Mädchen der Revolutionsstraße

Foto: #MyStealthy Freedom
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Sie riskieren ihr Leben für ihre Freiheit und Menschenwürde. Fast vier Jahrzehnte nach der Machtergreifung von Ayatollah Khomeini im Iran, der das Schah-Regime in einen „Gottesstaat“ verwandelte, wagen Frauen den öffentlichen Protest. Protest gegen die ihnen diktierte und brutal erzwungene Verschleierung – dieser Schleier, der das Symbol und die Flagge aller islamischen Gottesstaatler ist.

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Todesmutig reißen die Frauen sich die Verhüllung vom Kopf, zeigen ihr Gesicht und ihr Haar und schwenken das verhasste Tuch wie eine Fahne; nicht wie eine Fahne der Unterdrückung, sondern wie eine Fahne der Befreiung. Vida Movahed war am 27. Dezember 2017 die Erste, die diese Provokation nicht zufällig mitten auf der „Revolutionsstraße“ in Teheran wagte.

Bis Mitte April sollen seither mindestens 36 weitere Frauen verhaftet worden sein. Staatschef Rohani ließ daraufhin plötzlich eine Studie aus dem Jahr 2014 veröffentlichen, die besagt, dass jedeR zweiteR IranerIn gegen die Zwangsverschleierung ist. Religionschef Ayatollah Khamenei hingegen nannte die Proteste der Frauen „unbedeutend“ und beschuldigte sie, sich von der „Propaganda des Westens verführt“ haben zu lassen.

Der Westen wiederum interessiert sich eigentlich nicht wirklich für die Lage der Iranerinnen, das hat er noch nie getan. Doch immerhin: 45 EU-ParlamentarierInnen haben gefordert, die verhafteten Frauen freizulassen, auf Initiative der Niederländerin Marietje Schaake. – Aber EMMA interessiert sich. Mit der Hilfe von Iranerinnen im Exil hat EMMA Kontakt aufgenommen mit Frauen in Teheran und Karadsch. Was sie zu sagen haben, ist ergreifend.

Die mutigen "Mädchen von der Revolutionsstraße" und ihr Protest in Iran für Frauenrechte.
Die mutigen "Mädchen von der Revolutionsstraße" und ihre Proteste in Iran für Frauenrechte.

Shaparak, 43, Teheran
Ich lebe zusammen mit meinem Sohn. Mein Wunsch ist, dass wir als Frauen endlich Rechte bekommen. Und auch alle anderen Menschen, die unterdrückt sind. Ich wünsche mir, dass der Hidschab kein Zwang mehr ist. Ich möchte, dass die Festnahme von Frauen, dass die Gewalt gegen uns endlich ein Ende hat. Shaparak war eine der Ersten, Anfang Januar ging ihr Video online. Sie forderte alle Iranerinnen auf, ihre Kopftücher an einen Stock zu binden. Aus Solidarität mit Vida Movahed. Dann wurde sie selbst verhaftet – und trat in Hungerstreik. Am 28. Februar wurde Shaparak aus dem Gefängnis entlassen.

Jasi, 21, Teheran
Ich bin Studentin, jeden Tag gehe ich an die Universität. Wenn ich das Gefühl habe, dass mir keine Gefahr droht, dann trage ich gar kein Kopftuch. Ich lasse es einfach auf meinen Schultern liegen. Auch in der Uni oder in anderen öffentlichen Gebäuden. Ich möchte als Frau endlich das Recht bekommen, selbst über mein Leben zu entscheiden. Ich möchte Karriere machen – und aufblühen wie eine Blume.

Nadia, 36, Teheran
Ich arbeite in einem Privatunternehmen. Nach der Arbeit kümmere ich mich um den Haushalt oder treffe Freundinnen. Ich habe schon vor den Protesten im Jahr 2009 Aktionen organisiert, aber eher im privaten Umfeld. Und auch an etlichen Demos teilgenommen. Immer wenn es auf der Straße eine Auseinandersetzung mit Frauen gab, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig trugen, habe ich mich für die Frauen eingesetzt. Einmal saß ich in der U-Bahn neben einer Frau, die ohne Kopftuch unterwegs war. Eine Frau mit Tschador hat gefragt: „Wieso trägst du kein Kopftuch?“ Da bin ich aufgestanden: „Was soll das?“, habe ich laut gerufen. „Sie hat das Recht, ohne Kopftuch rauszugehen! Wieso mischst du dich ein?“ Viele in der U-Bahn haben mir laut zugestimmt. Die Frau im Tschador war gezwungen, die U-Bahn zu verlassen. Ich möchte, dass alle Menschen endlich als Menschen leben können.

Mariam, 27, Teheran
Ich musste schon als kleines Mädchen das Kopftuch tragen und durfte viele Sportarten nicht machen. Später habe ich Ingenieurwissenschaften studiert. Nach dem Studium hatte ich große Schwierigkeiten, als Frau eine Anstellung zu finden. Durch die Medien hab ich von dem Protest der „Mädchen von der Revolutionsstraße“ gegen die Zwangsverschleierung erfahren. Ich wünsche mir, dass wir eines Tages als Frauen genauso viel dürfen wie die Männer. Ich möchte ein freies und glückliches Leben führen.

Leila, 32, Karadsch
Ich solidarisiere mich mit den Mädchen von der Revolutionsstraße. Ich habe selbst meinen Schleier an einen Stock gebunden. Ich leite eine Selbsthilfegruppe. Jeden Tag von 8.30 Uhr bis 17 Uhr versuche ich, Menschen zu ­helfen, gemeinsam aktiv zu werden. Und ich habe mich auch schon vorher widersetzt, in meinem Alltag. Ich hatte nie Angst, wenn mein Kopftuch nach unten gerutscht ist. Jeden Tag ­denke ich: Ich will endlich frei sein!

Leila, 35, Teheran
Mein Leben ist schwer. Ich habe nur Probleme, weil ich eine geschiedene Frau und Mutter bin. Ich bekomme vom Staat gar keine Unterstützung. Die Männer denken, nur weil ich alleine bin, könnten sie mich einfach nehmen. Im Iran geht es vielen Frauen wie mir: Sie sind depressiv und aggressiv und hoffnungslos. Was unser Land kaputt gemacht hat, ist die Korruption der Mächtigen. Ich habe mich auf der Revolutionsstraße unverschleiert auf einen Stromkasten gestellt, genau gegenüber von einem Büro, das zum Ministerium für geheime Angelegenheit gehört. Auf dem Zettel, den ich in der Hand hielt, stand: „Schluss mit Gewalt gegen Frauen!“. Die Reaktionen auf unseren Protest sind sehr positiv. Bei mir ­haben einige geklatscht, andere habe gesagt: „Danke, dass du so etwas machst!“ Dann ­kamen die Revolutionswächter mit drei Autos. Sie haben mich von dem Stromkasten geschubst. Mein rechtes Bein ist gebrochen. ­Einige der anwesenden jungen Männer haben sich mit den Revolutionswächtern angelegt und versucht, mich zu retten. Auf einer Polizeiwache haben sie angefangen, mich zu beleidigen. „Diese Aktion machen nur hässliche Frauen!“ Dann haben sie mich in ein unterirdisches Gefängnis gefahren. Alles war sehr schmutzig und kalt. Am nächsten Tag gab es eine Gerichtsverhandlung. Die Staatsanwaltschaft hat mich auf Kaution freigelassen. Ich bin Atheistin. Und ich möchte, dass meine Kinder in einem freien Land aufwachsen.

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Iran: "Die Frauen haben genug!"

Mit diesem Facebook-Foto fing alles an: Masih Alinejad, unverschleiert in London, der Wind in den Haaren.
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Masih, wie steht es um die Frauen im Iran?
Sie sind derzeit die lautesten Stimmen, die eine Veränderung fordern. Das macht Hoffnung! Das iranische Regime kann die Frauen nicht länger zum Schweigen bringen. Dafür hat ihr Protest gegen die Zwangsverschleierung zu viel Wucht. Seit 39 Jahren sind die Iranerinnen unzufrieden. Sie hatten nur lange gar nicht die Möglichkeit zu protestieren!

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Du hast 2014 einen Frauenprotest im Inter­net lanciert: My Stealthy Freedom.
Ja, angefangen hatte das alles mit einem Face­book-Foto von mir in London, inmitten einer von blühenden Bäumen gesäumte Allee. Dazu habe ich damals geschrieben: „Immer dann, wenn ich in einem freien Land den Wind in meinen Haaren spüre, erinnere ich mich daran, wie meine Haare unter der iranischen Regierung in Gefangenschaft gehalten wurden.“ Jede Frau im Nahen Osten, die einen Schleier tragen muss, verstand sofort, was ich damit meine. Auf dieses Foto habe ich unzählige Reaktionen bekommen. Also habe ich als nächstes ein Foto gepostet, das mich unverschleiert im Iran zeigt und ­gefragt: „Wollt ihre eure geheimen Freiheiten mit mir teilen?“ Ab da wurde ich mit Fotos von unverschleierten Frauen bombardiert.

Hast du mit einer solchen Resonanz ­gerechnet?
Nein, niemals! Ich war anfangs sogar richtig geschockt. Mir war ja selbst über Jahre eingetrichtert worden, dass es nicht der rich­tige Zeitpunkt ist, über den Hidschab zu sprechen. Das war wie eine Gehirnwäsche. Aber als die ganzen Fotos kamen, habe ich begriffen: Es ist Zeit! Die Iranerin, die sich damals als Allererste dabei gefilmt hat, wie sie unverschleiert durch die Straßen gelaufen ist, hat mir letztens noch geschrieben: „Schau Masih, wir haben gesät – und jetzt ist endlich Frühling! Knospen überall!“

Warum jetzt?
Die Frauen haben einfach genug. Schon lange. Genug von der Zwangsverschleierung. Genug von den Vorschriften, was sie tragen sollen. Genug von der Sittenpolizei. Und zu dieser Frustration ist inzwischen ­etwas hinzugekommen: Social Media! Die iranische Regierung hat Kanonen und ­Kugeln, sie hat Gewalt und Gefängnisse, sie kontrolliert die Zeitungen und das Fernsehen. Aber wir, die Frauen aus dem Iran, haben Facebook, Instagram, Twitter und Telegram – das sind unsere Waffen.

 

Was bewirken die?
Sie lassen uns begreifen, dass wir nicht alleine sind. Dass wir nicht auf andere warten müssen, die uns endlich befreien. Wir können uns selbst befreien! Dank „My Stealthy Freedom“ sind die Iranerinnen plötzlich sichtbar. Sie ­bekommen die gleiche Medien-Aufmerksamkeit, wie sonst nur der iranische Präsident.

Wie ging es nach dem Start deiner Facebook-Aktion weiter?
Dieser breite Online-Protest hat die Frauen bestärkt, auf die Straße zu gehen. Also habe ich vor einigen Monaten die White-Wednesday-Kampagne ins Leben gerufen, den weißen Mittwoch. Ich hoffte, dass sich die Frauen auf der Straße erkennen, indem sie entweder Weiß tragen – oder ihren Schleier ganz abnehmen. Dabei haben sie sich gefilmt und mir geschrieben: „Hi Masih, hier bin ich in Schiraz, in Teheran, in Isfahan.“ Das waren fast immer One-Women-Aktionen. Aber dann gingen diese Videos durchs Netz. Und plötzlich waren wir im Gespräch: Hast du von denen mit den weißen Schleiern gehört? Das hat eine riesige Debatte im Iran ausgelöst, bis hin zu den Freitags­gebeten. Da wurde natürlich gesagt: Diese Frauen mit den weißen Kopftüchern, das sind Prostituierte! Aber diese Verleumdungen haben uns nur noch stärker gemacht.

An einem Mittwoch im Dezember ist eine junge Frau mitten auf einer belebten Kreuzung in Teheran auf einen Stromkasten ­geklettert und hat ein weißes Tuch an einem Stock geschwenkt – wie eine Friedensfahne.
Ja, Vida Movahed! Ich weiß gar nicht, ob ihr die Kampagne #WhiteWednesday zu diesem Zeitpunkt überhaupt ein Begriff war. Aber die Menschen um sie herum, die kannten uns. Deswegen hat jemand Vida gefilmt und mir das Video geschickt. Das Problem war: Wir wussten nicht, wer sie ist und was mit ihr passiert war. Nur, dass sie noch während ihrer Aktion verhaftet worden war. Also habe ich einen weiteren Hashtag ins Leben gerufen, um mehr über sie zu erfahren. Auf Farsi hieß er: Wo ist das Mädchen von der Revolutionsstraße? Der wurde 19.000 Mal geretweetet. Die iranische Rechtsanwältin Nasrin Sotoudeh hat Vida Movahed dann ausfindig gemacht. Sie ist wieder frei. (Doch Anwältin Sotoudeh ist seit 2018 in Haft, sie wurde zu 38 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt. Anm. der Red.)

Inzwischen gibt es zahlreiche Mädchen der Revolutionsstraße.
Ja, kurz nach Vida Movaheds Verhaftung hat eine weitere Aktivistin – sie heißt Shaparak Shajarizadeh – die Iranerinnen via Video dazu aufgerufen, aus Solidarität auch ein weißes Tuch an einen Stock zu binden. Seitdem hat die Sache richtig Fahrt aufgenommen. Und es hat auch nicht lange gedauert, bis die nächste Frau auf den Stromkasten geklettert ist. Shaparak ist übrigens inzwischen auch wieder aus dem Gefängnis raus. Als ich das gehört habe, habe ich geweint.

Wie reagiert die Bevölkerung?
Für die iranische Bevölkerung ist das Kopftuch heute das Thema. Weil sie begriffen haben, dass wir nicht nur gegen ein Stück Stoff kämpfen – sondern für unsere Identität und unsere Würde. Wir kämpfen gegen das sichtbarste Symbol der Unterdrückung. Auch zahlreiche Männer haben sich uns angeschlossen und demonstrieren Schulter an Schulter mit ihren Frauen, Schwestern und Töchtern auf der Straße.

Und die Mullahs?
Sie lassen die Leute festnehmen. Sie behaupten, die Protestierenden würden von Kräften aus dem Westen gesteuert. Kräften wie mir.

Präsident Rohani verspricht Reformen.
Rohani steht unter Druck, die Wut der Menschen zu dämpfen. Er hat uns schon so viel versprochen – aber seine Versprechen nie eingelöst! Und was man auch nicht vergessen darf: Er ist der Architekt der Zwangsverschleierung. Das erwähnt er selbst in seiner Autobiografie. Er war 1980 der Erste, der uns Frauen den Schleier aufgezwungen hat. Angefangen mit den Frauen im Militär und auf Bitten von Ayatollah Khomeini.

In der Vergangenheit waren die Repres­sionen gegen die iranische Bevölkerung nach Protesten umso größer. Gibt es diesmal eine Chance auf echten Wandel?
Wir haben es hier ja mit einem Krieg zwischen Frauen und dem Regime zu tun. Und meiner Meinung nach haben die Frauen diesen Kampf schon gewonnen. Wenn du vor rund 40 Jahren Fotos von Frauen im Iran gesehen hast, verschwanden wir unter einem Meer aus schwarzen Tüchern. Die Regierung hat uns gezwungen, dem islamischen Lebensstil zu folgen. Sie hat uns das Singen und das Tanzen verboten. Heute sind die Frauen im Iran bunt angezogen. Sie singen, sie tanzen und sie feiern zusammen mit Männern. Fahrt in den Iran! Ihr werdet Frauen treffen, die Gesetze brechen und zivilen Ungehorsam üben. Sie flehen nicht mehr um Freiheit. Sie schaffen Freiheit! Aber sie riskieren ­damit ihr Leben.

Westliche Politikerinnen hingegen ziehen sich bereitwillig ein Kopftuch über auf ­ihren Reisen in den Iran.
Es bricht mir immer wieder das Herz, wenn ich Politikerinnen wie Claudia Roth mit Kopftuch im Iran sehe. Ich habe ihr damals geschrieben. Aber sie hat nicht verstanden, dass sie das Regime nur noch weiter ermächtigt hat, auf uns iranische Frauen Druck auszuüben. Sie hat mir geantwortet, dass sie ­lieber verschleiert in den Iran reist und das Thema meidet, anstatt gar nicht in den Iran zu reisen, weil sie nur so über so wichtige Themen wie Menschenrechte sprechen könne. Aber ist die Zwangsverschleierung der Iranerinnen etwa kein Menschenrechtsthema? Und glaubt sie wirklich, dass eine ­Regierung, die ihr nicht einmal erlaubt, ­ihren eigenen Dresscode zu bestimmen, mit ihr über Menschenrechte verhandelt? Solche Politikerinnen sind Heuchlerinnen.

Was sollten westliche Politikerinnen also tun?
Erstens: Sie müssen endlich begreifen, dass die Zwangsverschleierung nicht Teil unserer Kultur ist! Zweitens: Wir wollen, dass sie die Zwangsverschleierung auf ihren ­Besuchen endlich in Frage stellen. Und dass sie nicht ständig sagen: Aber das ist doch Gesetz! Die Sklaverei war in Amerika auch mal legal. Noch so ein Satz, den solche Politikerinnen häufig sagen, ist: „Wir mischen uns nicht in innere Angelegenheit ein!“ Es geht hier aber nicht um eine inneriranische Angelegenheiten. Wir haben es mit einem globalen Problem zu tun. Ihr könnt nicht einfach eure Augen verschließen und eure Schwestern im Iran ignorieren, die zusammengeschlagen und ins Gefängnis geworfen werden!

Doku über Masih Alinejad: Mit wehenden Haaren gegen die Mullahs (arte)
Weiterlesen: Masih Alinejad: „The Wind in My Hair: My Fight for Freedom in Modern Iran” auf Englisch (Little, Brown and ­Company)

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