Kobane: Was für eine verdammte Verlogenheit!
Was für eine verdammte Verlogenheit! Und was für eine bodenlose Dreistigkeit! Die Welt sieht zu, wie die kurdische Grenzstadt Kobane von den Söldnern des selbsternannten „Islamischer Staat“ erobert und die Menschen massakriert werden (Die Männer werden enthauptet, die Mädchen und Frauen als „Sex-Sklavinnen“ erbeutet). Von oben werfen die Amerikaner Bomben, die auch Zivilisten treffen, vorzugsweise auf die vom IS eroberten Öl-Raffinerien; und über die Grenze gucken die türkischen Soldaten in ihren Panzern zu.
Obama erwartet nun von den Türken, dass sie einmarschieren, die eigenen Jungs möchte er in diese Hölle nicht schicken. Und Merkel wirft der Türkei „Untätigkeit gegen den IS“ vor. Was im besten Fall naiv ist. Die türkischen Soldaten sollen den islamistischen Killern in die Arme fallen? Warum sollten sie?
Erdogan war es, der die Gotteskrieger seit 2011 von der Türkei aus über die Grenze nach Syrien ziehen ließ. Am 6. Oktober entließ er laut Time im Austausch gegen gefangene türkische Soldaten 180 Dschihadisten aus türkischen Gefängnissen. Und am 13. Oktober ließ er Stellungen der kurdischen PKK im Südosten der Türkei bombardieren.
Damit flammt der bewaffnete Konflikt zwischen Türken und Kurden wieder auf, die im Südosten der Türkei einen autonomen Kurdenstaat fordern. Dieser Konflikt hatte in den vergangenen Jahren 30.000 Menschenleben gekostet, auf beiden Seiten.
Neben Assad sind Erdogans Hauptfeinde also die Kurden. Die Gotteskrieger des IS hingegen sind dem bekennenden Gottesstaatler eher nahe. Und auch Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Emirate haben sie in den vergangenen Jahren mit ihren Petro-Millionen und Waffen aufgebaut. Also genau jene Staaten, die jetzt im „Bündnis“ mit Amerika gegen den „Islamischen Staat“ vorgehen. Denn der scheint seinen bärtigen Brüdern, die in ihren Ländern ja ebenso die Frauen versklaven und die Köpfe rollen lassen wie der IS, jetzt über den Kopf zu wachsen. Sie fürchten offensichtlich nun selbst den Geist, den sie aus der Flasche ließen.
Zurzeit sollen es etwa 50.000 Dschihadisten sein, die im Norden Syriens kämpfen und die Menschen den Schrecken lehren. Was eigentlich keine Überraschung für die westlichen Geheimdienste sein dürfte. Führend sind erprobte Gotteskrieger aus Tschetschenien, Irak, Afghanistan und dem nordafrikanischen Maghreb. Die Drecksarbeit (Selbstmordattentate etc.) scheinen europäische Dschihadisten zu erledigen. Sie werden auf etwa 4.000 geschätzt, darunter zirka 400 aus Deutschland. Wenn die zurückkommen, haben sie das Vergewaltigen und Morden von Grund auf gelernt. Und sie fürchten sich vor nichts: Schließlich beschert der Heldentod im „Heiligen Krieg“ ihnen das Paradies und die bekannten 70 Jungfrauen.
Noch haben die IS-Söldner und die Erdogan-Regierung dieselben Gegner: die Kurden und das Assad-Regime. Die Kurden – und hier speziell die militante PKK, die als „Terrororganisation“ auch in Europa verboten ist – sind der Türkei mit ihrem Begehren nach einem autonomen Kurden-Staat schon lange ein Dorn im Auge. Und der Sturz von Baschar al-Assad wäre ein Fest für Erdogan. Der wäre dann nicht nur der starke Mann in seinem Land, sondern in der ganzen Region. Hofft er.
Der Nahe Osten aber und auch der Westen sollten sich darüber nicht freuen. Denn mit Assad würde nach Saddam Hussein (2003) und Muammar al-Gaddafi (2012) der dritte sozialistisch-westlich orientierte Herrscher in einem von Islamisten bedrohten Land fallen. Sicher, Assad ist kein Demokrat, er ist ein repressiver autokratischer Herrscher, wie alle Staatschefs in diesen Ländern, und Kritik ist angebracht. Doch bisher war er immerhin ein Bollwerk gegen die Islamisten. Und die werden nach seinem Sturz auch in Syrien die Macht ergreifen, vermutlich in trauter Einheit mit den so genannten „gemäßigten“ Islamisten. Syrien, der Staat mit den einst meisten Frauenrechten und der größten religiösen Toleranz in Nahost, ist Vergangenheit. Auch Assad könnte darum eines nicht zu fernen Tages im Rückblick selbst seinen Gegnern das kleinere Übel scheinen.
Doch nicht nur die religiös-politischen Sympathisanten der IS tragen Verantwortung für den Einbruch des Chaos und die atemberaubende Offensive der Terrortruppe. Auch und vielleicht vor allem der Westen ist verantwortlich. Denn er hat nicht nur zugesehen, sondern die Islamisten aufgerüstet, wenn es gerade in den politischen Kalkül passte; wie einst im Kampf gegen die Sowjetunion, die Taliban und heute gegen Assad, wo er die „gemäßigten“ Islamisten bewaffnet. Doch selbstverständlich sind die Grenzen zwischen diesen angeblich „Gemäßigten“ und den Radikalen fließend.
Als ich 2002 das Buch „Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz“ herausgab, analysierten Experten darin die „Talibanisierung des Nahen Ostens“, das „Einfallstor Balkan“, die „Islamisierung Tschetscheniens“ sowie das Drama Algeriens. Das war vor zwölf Jahren. Schon damals hätte man also wissen oder zumindest ahnen können, was kommt.
Assad könnte
im Rückblick
das kleinere
Übel sein.
In Algerien hatten die aus dem Afghanistankrieg gegen die sowjetischen Besatzer zurückkehrenden islamistischen Söldner, die so genannten „Afghanen“, in den 90er Jahren einen Bürgerkrieg angezettelt mit exakt denselben Methoden wie heute der IS. Das kostete über 200.000 Menschen das Leben. Die traumatisierten Algerier nennen diese Zeit „die schwarzen Jahre“. Die Welt hat weggesehen.
In der russischen Teilrepublik Tschetschenien waren es nicht die Russen, sondern die Taliban und Al-Qaida, die 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg anzettelten und tausende von Gotteskriegern in das Land schleusten. Auch sie gingen ebenso brutal vor wie der IS, köpften die Männer und versklavten die Frauen.
Bereits 1993 (!) war in Tschetschenien die Scharia als Gesetz eingeführt worden. Die Welt hat das nicht interessiert. Sie beschäftigte sich lieber mit Putin und der Frage, ob die Attentate in Moskau in Wahrheit nicht doch ein Täuschungsmanöver des russischen Geheimdienstes seien (Wer diese Art von Behauptungen im Zusammenhang mit Amerika und 9/11 aufstellt, wird zu Recht als Verschwörungstheoretiker belächelt).
Der Sturz von Saddam Hussein schließlich im Jahr 2003 – unter dem durchsichtigen Vorwand, er horte Massenvernichtungswaffen – schaffte ein Machtvakuum in der Region, in das die Islamisten einfielen. Der einst ebenfalls autokratisch und repressiv, aber immerhin weltlich regierte Irak wurde zur Drehscheibe der Gottesstaatler in Nahost.
Irak, Afghanistan, Libyen – und jetzt Syrien. Auch in dieses Vakuum dringen die Dschihadisten ein. Und die Welt hat zugesehen. Aus all diesen Ländern strömen heute hunderttausende von Flüchtlingen nach Europa. Und es werden mehr werden. Viel mehr.
Man muss kein Prophet sein, sondern die Sache nur nüchtern betrachten, um vorauszusagen: Jetzt wird Assad sich nicht mehr lange halten können, der Siegeszug der Islamisten im Nahen Osten ist unaufhaltsam. Das Morgenland, vor hundert Jahren von den einstigen Kolonialherren recht willkürlich zugeschnitten, wird nun erneut neu aufgeteilt werden: dieses Mal unter Islamisten. Was die gesamte Weltordnung erschüttern wird und ausstrahlen auf bisher – relativ gesehen – gemäßigte islamische Staaten wie die Türkei. Was wiederum ausstrahlen wird auf die islamistischen Communitys im Westen. Mitten unter uns.
Aber was sind die Gründe für diesen pervertierten Männlichkeitswahn? Denn es ist ja unübersehbar, dass diese waffenrasselnde Aufrüstung auch und vielleicht vor allem eine Reaktion auf die Emanzipation der Frauen ist. Es geht um Rekonstruktion von Männlichkeit in Zeiten, in denen marodierende junge Männer in Kairo wie Berlin arbeitslos sind und verunsichert.
Diese Männer machen sich zum Herrn über Leben und Tod. Sie zwingen aufgeklärte Männer auf die Knie und Frauen unter den Schleier, bis zur Unsichtbarkeit. Und das in den islamistisch beherrschten Ländern ebenso wie in den von Islamisten unterwanderten muslimischen Communitys in Europa.
Das Morgenland wird neu aufge-
teilt - unter Islamisten
Ich habe in den letzten 35 Jahren, seit meinem Besuch in Khomeinis Iran 1979, sehr viel darüber geschrieben. Darum möchte ich an dieser Stelle nur daran erinnern: Es geht hier nicht nur um den westlichen Feminismus, sondern auch um die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Westens bzw. der Sowjetunion – mit Siebenmeilenstiefeln fortgeschrittenen Frauenrechte in Ländern wie Iran, Ägypten, Tunesien oder Syrien. Nicht zufällig wurde in all diesen Ländern die Emanzipation der Frauen brutal gestoppt.
Genau an diesem Punkt müsste gegengehalten werden. Viel effektiver als mit Bomben bekämpft man den IS und seine bärtigen Brüder mit der Bildung und Gleichberechtigung der Frauen! Darauf könnten auch westliche Länder mit ihrer Entwicklungs- und Außenpolitik einwirken. Wenn sie nur wollten.
Dieser Kommentar ist am 9.10. geschrieben und am 17.10. zuletzt aktualisiert worden.
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Alice Schwarzer (Hg.): "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (2002) und "Die große Verschleierung - für Integration, gegen Islamismus" (2011), beide bei KiWi. Im EMMA-Shop bestellen