Werden die Kurdinnen betrogen?

Leila Mustafa ist Ingenieurin und Co-Bürgermeisterin von Rakka. Foto: PJF Military Collection / Alamy Stock Photo
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Die nordsyrische Stadt Manbidsch war fast drei Jahre lang eines der Zentren der brutalen islamistischen Unterdrückung durch Terroristen des selbsternannten „Islamischen Staates“. Diese strategisch enorm wichtige 100.000 Einwohnerstadt geriet – und gerät – während des nun schon fast sieben Jahre dauernden syrischen Bürgerkrieges immer wieder zum Schauplatz heftiger Kämpfe. Doch das mit Abstand dunkelste Kapitel dauerte vom Januar 2014 bis zum August 2016: Dschihadisten aus der ganzen Welt, vor allem aus Großbritannien, tyrannisierten die Bevölkerung. In diese für den „IS“ so wichtige Stadt wurden Elite-Truppen der Terrormiliz stationiert.   

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Die Befreiung der Stadt wurde dann zu dem Symbol des Widerstands. Die Fotos der Mädchen und Frauen, die ihren Tschador verbrannten, und der Männer, die ihren Bart abschnitten, gingen um die Welt. Kämpfer der von den USA unterstützten „Syrischen Verteidigungsein­heiten“ (SDF) konnten Manbidsch von der Terrormiliz befreien. Dominiert wird diese Anti-IS-Einheit von der kurdischen Miliz YPG („Volksverteidigungseinheiten“) und von deren weiblichen Pendant, der YPJ („Frauenverteidigungseinheiten“).

Wo Dschihadisten Frauen entrechteten, stehen heute die Zeichen auf Gleichberechtigung.

Unter dem Einfluss der kurdischen Milizen, die die Stadt vom „IS“ befreit hatten, änderten sich die Vorzeichen: weibliche Polizisten, ein Frauenhaus und Kurse für Frauen in Sachen Frauenrecht sorgten für eine schlagartige Änderung des Alltags.

Die 19-jährige Khmar Sharif ist seit drei Monaten Polizistin in Manbidsch. „Das war eine große Umstellung. Mein Bruder und mein Vater waren Anhänger des ‚Islamischen Staates‘. Aber jetzt bin ich stärker als sie“, sagt sie und triumphiert: „Wir schützen Frauen, sind im Einsatz bei häuslicher Gewalt.“ Ihr Kopftuch hat diese junge Frau nach ihrer Befreiung nicht abgelegt. „Meine Haare nicht zu zeigen, ist Teil meiner Tradition, meiner Identität“, sagt sie. „Doch das ist kein Zeichen von Ungleichheit für mich. Ich bin Teil der Sicherheitskräfte meiner Heimat und verteidige meine Stadt.“

Die Polizistin Sharif (vorne) mit Kommandantin Hammo (2. v.li). Foto: Petra Ramsauer
Die Polizistin Sharif (vorne) mit Kommandantin Hammo (2. v.li). Foto: Petra Ramsauer

Die Zeit unter „Daesch“ – wie Khmar die Terrormiliz auf Arabisch nennt – sei ihr eine Lehre fürs Leben gewesen. „Niemals darf sich diese Unterdrückung wiederholen.“ Und ihre Kommandantin, Mariam Hammo, fügt hinzu: „Zu unseren wichtigsten Aufgaben zählt der Schutz von Frauen gegen Gewalt in den Familien.“ Die Frauen haben als Polizistinnen-Einheit eine eigene Aufgabe in dem neuen System. Dafür werden nun auch Frauenhäuser errichtet. „Es gab so unendlich viel Gewalt, als die Islamisten an der Macht waren. Wir brauchen noch sehr lange, bis wir uns von deren Version des ‚richtigen Islams‘ erholen“, sagt die Kommandantin. „Vor allem von jener verrückten Version, die Europäer hier eingeschleppt haben.“

Bekanntermaßen waren nicht nur Männer angereist, um Syrien ein barbarisches islamistisches Diktat aufzuzwingen, sondern auch Frauen. Unter den europäischen IS-Einwanderern war jeder Zehnte eine Frau. „Die Frauen, die aus Europa kamen, gehörten hier zur Religionspolizei. Die kannten kein Pardon. Einer Freundin verrutschte ein Ärmel, da sah man ihr nacktes Handgelenk. Die Polizistinnen versetzten ihr einen Stromschlag“, erzählt Nerges Ismail, eine junge Frau aus Manbidsch. Und sie fährt fort: „Ich war 19 Jahre alt, als sie kamen und hatte begonnen, Wirtschaft zu studieren, als die Terrormiliz meine Stadt besetzte, und ich eine Gefangene im Haus meiner Eltern wurde. An einem Tag wachte ich auf und wollte unverschleiert auf die Straße laufen. Ich sagte zu meiner Mutter: Sollen sie mich doch erschießen, dann bin ich wenigstens frei.“ Die Mutter überzeugte ihre Tochter, im Haus zu bleiben, Nerges überlebte.

Heval Nesrin: Warum kamen Frauen aus Deutschland, um uns diesen Horror aufzubürden?

Der Sieg über die Terrormiliz in Manbidsch wie im Rest Syriens sei vor allem deshalb möglich gewesen, weil die Frauen gekämpft haben, statt still zu halten, sagt Heval Nesrin. Noch einmal lässt die Soziologin für mich den Alltag im Terror­regime Revue passieren. Vor der Insel im Kreisverkehr des Stadtzentrums bleiben wir kurz stehen. „Hierher brachten sie ein Gerät aus den Tierverarbeitungsbetrieben, eines, mit dem Häute abgezogen werden. Damit folterten sie die Menschen. Vor Publikum.“

Ihre Gefasstheit trotz solcher Erinnerungen trägt die 43-Jährige sehr bewusst zur Schau. „Es ist auch mein ganz persönlicher Sieg, dass die Extremisten der Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ heute in weiten Teilen Syriens besiegt ist“ sagt sie. „Was ich aber niemals verstehen werde, sind die Frauen, die da mitgemacht haben. Warum kamen die aus Europa, aus Deutschland, um uns diesen Horror aufzubürden?“

Ab 2014 hatten die Dschihadisten ihren Feldzug in Syrien gestartet, nahmen die Hälfte des Staates ein. Das Frau-Sein kam einem Verbrechen gleich: Ausgehen war nur in Ausnahmefälle erlaubt, und nur, wenn Frauen von Kopf bis Fuß in schwarze Tücher gehüllt waren. Jedes Vergehen, auch gegen die Kleiderordnung, zog brutale Körperstrafen nach sich, Auspeitschung, Folter. Heval Nesrin: „Doch wir waren nicht nur Opfer, sondern auch der Anfang vom Ende dieser Terroristen hier in Syrien.“

Heval Nesrin ist Soziologin und stramme Öcalan-Anhängerin. Foto: Petra Ramsauer
Heval Nesrin ist Soziologin und stramme Öcalan-Anhängerin. Foto: Petra Ramsauer

Wer nun an der Verkehrsinsel entlanggeht, die einst Schauplatz des Grauens war, entdeckt an dem hellblau gestrichenen Zaun verwitterte Poster im A4-Format. Sie zeigen lächelnde junge Frauen im Kampfanzug vor idyllischen Landschaftsaufnahmen. „Das sind einige von unseren Kämpferinnen; gefallen im Kampf gegen die Terror-Milizen,“ sagt Nesrin. Die Soziologin führt nun nach ihrer Façon diesen Feldzug weiter, sie gibt an einer der neu geschaffenen Frauenakademien Kurse in Sachen Selbstwertgefühl für Frauen.

„Als Frau bin ich höchstens so viel Wert, wie die Kuh, die im Stall steht. Davon war ich früher felsenfest überzeugt“, sagt die 31-jährige Rana, die einen dieser Kurse von Nesrin besucht hat. Für sie als Araberin sei es zunächst sehr schwer gewesen, mit den Ideen ihrer kurdischen Lehrerin mitzuhalten. „Die Gewalt der IS-Terroristen war ja nur die schlimmste Phase von Unterdrückung, der die Frauen hier seit Generationen ausgesetzt sind. So war eben unsere Kultur.“ Es sei für sie noch heute schwer, das hier Gelernte mit ihrer Religion und Tradition zu vereinbaren.

Überall in den von den kurdischen Milizen gehaltenen Gebieten Syriens finden seit Monaten solche Kurse statt. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass eine Frau einen Job bei den Polizei-Kräften, in einer Behörde oder als Lehrerin bekommt. Die Kurse richten sich einzig auf die Bildung von Frauen, ähnliche Angebote für Männer sind erst in Planung.

Rana: Früher war ich überzeugt, ich bin als Frau so viel wert wie die Kuh, die im Stall steht...

Etwa zwei Dutzend Teilnehmerinnen besuchen dabei jeweils vier Wochen lang Kurse von Heval Nesrin. Unterrichtet wird die Geschichte von Frauen, die Tausende Jahre zurückreicht: „Vor den antiken Hochkulturen war unser Land von einem Matriarchat regiert. Die Sumerer haben das beendet“, erzählt Nesrin. „Danach folgte eine Welle der Frauen-Unterdrückung der nächsten. Die Religionen wurden zur Waffe der Männer gegen die Frauen – bis hin zum Kapitalismus, der Frauen zu Waren degradierte.“

Doch es sind vor allem die Gräueltaten der Dschihadisten, sagt die syrische Sozio­login, die zeigen, wozu ein vom radikalen Patriarchat dominiertes System im Extremfall führen kann.

Das Gefühl, schuldig und Teil einer Unterdrückungsmaschinerie gewesen zu gewesen, empfindet die 32-jährige Nadia Ramadan allerdings nicht. Die Deutsche lebt zurzeit in einem armseligen Lager der kurdischen Milizen in einem Vorort von Rakka. Sie ist eine von 940 Deutschen, die sich dem „Islamischen Staat“ angeschlossen hatten. Nadia Ramadan wanderte im Sommer 2014 aus dem baden-württembergischen Weinheim hierher aus. Ob es „ein Verbrechen“ sei, dass sie „nach der Scharia leben wollte?“, fragt sie. Via Video­botschaft appellierte die Mutter von vier Kindern – drei hatte sie 2014 in Deutschland zurückgelassen – jetzt an die Kanzlerin. Merkel soll ihr helfen: Sie habe „ja niemanden steinigen oder töten wollen!“

Das sieht Anouscha, eine junge Tunesierin, die wie Nadia Ramadan und Hunderte weitere ehemalige IS-Frauen im Lager auf eine Zukunft hofft, anders. „Es war ein Irrtum“, sagt sie heute. Es sei billig, wenn IS-Frauen sich heute als Opfer ihrer Ehemänner inszenieren würden: „Viele von uns Frauen sind bewaffnet durch die Straßen patrouilliert. Wir peitschten andere Frauen aus und folterten sie. Uns hat die Macht genauso enthemmt wie die Männer.“

Jeder Posten - vom Bürgermeisteramt bis zum Uni-Rektorat - ist mit einem Mann und einer Frau besetzt

Doch wo in Nordsyrien eben noch Dschihadisten mit brutalen Methoden Frauen zu Gefangenen ihrer Familien degradierten, stehen heute die politischen Zeichen auf radikale Gleichberechtigung. Jeder Posten, vom Bürgermeisteramt bis zum Rektorat oder den Fakultäten der neu entstehenden Universitäten, ist mit jeweils einem Mann und einer Frau besetzt. „Das Ziel von uns Kämpferinnen ist es, nicht nur das Land von der Terrormiliz zu befreien, sondern es geht auch um die Befreiung der Frauen“, sagt Nesrin Abdullah, die Sprecherin des weiblichen Flügels der Kurdenmiliz stolz.

Die YPG-Miliz erobert mittlerweile ein Areal so groß wie die Schweiz, in dem fünf Millionen Menschen leben. Längst hat es sich über kurdische Siedlungsgebiete ins arabische Kernland ausgedehnt. Städte wie Rakka, einst die „Hauptstadt“ des „Islamischen Staates“ zählen dazu.

Diese kurdischen Milizen sind die militanten Arme der „Partei der Demokratischen Union“ (PYD), die den Norden von Syrien seit 2012 dominiert und nach ihren Vorstellungen neu ordnet. Sie ist eine Schwesternpartei der kurdischen PKK. Im Zuge des Anti-IS-Kampfes bildete sich so ein syrischer Schattenstaat: Geprägt ist er von Föderalismus, direkter Demokratie, einem strikten Quotensystem und vor ­allem: radikalem Feminismus.

„Ein Volk kann nicht frei sein, wenn die Frauen nicht frei sind“, lautet eine der zentralen Thesen des PKK-Chefs Öcalan, dessen Konterfei heute den öffentlichen Raum im Norden Syriens fast lückenlos dominiert und der für den Westen bis heute ein „Terrorist“ ist.

Leila Mustafa: Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir die Gesellschaft neu aufbauen.

„Trotz all dieser Bemühungen darf man nicht übersehen, dass es sich bei der kurdischen PYD-Partei um eine Kaderpartei handelt, die politische Widersacher nur der Form halber teilnehmen lässt und das Territorium gänzlich dominiert“, warnt auch Leila al-Shami. „Vor allem für die arabische ­Bevölkerung bedeutet dieses System nur eine neue Form der Unterdrückungen im Namen einer Einheits­partei.“

Die im britischen Exil lebende syrische Aktivistin veröffentlichte ein Buch, das sich mit den politischen Strukturen der syrischen Opposition beschäftigte. Leila al-Shami vertritt darin die These, dass besonders Frauen am gewaltfreien Protest in den Anfängen der syrischen Revolution maßgeblich beteiligt waren. Dass sie aber gleichzeitig am meisten unter der Radikalisierung der Opposition litten, die ein chronisches Problem der syrischen Gesellschaft sei: „Doch es darf nicht wieder die Allmacht einer Einheitspartei wie jener der Ba’ath Partei des Präsidenten Baschar al-Assads oder der der PKK-nahen kurdischen Partei der demokratischen Union entstehen. Wir brauchen eine echte Freiheit für Frauen.“

Diese Sorge teilt Leila Mustafa nicht. Die 29-jährige Ingenieurin hat einen der Top-Jobs in Syrien. Als Co-Bürgermeisterin der Stadt Rakka – entsprechend der Quoten-Ordnung in der Region besetzt sie den Posten gleichberechtigt mit einem arabischen Mann – muss sie den Wiederaufbau der völlig zerstörten Stadt organisieren.

„Wir müssen uns heute aber vor allem die Frage stellen: Wie bauen wir die Gesellschaft neu und richtig auf? Die Ideologie, die dazu führte, dass der ‚Islamische Staat‘ sich hier festsetzen konnte, steckt tief in der Gesellschaft drin. Unsere Aufgabe ist es nun, dieses Grundübel bei seinen Wurzeln zu packen. Denn solange wir Frauen unterdrückt sind, wird es weder Frieden, noch Gerechtigkeit, noch eine faire Entwicklung geben“, sagt die Anhängerin von PKK-Chef Öcalan. Und sie ergänzt selbstbewusst: „Die Revolution, die von den kur­dischen Gebieten Syriens ausgeht, wird den gesamten Nahen Osten erfassen: Was wir hier aufbauen, ist die einzig sinnvolle ­Antwort auf Jahrzehnte von ­Unter­drückung.“

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