Doch wo sind die Väter?
Sie haben begonnen, sich mit dem Thema "Mütter, die töten" zu beschäftigen, als Ihnen im Gefängnis auffiel, dass sich die sogenannten Kindsmörderinnen besonders angepasst verhalten.
Viele Leute, die man im Gefängnis trifft, haben ein Verhalten und ein Erscheinungsbild, bei dem man sich vorstellen kann, dass sie mal irgendwo angeeckt sind. Diese Frauen wurden aber von den anderen extrem geschnitten und waren gleichzeitig so unauffällig, brav und angepasst, dass ich mich manchmal gefragt habe: Wie kommen die hier rein? Auf den ersten Blick hätten sie genauso gut bei einem Mütter-Kaffeekränzchen dabei sein können. Das war ein Widerspruch, der mir auffiel und über den ich nachgedacht habe.
Gibt es klassische Konstellationen, in denen Mütter ihre Neugeborenen unversorgt lassen, sie aussetzen oder umbringen?
Es gibt zwei Grundmuster, die man bei der Tötung eines Neugeborenen nach der Geburt immer wieder vorfindet. Da sind einmal die sehr jungen Frauen, die einem starken Druck vom Elternhaus ausgesetzt sind. In den letzten Jahren waren das immer wieder auch muslimische Mädchen, in deren Familien eine Schwangerschaft eine große Schande ist. Die Mädchen sind oft nur rudimentär aufgeklärt und kennen den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft gar nicht. Die zweite Konstellation sind Frauen, die in einer festen Beziehung leben, in der es möglicherweise durchaus schon Kinder gibt. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt kommt vom Mann das klare Signal: "So, jetzt ist es aber mal gut, mehr Kinder kommen nicht in Frage!" Das müsste dann konsequenterweise zur Folge haben, dass man sich Gedanken über das Thema Verhütung macht. Damit werden die Frauen aber in der Regel alleingelassen. Da gibt es eine gewaltige Sprachlosigkeit. Wenn es dann wieder zu einer Schwangerschaft kommt, müsste die Frau den Erzeuger jetzt damit konfrontieren, dass sie schwanger ist und entweder das Kind oder eine Abtreibung will. Aber das ist unvorstellbar, weil sie es nicht wagt. Weil es sich um einen Frauentypus handelt, der in keiner Weise fordernd oder selbstbestimmt auftritt.
In dem aktuellen Fall in Wenden hat eine Frau drei Babys nach der Geburt getötet oder nicht versorgt. Später hat sie dann aber drei Kinder zur Welt gebracht und aufgezogen.
Die Tatsache, dass diese Frau später drei Kinder hat leben lassen, ist ein starkes Indiz dafür, dass sie im Grunde einen ausgeprägten Kinderwunsch hatte, sich aber in der fraglichen Situation nicht getraut hat, ihn umzusetzen. Sie hat ja zum Zeitpunkt der Taten schon mit ihrem Ehemann gelebt. Wobei es mir ein großes Rätsel ist, wie man es hinkriegt, einen immer dicker werdenden Bauch der Frau an seiner Seite komplett zu ignorieren. Diese Frage wird aber den Vätern bisher nicht gestellt.
Gibt es eine gesetzliche Handhabe, auch die-Väter zur Verantwortung zu ziehen?
Aus meiner Sicht: durchaus. Zum einen haben wir im Strafrecht die Rechtsfigur der sogenannten "Garantenpflicht", die man für Personen des nahen Umfeldes hat. Das heißt: Wenn ein naher Angehöriger in Gefahr ist und ich unternehme nichts, dann ist das ein Gesetzesverstoß. Denn ich habe durch die Lebensgemeinschaft die Garantenpflicht für sein leibliches Wohl. Und so hätte ein Vater die Pflicht, für das Leben seiner Frau und dieses Kindes einzutreten. Wenn ein Mann seine Frau mit dem Neugebotenen auf dem Sofa sitzen sieht, dann ist doch klar, dass ein Kind unmittelbar nach der Geburt Hilfe braucht. Hat der Mann zudem der Frau Druck gemacht und gedroht, dass ihm ein weiteres Kind nicht ins Haus kommt, dann ergibt sich aus diesem Zusammenspiel einfach die Verpflichtung zum Handeln. Aber natürlich auch in anderen Fällen: Wenn ein dicker Bauch - den man sich ja, wenn man sehr naiv ist, noch mit zu viel Essen erklären könnte - plötzlich wieder verschwunden ist, und das womöglich sogar mehrfach. Außerdem sehe ich rechtliche Hebel, die Väter zur Verantwortung zu ziehen, über die "Mittäterschaft" oder über die "Beihilfe".
"Es ist mir ein Rätsel, wie man den dicken Bauch der Frau an seiner Seite komplett ignorieren kann."
Warum werden diese Gesetze dann nicht angewandt?
Auch das ist mir ein Rätsel. Man fokussiert die Frau als Täterin, die Rolle des Vaters wird gänzlich ausgeblendet. Er erklärt einfach, er habe nichts mitbekommen und wird in Ruhe gelassen. Gut, wir haben im Strafrecht auch den Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten". Aber da müssen doch auch Wahrscheinlichkeiten herangezogen werden, die einfach lebensnah sind. Aber es ist ja kein Zufall, dass die Väter hier so außen vorgelassen werden.
In Ihrem Buch erklären Sie das mit dem "Muttermythos".
Eine Frau, die sich entschließt, das Leben, das in ihrem Leib herangewachsen ist, zu töten, bricht damit das größtmögliche Tabu. Die Mutter gilt als die Lebensspenderin schlechthin und wird mit Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Nestwärme verbunden. Wenn eine Frau ihr Neugeborenes nicht leben lässt, dann verstößt sie damit gegen alles, was mit dem gesellschaftlichen Mutterideal verbunden ist. Darum konzentriert sich alles sehr schnell auf die Frau und ihre Rolle. Das gesamte Umfeld wird ausgeblendet. Und der Druck, der von diesem Umfeld ausging, der wird auf merkwürdige Weise außen vorgelassen. Oft wird ja sogar so getan, als ob die Väter gestraft wären, weil sie so eine Monstermutter zur Partnerin haben. Der Vater wird auch noch als Opfer gesehen, dem die Kinder genommen wurden. Ich habe aber schon mehrfach erlebt, dass gerade Väter, die zuvor deutlich signalisiert hatten, dass sie die Kinder nicht wollen, sich anschließend vor die Presse stellen und Sätze sagen wie: "Fürchterlich, ich hab davon nichts mitbekommen, und jetzt sind meine Kinder tot." Und niemand widerspricht, anstatt die Rolle des Vaters genau zu analysieren.
Wenn Väter ihre Kinder töten, dann geschieht das quasi immer als Akt der Misshandlung. Wenn Mütter ihre Babys töten, scheint das in der Regel anders zu sein.
Das stimmt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob selbst in dem Tötungsakt noch ein Akt der Fürsorge enthalten sei. Da gibt es ganz abstruse Beispiele: Die Mutter erstickt das Kind mit einer Decke, die sie vorher noch angewärmt hat. Durch diese Art der Tötung wird deutlich, dass die Frauen am liebsten das Kind behalten und großgezogen hätten, wenn nicht alle Umstände dagegengesprochen hätten. Deshalb muss man auch sehr sorgfältig differenzieren zwischen Müttern, die ihr Neugeborenes nicht leben lassen und solchen, die ihre Kinder misshandeln. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.
Aber es gibt doch auch die Fälle, in denen die Frau gar nicht erst eine Bindung zum Fötus entwickelt, weil sie die Schwangerschaft völlig verdrängt hat.
Das passiert oft aus Selbstschutz. Und auch nach der Geburt ist oft nur das Gefühl präsent: "Weg, weg, das Kind muss weg, bevor hier alles auffliegt und die Bombe hochgeht." Und dieses "Weg!" ist oft so stark, dass das Kind am besten gar nicht erst angeguckt, sondern gleich in den nächsten Mülleimer gesteckt wird. Ich will das alles auch gar nicht beschönigen, aber ich denke: Man kann nur dann etwas verändern, wenn man den Fokus auch auf die Verzweiflung der Mütter lenkt. Wir müssen versuchen zu begreifen: Was bringt die Frauen zu dieser Tat?
"Man fokussiert die Frau als Täterin, die Rolle des Vaters wird gänzlich ausgeblendet."
Ebenso wie die Rolle der Väter in den Prozessen unberücksichtigt bleibt, scheint auch die Verzweiflung der Mütter in den Gerichtsurteilen kaum eine Rolle zu spielen.
Von vielen Verfahren, die ich in den letzten Jahren beobachtet habe, habe ich in der Tat den Eindruck, dass diese Umstände zu wenig einfließen. Das Gericht müsste sich anschauen: Was hat dieser enorme Druck, den der Mann der Frau gemacht hat und der ja manchmal mit massiven Drohungen verbunden ist, bei ihr angerichtet? Aber das wird in vielen Urteilen mit einem Federstrich weggewischt. Dabei muss das bei der Strafzumessung eigentlich berücksichtigt werden. Deshalb werden diese Urteile den Frauen selten gerecht. Übrigens wollen die Frauen durchaus bestraft werden. Es gibt ja im Strafrecht auch die Möglichkeit, von Strafe abzusehen, wenn der Täter durch die Tat selbst ausreichend bestraft ist. Das könnte man hier theoretisch anwenden, aber die Frauen möchten das gar nicht
Müsste also, nachdem der §217 zum "Kindsmord", also der Tötung nach der Geburt, vor zehn Jahren abgeschafft wurde, doch wieder ein spezieller Straftatbestand eingeführt werden?
Der §217 ist schon 1871 bei Reichsgründung ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Er galt nur für unverheiratete Frauen, für die ein uneheliches Kind eine große Schande bedeutete. Hinzu kam, dass man die hormonellen Einflüsse während der Geburt berücksichtigt hat, die Panikreaktionen begünstigen. Das alles hat dann dazu geführt, dass man gesagt hat: Die Tötung eines Neugeborenen ist nicht zu vergleichen mit einem "normalen" Totschlag. Seit der Abschaffung des §217 im Jahr 1998 wird die Kindstötung gleichgesetzt mit jedem anderen Totschlagsdelikt. Theoretisch hätten die Richter zwar die Möglichkeit, die besonderen Umstände einfließen zu lassen. Aber de facto wird das eben nicht oder kaum gemacht. Von daher sollte man ein Gesetz mit einem Kriterienkatalog formulieren, in den das ganze Wissen und die Erkenntnisse über diese Taten aufgenommen werden. Richtern und Staatsanwälten muss dieses Wissen ganz anders präsent sein. Sie müssten abfragen: Hat es einen besonderen Druck gegeben? Wurde die Mutter bedroht? Es ist eigentlich nicht zwingend, einen gesonderten Paragrafen dafür zu schaffen, aber es wäre hilfreich. Denn wir beobachten, dass gerade in diesen Prozessen häufig vorschnell über wichtige Faktoren hinweggegangen wird – in dem Bestreben, die Mütter abzustrafen.
Annegret Wiese