denn "die Hexe", das ist kein himmlisches Geschöpf mit esoterischen Mächten, sondern eine sehr irdische Frau, die auf ganz weltliche Art zum Opfer gemacht wird. Und Opfer waren wir Frauen lange genug!

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