Es war eine europäische Premiere. Zum ersten Mal sprach ein deutscher Kriminalbeamter in Brüssel über das deutsche Prostitutionsgesetz und seine Folgen. Und auch wenn Kriminalhauptkommissar Helmut Sporer aus Augsburg seinen Vortrag in bayerisch-bedächtigem Tempo hielt, sorgte das, was er da berichtete, bei den Anwesenden für Beunruhigung. Nicht, dass die spezielle Rolle Deutschlands in Sachen Prostitution in den Nachbarländern nicht schon lange Irritation und Unverständnis ausgelöst hätte. Aber das Ausmaß des deutschen Sonderwegs nun aus erster Hand von einem zu hören, der tagtäglich mit den Folgen kämpft, ist für die rund 100 ZuhörerInnen im Saal ASP 1G2 des Europäischen Parlaments nun doch erschütternd.
„Ich habe die dramatischen Veränderungen hautnah erlebt“, sagt der Kommissar, der seit 22 Jahren vor Ort ermittelt. Zum Beispiel das „Weisungsrecht“ der Bordellbesitzer, die die MacherInnen des Prostitutionsgesetzes von 2002 als seriöse Arbeitgeber behandelt wissen wollten. Sporer erzählt vom Augsburger „Colosseum“, einem der vielen neuen Großbordelle, die nach 2002 entstanden sind. Arbeitszeiten und Tarife wurden vorgegeben, die Frauen durften nur nackt herumlaufen und nicht telefonieren. „Da ist eine neue Form der Sklaverei unter staatlicher Aufsicht entstanden“, klagt Sporer.
Er erzählt auch von der „Frauenhandelsindustrie“ die sich entwickelt hat, mit kleinen und großen Händlern. „Die Bordelle bestellen Frauen wie aus dem Katalog.“ Gern bei Männern wie dem ungarischen Fremdenlegionär, den die Augsburger Kripo vor kurzem endlich verhaften konnte. Solche Verhaftungen sind allerdings selten, denn es sei „sehr schwierig herauszufinden, ob eine Frau freiwillig da ist oder nicht“. Und das, obwohl die 270.000-EinwohnerInnen-Stadt 30 Ermittler in Sachen Menschenhandel hat. Das ist viel. Gleichzeitig ist aber in den letzten zehn Jahren die Zahl der Prostituierten in Augsburg um 30 Prozent gestiegen, auf rund 1.500 bis 2.000 im Jahr. Ganz genau lässt sich das aber nicht sagen, denn Prostituierte in Deutschland sind nirgendwo gemeldet. „Sie sind vogelfrei“.
Und noch eine Entwicklung gebe es zu verzeichnen: „Die Nachfrage nach jungen, kindlichen Frauen steigt. Die Bordelle ordern Frauen mit Größe 32 oder 34 und im Internet gibt es Hitlisten“. Gleichzeitig sei ein neuer Typus Freier unterwegs: Der „selbstbewusste, der Prostitution nicht mehr peinlich, sondern cool findet. Die Botschaft, dass Prostitution ein Job wie jeder andere ist, hat ihre Wirkung nicht verfehlt“, sagt Kommissar Sporer. „Und die Frauen sind die Verliererinnen dieser Entwicklung.“ Sein Fazit: „Der Richtungswechsel in der deutschen Prostitutionspolitik war ein Irrweg.“
Schweden hat bekanntlich einen ganz anderen Weg eingeschlagen als Deutschland, und Simon Häggström beschreibt eindrücklich, wohin der geführt hat. Zahlreiche Mythen rankten sich um das Schwedische Modell, sagt der junge, dunkelhäutige Mann von der Stockholmer Kripo ironisch. Und entmystifiziert einen nach dem anderen. Hauptmythos: Das schwedische Gesetz, das Sexkauf unter Strafe stellt, nütze gar nichts, weil die Prostitution dann in die Illegalität untertauche. Die Frauen ständen dann eben nicht mehr auf dem Straßenstrich, sondern böten sich im Internet feil. „We are not stupid!“ sagt Simon Häggström und erntet damit trotz des ernsten Themas einen Lacher. Selbstverständlich durchstöbert auch die schwedische Polizei, wie jeder Freier, das Netz nach entsprechenden Angeboten. „Da gibt es Telefonnummern, E-Mails und Adressen“, erklärt Häggström. „Und denen gehen wir nach.“ Taucht dann an der Tür des ermittelten Apartments ein Freier auf, der mit der Frau über den Preis bestimmter „Leistungen“ verhandelt, wird er von den PolizistInnen gestellt. Gibt er seine Absicht zu, muss er eine Geldstrafe zahlen. Wenn nicht, gibt es ein Gerichtsverfahren. Taucht danach noch einer auf, der abkassieren will, wird er verhaftet.
Die Frau jedoch, die in Schweden keinerlei Verfolgung zu befürchten hat, wird, wenn sie das möchte, an die spezialisierten Stockholmer SozialarbeiterInnen vermittelt. Der Freier übrigens auch. „Die Sozialarbeiter arbeiten auch mit den Freiern. Es gibt durchaus eine Menge Männer, die sich nicht gut damit fühlen, dass sie Frauen kaufen.“ In Schweden sind 75 Prozent der Männer und 93 Prozent der Frauen für das Sexkauf-Verbot.
„Mit einem einzigen Einsatz haben wir einen Sexkäufer verhaftet, einen Zuhälter verhaftet und eine Frau an das Sozialzentrum für Prostituierte vermittelt. Dafür haben wir eine halbe Stunde und zwei Polizisten gebraucht.“ Der Mythos, dass die Polizei für die Durchsetzung des Anti-Sexkauf-Gesetzs Unmengen an Personal benötige, ist damit ebenfalls vom Tisch.
Nur ein Mythos entspreche tatsächlich der Realität, nämlich: Freier weichen ins Ausland aus. „Das stimmt“, sagt der Stockholmer Kommissar. Und genau deshalb wünscht er sich, „dass mehr Länder das Schwedische Modell übernehmen“.
Tosender Applaus.
Ob weitere europäische Länder sich entschließen werden, Prostitution als Verstoß gegen die Menschenwürde und die Gleichheit der Geschlechter zu betrachten, darum geht es an diesem 1. Oktober in Brüssel. Schon im Februar 2013 hatte das Europäische Parlament in einer Resolution zur „Eliminierung und Prävention aller Formen von Gewalt gegen Frauen“ erklärt, dass es Prostitution als genau das betrachtet: als Gewalt gegen Frauen. Jetzt beschäftigt sich eine Kommission des EU-Parlaments noch einmal ausführlicher mit der Frage, was Prostitution bedeutet – für die Prostituierten und für die Gesellschaft.
„Sexuelle Ausbeutung, Prostitution und ihre Auswirkungen auf die Gleichheit der Geschlechter“ heißt der Report, den die ParlamentarierInnen-Gruppe bis Jahresende vorlegen soll. Leiterin der Kommission ist die britische Sozialdemokratin Mary Honeyball, und für sie ist die Sache klar: „Wenn wir in einem Europa leben wollen, in dem Frauen sich sicher und respektiert fühlen, müssen wir Prostitution abschaffen und eine Kultur schaffen, in der es weder akzeptiert noch erlaubt ist, den Körper eines anderen Menschen zu kaufen“, sagt Honeyball.
Die Labour-Abgeordnete ist eine von inzwischen 53 EU-ParlamentarierInnen, die den „Brüsseler Aufruf“ unterzeichnet haben: „Für ein Europa ohne Prostitution“. Der Appell, der im Dezember 2012 von der Europäischen Frauenlobby lanciert wurde (EMMA 2/2013), fordert die völlige Entkriminalisierung der Prostituierten inklusive Ausstiegsprogramme sowie die Bestrafung der Käufer der Ware Frau. Auch zwei deutsche Politikerinnen haben den Aufruf unterzeichnet: Silvana Koch-Mehrin, FDP, die schon 2008 für gewaltigen Aufruhr sorgte, als sie ihre Kollegen dafür kritisierte, bei ihren Sitzungen in Straßburg ebenso selbstverständlich wie massenhaft Prostituierte in Anspruch zu nehmen. Und Franziska Brantner von den Grünen, die sich damit couragiert gegen den offiziellen Kurs ihrer Partei stellt, die trotz der Katastrophenmeldungen aus den Rotlichtbezirken immer noch an ihrem Credo vom „Beruf wie jeder andere“ festhält.
Dass es das nicht ist, davon erzählen an diesem Morgen drei, die es wissen müssen. Rachel Moran aus Dublin hat sieben Jahre lang als Callgirl gearbeitet, also in dem Bereich der Prostitution, der als der sicherste und sauberste gilt. Einen Zuhälter hatte sie nicht. Dennoch erklärt sie: „Was der Freier kauft, ist nicht Sex, sondern sexueller Missbrauch.“ Die heute 26-Jährige, die mit 15 in die Prostitution ging, hat mit ihrem Blog „The Secret Diary of a Dublin Callgirl“ (Das geheime Tagebuch eines Dubliner Callgirls) große Aufmerksamkeit erregt und gerade ein Buch über ihre Geschichte geschrieben: „Paid for. My Journey Through Prostitution“ schoss auf die Bestsellerliste und Moran wurde zum Gesicht der irischen „Turn off the Red Light“-Kampagne, einem Anti-Prostitutions-Bündnis aus 43 Organisationen vom Gewerkschaftsbund bis zum Flüchtlingsrat. Im August empfahl der Justizausschuss des Parlaments, das Schwedische Modell zu übernehmen.
Auch Frankreich scheint kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Bis dato stand auf der Kippe, ob der Gesetzentwurf, den die sozialistische Frauenministerin Najat Vallaud-Belkacem für Herbst angekündigt hatte, auch die Freierbestrafung enthalten würde. Die Antwort lautet: Ja. Alle Parteien, bis auf die in Frankreich in dieser Frage gespaltenen Grünen, haben ihre Zustimmung signalisiert. Ganz wie in Irland hatten sich auch in Frankreich rund 40 Frauenorganisationen zum Bündnis „Abolition2012“ zusammengetan und eine Wende in der Prostitutionspolitik gefordert. Ihre beharrliche Überzeugungsarbeit hat Früchte getragen.
Das ist auch Frauen wie Laurence Noëlle zu verdanken, die an diesem Morgen sichtlich berührt zum Publikum spricht. Die 47-jährige Französin hat sich seit ihrem 18. Lebensjahr prostituiert, ist mit Hilfe des „Mouvement du Nid“ ausgestiegen und sorgt gerade mit ihrem Buch „Renaître de ses hontes“ (Wiedergeboren aus der Scham) dafür, dass das Oh lá lá-Bild der Prostitution in Frankreich sich weiter verdüstert. „Ich säße heute nicht hier“, sagt sie, „wenn nicht Menschen wie Sie erkannt hätten, dass Prostitution Gewalt ist“.
Die Stimmen der (Ex)-Prostituierten, die in der Debatte so lange viel leiser waren als die der Prostitutionslobby, werden zunehmend lauter. Und auch an der Basis melden sich immer mehr Initiativen zu Wort, die nicht nur die Bestrafung der Menschenhändler und Profiteure, sondern auch der Freier fordern. So lancierte in Österreich die „Initiative Stopp Sexkauf“, initiiert von der Journalistin und Filmemacherin Susanne Riegler, den „Wiener Appell“: „Prostitution ist ein System, das Menschen (in der Regel Männern) das Recht einräumt, andere Menschen (mehrheitlich Frauen) zu kaufen, um über deren Körper zu verfügen“, heißt es darin. „Dieses ‚Recht‘ – angeblich eines der ältesten der Welt – verursacht Frauenhandel in einem nie dagewesenen Ausmaß und schafft einen Markt, auf dem die Zuhälter immer mehr Macht haben und immer höhere Profite erzielen. Damit verbunden sind Gewalt, Erniedrigung, Belästigung, Vergewaltigung und Zwangsarbeit.“ Deshalb fordert auch der „Wiener Appell“ das Schwedische Modell: Ein Verbot des Sexkaufs, denn: „Es ist der einzig mögliche Weg, dass Frauen und Männer in einer gleichberechtigten Gesellschaft koexistieren können.“ Über tausend Frauen und Männer haben den Appell auf change.org bisher schon unterzeichnet.
In Deutschland startete Solwodi die Unterschriftenkampagne „Mach den Schlusstrich!“ „Unterschreiben Sie für ein Verbot von Sexkauf, gegen den Handel mit Frauen als Ware und damit für ein gleichberechtigtes Miteinander von Mann und Frau“, fordert die von Lea Ackermann gegründete Organisation, die seit 26 Jahren Opfer von Frauenhandel begleitet.
Spätestens wenn im Januar 2014 das EU-Parlament Mary Honeyballs Bericht annimmt und damit eine klare Richtung in der europäischen Prostitutionspolitik vorgibt, wird auch die – neue – deutsche Regierung handeln müssen. Wir dürfen gespannt sein.
„Warum kaufen Männer Sex?“ hatte der Stockholmer Kommissar Simon Häggström am Ende seines Vortrags gefragt und eine einfache Antwort gegeben: „Weil sie es können.“