Bill Cosby: Magazin auf Seite der Opfer
Das erste, was ins Auge fällt, ist die Unterschiedlichkeit der Frauen. 35 sind es, alle Typen vertreten: Weiße wie Schwarze, Blonde wie Braunhaarige, Kräftige wie Zarte. Sie alle sind - aufrecht auf einem Stuhl sitzend - zu sehen auf dem aktuellen Cover des New York Magazines. Die Knie wie zum Schutz gegeneinander gedrückt, die Hände abwehrbereit auf den Oberschenkeln. Und sie alle haben etwas gemein: Sie beschuldigen den Schauspieler und Entertainer, das nationale Idol, Bill Cosby der Vergewaltigung. Titel: „Cosby: Die Frauen. Eine unerwünschte Schwesternschaft“
Bill Cosby: Ein Vater, wie ihn sich alle Kinder wünschen
Das Zweite, was ins Auge fällt, ist Stuhl Nummer 36. Der ist leer. Symbolisch für all die Frauen, die es bisher noch nicht gewagt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. In Sachen Cosby – oder auch in einem anderen Fall. Denn dafür steht der Stuhl: Für das Schweigen der Opfer. In diesem und in vielen anderen Vergewaltigungs-Fällen.
Das Dritte, was ins Auge fällt, sind die Fotos des US-Schauspielers selbst. Dieses kalte Gesicht, dass so gar nicht zu dem verschmitzen All-American-Dad passt, den wir aus der beliebten Fernsehserie „Die Bill Cosby Show“ kennen. Auch in Deutschland wurde das Leben der Großfamilie Huxtable mit Begeisterung verfolgt in den 80er und 90er Jahren.
Diese Serie über eine Arzt-Familie aus dem gehobenen amerikanischen Mittelstand war damals eine Sensation. Sie war nicht nur unterhaltsam, sondern auch eine kleine Kulturrevolution: So selbstverständlich war eine schwarze Familie bisher im amerikanischen Fernsehen noch nie gezeigt worden. Im Zentrum der Serie: Bill Cosby als Cliff Huxtable. Witzig, charmant, gütig. Ein Vater, wie ihn sich alle Kinder wünschen. Ein Vater, dem man niemals zutrauen würde, dass ...
Dem würde man doch niemals zutrauen, dass ...
Das ist die bittere Message von #TheEmptyChair - so lautet der Hashtag, unter dem Männer und Frauen seit heute die Story im New York Magazine diskutieren: Auch nette Männer vergewaltigen Frauen. Aber den missbrauchten Frauen will allzu oft niemand glauben.
Ganz ähnlich lief das auch im Fall Cosby. Der hatte die Vorwürfe in der Vergangenheit immer bestritten. Als sich im November 2014 zum wiederholten Mal ein Opfer öffentlich zu Wort meldete, glaubte Cosbys Anwalt noch, das ganze damit abtun zu können, es handele sich um „jahrzehntealte, diskreditierende Behauptungen". Und: "Dass sie wiederholt werden, macht sie nicht wahrer." Bis zuletzt hatte Cosby bekannte Fürsprecherinnen, darunter ausgerechnet die Feministin Whoopy Goldberg - sie hat sich inzwischen von Cosby distanziert.
Auch Cosbys Frau Camille, mit der er seit 50 Jahren verheiratet ist, hatte noch im Dezember 2014 erklärt: „Er ist ein freundlicher Mann, ein großherziger Mann, ein lustiger Mann und ein wundervoller Ehemann, Vater und Freund." Sie behauptete, die Anschuldigungen seien erfunden. Es sei ein Skandal, dass die Medien den mutmaßlichen Opfern eine Plattform böten, ohne den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu überprüfen.
Nun, das New York Magazine wollte es genau wissen. Die Journalisten begannen, zu recherchieren. Zu diesem Zeitpunkt waren 20 Frauen bekannt, die dem Entertainer Vergewaltigung vorwarfen. Die meisten erzählten die immer gleiche Geschichte: Cosby, der zunächst als ihr Förderer auftrat, habe sie mit Medikamenten betäubt und dann vergewaltigt. Inzwischen sind es über 40 Frauen, die den Nationalhelden beschuldigen. 35 von ihnen zeigen im New York Magazine ihr Gesicht.
Das Magazin begann zu recherchieren, 6 Monate lang
Und das ist das Vierte, was ins Auge fällt: Die Recherche. Nach eigenen Angaben saß das Magazin über sechs Monate lang an der Rekonstruktion der Geschichten von Frauen wie Chelan Lasha, die angibt, 1980 von Cosby vergewaltigt worden zu sein. Sie hat 35 Jahre lang geschwiegen und sagt heute: „Ich habe keine Angst mehr! Ich fühle mich heute mächtiger als er!“
Oder das Model Beverly Johnson, eines der Opfer aus dem Jahr 1980. Sie sagt: „Das, worauf ich nicht vorbereitet war, ist der Ansturm der Frauen, die belästigt worden sind – und die mir ihre Geschichte erzählen, weil ich ihnen meine erzählt habe.“ Oder auch Louisa Moritz, betroffen im Jahr 1971: „Ich habe mich geschämt. Es war mir peinlich, ich zu sein.“
Das New York Magazine geht nicht zufällig jetzt mit dem Skandal an die Öffentlichkeit: Erst kürzlich zitierte die New York Times aus einer tausend Seiten starken Gerichtsakte aus dem Jahr 2005, die belegt, dass Cosby damals schon zugegeben hatte, 1976 eine Frau mit dem Beruhigungsmittel „Quaaludes“ betäubt zu haben, um mit ihr Sex zu haben. Der Prozess endete 2006 mit einem Vergleich.
Die aktuelle Präsentation des Vergewaltigungsskandals in dem renommierten Blatt zeigt, wie sich der Umgang von Frauen und Medien mit dem Vorwurf der Vergewaltigung verändert hat. Das New York Magazine spricht von einer „Langzeitstudie“ zu dem Problem der sexuellen Gewalt.
Davon können Frauen in Deutschland bisher nur träumen: Dass eine Zeitschrift - außer EMMA - mit einem solchen Engagement und Aufwand sechs Monate lang die Vorwürfe der Vergewaltigung gegen einen mächtigen Mann selbst recherchiert. Im Land der „Opferindustrie“ (Jörg Kachelmann), in dem das Wort „Falschbeschuldigerin“ sich wie selbstverständlich seinen Weg in die Umgangssprache gebahnt hat, warten Kinder und Frauen darauf bisher vergebens. Im Gegenteil: Raum bekommen vor allem die armen Männer, die angeblich andauernd von verlogenen rachsüchtigen Kindern und Frauen unschuldig vor Gericht gezerrt werden.
Davon können die deutschen Frauen nur träumen
Doch die Wucht, mit dem das Titelbild des New York Magazines in Amerika einschlägt, zeigt, wie wichtig es ist, dass die Betroffenen nicht nur Gehör finden, sondern dass auch die Medien sie ernst nehmen - und dass die viel zitierte "Unschuldsvermutung" für das mutmaßlich Opfer ebenso gilt, wie für den mutmaßlichen Täter. Und vor allem: Dass die Medien auch in Fällen sexueller Gewalt ein eigenes Interesse an Aufklärung und Wahrheit haben.
Denn selbst wenn die meisten Vergehen, die Cosby heute vorgeworfen werden, juristisch mittlerweile verjährt sind, sind sie moralisch gültig bis zum Tod der Opfer. Jetzt hat das New York Magazine den noch lebenden Opfern eine Stimme gegeben - und recherchiert weitere Opfer. Für den leeren Stuhl.