Hedwig Dohm: Mehr Stolz, ihr Frauen!

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Ein herrschaftliches Palais in Berlin. Kutschen fahren vor. Seidenroben knistern. Livrierte Dienerschaft eilt herbei. Kristalllüster leuchten. Man schreibt das Jahr 1872. Ein Fürst gibt eine glänzende Soiree. Der Fürst liebt den Skandal. Heute ist diese unverschämte Hedwig Dohm das Thema des Abends. Man erregt sich über ihre „aggressiven“ Schriften gegen namhafte Wissenschaftler. „Typisch diese emanzipierten Blaustrümpfe. Bekommen keinen ab, deshalb wollen sie sich an den Männern rächen. Wohl ein knochiger ältlicher Gaul!“ schnarrt ein Oberst.

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Muss ich, um 'ein wahres Weib' zu sein, bügeln, nähen, kochen und kleine Kinder waschen?

Da geht ein Raunen durch den Saal. Eine auffallend schöne, ätherisch zarte Frau betritt die Szenerie. Köpfe werden verdreht, Augen aufgerissen. Das soll die unverschämt freche, gefährlich geistreiche Hedwig Dohm sein? Besonders irritiert ist der Oberst. Dieses verwirrende Wesen ist auch noch seine Tischdame. Nervös zwirbelt er an seinem Bart. Das Souper nimmt seinen Lauf, der Oberst hat seine Fassung zurückgewonnen. Ermutigt von der Sanftmut seiner Tischdame bläst er zur Attacke: „Gnädigste, Sie werden mir zustimmen: Die Forderung Frauen in die Universitäten, gar Medizin studieren, absurder Gedanke. Stelle mir vor, meine Frau wäre Ärztin – ich lebte ja ständig in Angst, sie würde den Braten mit dem Skalpell tranchieren!“

Da schaut Hedwig Dohm den Oberst freundlich an und antwortet lächelnd: „Na, dann werden Sie doch Vegetarier, werter Herr!“

Typisch Dohm. Der Oberst hätte es wissen können. Denn seine Tischdame ist zu diesem Zeitpunkt bereits berühmt-berüchtigt für ihren stets mit Ironie gepaarten Scharfsinn, mit dem sie männliche Attacken auf die weiblichen „Emancipationsbestrebungen“ zu parieren pflegt. Hedwig Dohm schießt scharf – ihre Waffen sind Intelligenz und Humor.

Schon in ihrem ersten Pamphlet ‚Was die Pastoren von den Frauen denken‘ (1872) hatte sie die Auslassungen zweier angesehener Herren zur „Frauenfrage“ zerpflückt. Hatten der Theologieprofessor Jacobi und der Politiker von Nathusius doch behauptet, dass „die Stärke des Kopfes beim Manne durch die Stärke des Herzens bei der Frau eine Ausgleichung findet zur schönen Ergänzung“. Hedwig Dohm spöttisch: „Diese abgeschmackte Ergänzungstheorie nimmt an, dass durch die räumliche Nachbarschaft eines grossen Herzens ein kleines komplett würde, desgleichen der Verstand.“

Als wenig später der Mediziner von Bischof die Beinlänge der Geschlechter vermaß, um zu beweisen, dass es nur dem Manne qua Biologie vergönnt sei, in die Welt hinauszuschreiten, spottete Dohm: „Der Mann hat längere Beine als die Frau, bemerkt sehr richtig Herr von Bischof. Ein Schlußsüchtiger könnte allenfalls daraus schließen, dass der Mann sich mehr zum Briefträger eigne als die Frau; ihr aber aus diesem Grunde die Fähigkeit zum Erlernen des Griechischen und Lateinischen absprechen zu wollen, ist mehr kühn als logisch gedacht.“

Gleichgültig, ob ich Mann, Weib oder Neutrum bin - das Geschlecht ist Privatsache!

Hedwig Dohm fordert das Frauenstimmrecht in einer Zeit, in der dies selbst ihre Schwestern in der Frauenbewegung noch für ungeheuerlich befinden. Sie will den uneingeschränkten Zugang zu Gymnasien und Universitäten, als Paul Julius Möbius’ Werk ‚Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes‘ ein Bestseller ist. Sie polemisiert gegen die „Heiligsprechung der Mutterschaft“, als das Muttersein noch sakrosankt ist und der Frauen einziger Lebenszweck sein soll. Und während ihr Zeitgenosse Frie­drich Nietzsche die Weiber noch als „wunderlich wilde, oft angenehme Hausthiere“ betrachtet, erklärt Hedwig Dohm die Frauen zu „Ganzmenschen“.

Mit ihrem Mut, Undenkbares zu denken – und es auch noch zu veröffentlichen – wurde die fünffache Mutter eine der Pionierinnen der Historischen Frauenbewegung, ja ihre radikalste Vorkämpferin. Viele der Dohm’schen Schriften sind beklemmend brisant.

So ihre Attacken gegen den „Blößenwahn“, sprich: die exzessive Zurschaustellung weiblicher nackter Körperteile. Oder ihre Reflektionen über jene, die den „umstürzlerischen Weibern der Emancipation“ unterstellten, sie planten „nichts anderes als einen neuen bethlehemitischen geistigen Kindermord“.

„Dass alle seelischen und physischen Kräfte des Weibes nur der Mutterschaft zu dienen haben, dass auf der Mütterlichkeit ihre Genialität beruhe, wird neuerdings wieder mit den Zeusgebärden souveränen Allwissens der Welt verkündet“, klagte Hedwig Dohm schon anno 1902 und hielt dem ihr frühes Konzept von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf entgegen: „Ja, da eben liegt der Hase im Pfeffer. Die Emancipierten glauben nämlich samt und sonders, dass sich beides vereinbaren lässt.“

Woher nahm Hedwig Dohm diese Freiheit und Kühnheit im Denken und Handeln? Woher ihre Respektlosigkeit? Als Marianne Adelaide Hedwig am 20. September 1831 zur Welt kommt, ist sie das vierte Kind – und erste Mädchen – von Henriette Wilhelmine Jülich und Gustav Adolph Schlesinger. Alle Kinder sind unehelich, denn Vater Gustav ist ein wohlhabender Tabakfabrikantensohn, Mutter Henriette, die aus einer armen Familie stammt und selbst ein uneheliches Kind ist, gilt nicht als standesgemäß. So heiraten Henriette und Gustav erst, als dessen Vater stirbt. Da hat das Paar schon zehn Kinder – zur damaligen Zeit eine Schande. Hedwigs Vater ist Jude, wenngleich auch ein zum Protestantismus konvertierter. 1851 ändert er den Namen Schlesinger in Schleh.

Dass ich die Beseitigung der Prostitution, dieser abstoßenden Karikatur der Erotik, will, ist selbstverständlich.

Tochter Hedwig hat aber in den Augen der Welt noch einen weiteren, vielleicht den folgenschwersten Makel: Sie ist nicht nur unehelich und „halb­jüdisch“, sie ist auch – weiblich. Was es Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutet, ein Mädchen zu sein, spürt die erste Tochter der Familie schnell. Jahr für Jahr bringt Mutter Henriette ein Kind zur Welt, 17 insgesamt, zwei Geschwister sterben früh. Sie führt den riesigen Haushalt mit Strenge: „Ich fürchtete mich vor meiner Mutter, vor ihren Gewaltsamkeiten. Prügel und Erziehung waren beinah identisch“, schreibt Dohm später über ihre „leidenschaftlich unglückliche“ Kindheit.

„Ich fing an, über mein Schicksal zu grübeln. Warum musste ich heimlich, als wär’s ein Verbrechen, lesen? Warum durfte ich nichts lernen? Meine Brüder wollten und mochten nichts lernen und wurden dazu gezwungen.“ Die Grübeleien der Halbwüchsigen münden in die entscheidende Frage: „Musste denn alles so sein wie es war?“

Hedwig steht von Anfang an daneben. Das ist hart. Aber ihre Außenseiterposition gibt auch die Freiheit, jenseits der Normen zu denken und zu fühlen. Hedwig beschließt, die entscheidende Frage fortan immer und immer wieder mit einem klaren Nein zu beantworten: Nein, nichts muss so sein wie es ist!

Der Kern von Dohms Philosophie wird die Infragestellung einer gottgegebenen, unveränderlichen „Natur der Frau“ (und der „Natur des Mannes“). „Was ist denn das: ‚ein wahres Weib‘? Muss ich, um ein wahres Weib zu sein, bügeln, nähen, kochen und kleine Kinder waschen?“ 80 Jahre vor Simone de Beauvoirs Credo „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“, 100 Jahre vor Alice Schwarzers Infragestellung der „großen Folgen“ des „kleinen Unterschieds“ und 120 Jahre vor Judith Butlers Unterteilung in ein biologisches und ein kulturelles Geschlecht (sex and gender) erklärt Dohm: Die angeblich angeborenen „Eigenschaften der Frau“ sind Produkt ihrer Lebensumstände und Frauen – wie Männer – „ein durch soziale Bedingungen Gewordenes“.

Dem Dualismus der Geschlechter, bestehend aus männlichen Kopfmenschen und weiblichen Herzmenschen, setzt Dohm ihr Konzept der Gleichheit entgegen: „Die Ergänzung der Geschlechter besteht nicht darin, dass der Eine von seinem Verstand, die Andere von ihrem Herzen abgibt. Nur bei annähernder Übereinstimmung der Herzen und Köpfe gibt es im höheren Sinne eine glückliche Ehe.“

Jahrzehnte bevor Beauvoir im ‚Anderen Geschlecht‘ ihre Vision der „Geschwisterlichkeit“ der Geschlechter verkündet, fragt die Philosophin Dohm: „Wie muss der junge Mann seine Begriffe vom Weibe korrigieren, wenn er auf der Universität das Mädchen, das bis dahin für ihn nur eine Mitliebende war, als eine Mitdenkende, Mitstrebende, Mitarbeitende kennen lernt?“ Die bis heute nicht realisierte Utopie von Hedwig Dohm lautet: „Gleichgültig, ob ich Mann, Weib oder Neutrum bin – das Geschlecht ist Privatsache. Vor allem bin ich Ich, eine bestimmte Individualität, und ein bestimmter Wert beruht auf dieser Individualität.“ 

1873 schreibt sie: „Die Frauen haben Steuern zu zahlen wie die Männer, sie sind verantwortlich für Gesetze, an deren Berathung sie keinen Antheil gehabt; sie sind also Gesetzen unterworfen, die Andere gemacht.“ Sie folgert: „Das nennt man in allen Sprachen der Welt Thyrannei, einfache, absolute Thyrannei. Sie mag noch so milde gehandhabt werden, sie bleibt Thyrannei. Die Frau besitzt wie der Sklave Alles, was man ihr aus Güte bewilligt.“ 

Doch bevor Hedwig all dies zu Papier und an die Öffentlichkeit bringen kann, vergehen Jahrzehnte. Jahrzehnte, in denen sie bügelt, kocht, näht und kleine Kinder wäscht. Mit 15 ist Hedwigs Schulausbildung zu Ende und das lernbegierige Mädchen, das in seinen Träumen beschlossen hatte, „Dichterin“ zu werden, erstickt zwischen Wäschebergen und löchrigen Strümpfen. Schließlich trotzt sie den Eltern ein Lehrerinnenseminar ab, das sich aber als eine Mischung aus Bibelsprüchen, Handarbeiten und sinnentleertem Pauken entpuppt: „Es war fürchterlich, ein reines Flügelknicken.“

Im Jahr 1851, Hedwig ist 20 Jahre alt, will ihre Mutter mit der ältesten Tochter nach Spanien reisen. Ihr Spanischlehrer ist Ernst Dohm, ein abgebrochener Pastor, Redakteur beim Satiremagazin Kladderadatsch – und ihr zukünftiger Ehemann. Mit Dohm, in Berlin ein bekannter Mann, erhält die junge Frau nun Zugang zu den intellektuellen Kreisen, nach denen sie sich so lange gesehnt hat. Das Ehepaar verkehrt in den angesagten Salons, und auch Hedwig Dohm empfängt bald zum Jour fixe in ihrem Haus. In ihrem Salon „drängten sich alle liberalen Politiker von Ruf, die Literaten und Künstler. Oft waren an den Empfangstagen mehr Besucher da als Stühle“, wird berichtet. Der Sozialist Ferdinand Lassalle (mit dem sie später ein Verhältnis haben wird), die Frauenrechtlerin Fanny Lewald, der Schriftsteller Theodor Fontane (der „Esprit, lebhaftes Gefühl und Mut der Meinung“ an ihr schätzt), sie alle verkehren bei den Dohms.

Dennoch wird es nach Dohms Hochzeit im Jahr 1853 noch fast zwanzig Jahre dauern, bis die scharfsinnige Denkerin 1872 ihr erstes Werk zur „Frauenfrage“ veröffentlicht. Zunächst wird sie Mutter. Fünf Kinder bringt sie zur Welt, zuerst einen Jungen, dann folgt „Jahr um Jahr ein Töchterchen, vier hübsche, viel versprechende Mädchen“. Alle bekommen auf Betreiben der Mutter eine gute Ausbildung. Eine von ihnen, Gertrude Hedwig Anna, wird als verheiratete Pringsheim eine Tochter namens Katia bekommen, die wiederum einen gewissen Thomas Mann heiraten wird. Der spätere Nobelpreisträger wird in seinem einzigen Text über seine in ihren Glanzzeiten überaus prominente „little grandma“ den „unbeschreiblichen Zauber, der von ihrer Erscheinung und Persönlichkeit ausging“ preisen, das Werk der feministischen Visionärin aber als „nicht gerade sehr wichtig“ abtun.

In der Frauenfrage, wissen Sie, da komme ich mir schon seit Jahrzehnten wie ein Wiederkäuer vor.

Ernst Dohm ist ein liebevoller Vater, seine Ehefrau aber demütigt er mit seinen Frauengeschichten. Außerdem verpfändet er regelmäßig den Haushalt wegen seiner Spielschulden. Im Winter 1870 hat Hedwig Dohm offenbar genug von den Eskapaden ihres Mannes, der zudem vor seinen Gläubigern fliehen muss. Sie verbringt ein Jahr bei ihrer Schwester, der Malerin Anna Schleh in Rom. Dort hat sie eine interessante Begegnung: Die Berliner Bürgerstochter lernt eine schwarze Bildhauerin kennen – die Tochter einer befreiten Sklavin aus Amerika. Jahre später wird Dohm schreiben: „Du hast keine politischen Rechte, weil du ein Weib bist. Du hast keine politischen Rechte, weil du ein Jude bist. Du hast keine Rechte, weil du schwarz bist und ein Neger.“

1872 ist es so weit. Hedwig Dohms erstes „Pamphlet“ zur Frauenfrage erscheint: „Was die Pastoren von den Frauen denken“. Ein Jahr später legt Dohm mit „Der Jesuitismus im Hausstande“ nach, in dem sie das Hausfrauendasein für gesellschaftlich überflüssig erklärt und jene Frauen, die sich mit Wäsche und Windeln begnügen, mit spitzer Feder karikiert: „Ich, Madame Schulz, glaube von ganzem Herzen und mit allen Kräften an mich und meine Küche, an meine Kinderstube und meinen Waschkeller, an meinen Trockenboden und meine Nähmaschine. Alles aber, was darüber ist, ist von Übel …“ Gleichzeitig entlarvt Dohm die Bigotterie der Gesellschaft, die den „bürgerlichen“ Frauen die Arbeit außer Haus verwehrt, die Arbeiterinnen aber ohne Rücksicht auf ihr „zartes weibliches Wesen“ bis zum Umfallen in den ­Fabriken schuften lässt.

1874 folgt „Die wissenschaftliche Emancipation der Frau“ und 1876 „Der Frauen Natur und Recht“. In diesem Buch erklärt Hedwig Dohm das Frauen-Wahlrecht zum Schlüssel für politische Veränderungen und fordert es uneingeschränkt. „Für mich liegt der Anfang alles wahrhaften Fortschritts auf dem Gebiet der Frauenfrage im Stimmrecht der Frauen. Die Gesetze sind gegen sie, weil ohne sie.“

Die Herren sind außer sich ob dieser Dreistigkeit. Aber auch die Damen sind von der Vision eines politisch vollständig mündigen weiblichen Geschlechts nicht durchweg begeistert. „Bei Erscheinen dieses Werkes wurde diese Frau mit Schimpf und Spott beworfen und selbst Frauenrechtlerinnen der damaligen Zeit lehnten das Buch in seinen Tendenzen ab“, erinnert sich die Frauenrechtlerin und spätere politische Weggefährtin Dohms, Minna Cauer.

Was Ernst Dohm zu den aufrührerischen Werken seiner Frau meinte, ist nicht bekannt. Fest steht, dass er sie bis zu seinem Tod im Jahr 1883 nicht an weiteren Veröffentlichungen hindert.

Hedwig Dohm ist in ihrer Radikalität ihrer Zeit weit voraus. Zwar ist auch im Deutschen Reich – wie in Amerika und England – seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Frauenbewegung entstanden. Bei der deutschen Revolution 1848 hatten auch Frauen auf den Barrikaden gestanden und für Freiheit und Demokratie gekämpft. Aber die „Flintenweiber“ mussten die selbe bittere Erfahrung machen wie ihre Schwestern der Französischen Revolution ein halbes Jahrhundert zuvor und die Bräute der 68er gut hundert Jahre später: Die Herren Revolutionäre wollen zwar die ganze Welt befreien, aber die Frauen an ihrer Seite sollen rechtlos und in Küche und Kinderzimmer bleiben.

Aber auch die Frauen bleiben in ihren Forde­rungen bescheiden. Zu bescheiden für Dohms Geschmack: „Die guten deutschen Frauen placken sich damit ab, einige Verbesserungen an Mädchenschulen vorzuschlagen, kleine, niedliche Fortbildungsanstalten zu errichten, die natürlich keine wesentliche Veränderung hervorbringen können. Unsere bescheidenen Frauen schmachten nach einer kleinen Anstellung am Post- oder Telegrafenamt …“ Dohm hingegen findet: „Es muss der Frau gestattet sein, Eisen zu schmieden und das Griechische zu erlernen, wie sie die Lust und Kraft dazu fühlt.“

Auch das traditionelle Konzept von Männlichkeit stellt Dohm in Frage: „Ist ein Mann weniger ein Mann, wenn er sanft und bescheiden ist, voll Aufopferung und liebevollen Gemüts? Hört ein Mann auf, ein Mann zu sein, wenn er in der Küche beschäftigt ist und Koch lernt oder weil er an der Nähmaschine sitzt und Schneider gelernt hat?“

Es wird fast zwei Jahrzehnte dauern, bis Dohms unbescheidener Ruf nach uneingeschränkter Gleichberechtigung der Geschlechter gehört wird. Ende der 1880er-Jahre erhebt eine neue Strömung innerhalb der Frauenbewegung immer lauter ihre Stimme: die so genannten „Radikalen“. Ihre Protagonistinnen heißen Minna Cauer, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann oder Helene Stöcker, und sie haben ihre Dohm gelesen und zitieren sie bei ihren Vorträgen.

Auch die Radikalen verweigern, im Gegensatz zu den so genannten „Gemäßigten“, den Glauben an einen „natürlichen Unterschied“ zwischen den Geschlechtern: „Diese willkürlich, aber schlau erfundene Einteilung männlicher und weiblicher Eigenschaften wurde durch Jahrhunderte von den Männern solange gepredigt und der Frau suggeriert, bis die domestizierten Weibchen sie gläubig anbeteten, ohne der vielen lebendigen Gegenbeweise zu achten“, verkündet Lida Gustava Heymann, die 1943 auf der Flucht vor den Nazis im Exil sterben wird, ganz wie Augspurg und Stöcker.

Knapp hundert Jahre später wird sich die gleiche Kontroverse in der Neuen Frauenbewegung wiederholen. Nur die Begriffe sind andere: Die „Gemäßigten“ heißen nun „Differentialistinnen“ – weil sie an eine irreversible Differenz der Geschlechter glauben – die „Radikalen“ sind die „Antibiologistinnen“ oder „Universalistinnen“ (zu denen auch EMMA zu rechnen ist).

Die Radikalen der Historischen Frauenbewegung debattieren nicht nur, sie mischen sich auch ein ins politische Geschehen. Sie gründen Verbände wie den ‚Verband fortschrittlicher Frauenvereine‘, den ‚Verein für Frauenstimmrecht‘ oder den ‚Verein für Mutterschutz und Sexualreform‘. Und Anita ­Augspurg kehrt als erste deutsche Juristin von ihrem Studium in der Schweiz zurück und beginnt, den Reichstag mit Gesetzentwürfen zur Reform des entmündigenden Eherechts zu bombardieren.

Hedwig Dohm ist begeistert. Sie tritt diversen Vereinen bei, unterzeichnet Helene Stöckers Petition für die Abschaffung des § 218 und erklärt: „Dass ich die Beseitigung der Prostitution, dieser abstoßenden Karikatur der Erotik, will, ist ebenso selbstverständlich wie mein Wille zur restlosen Aufhebung der Schranken, die den vollen politischen Rechten des weiblichen Geschlechts entgegenstehen.“

Endlich hat sie, die so lange verspottete Einzelkämpferin, eine politische Heimat gefunden. Und in den Zeitungen, die Cauer & Co. nun gründen, ein Forum für ihre Publikationen. Ihre Bücher werden neu aufgelegt und ins Englische übersetzt.

Dohm sucht nun nach literarischen Formen, mit denen sie noch mehr LeserInnen erreichen kann. Die strikte Trennung von E- und U-Literatur scheint ihr widersinnig. Auch darin ist sie ihrer Zeit voraus. Ihre Romane und Novellen, die sie nun auch schreibt und in denen sie anhand individueller Frauenschicksale deren Unterdrückung und Wege der Befreiung aufzeigt, werden Bestseller.

Die kleinen Kindermenschen wissen von ihrem Geschlecht nichts. Künstlich zieht man sie von Anfang an zur Unterschiedlichkeit auf.

In Deutschland gewinnen die Radikalen an Boden. „Radikal heißt wurzelhaft“, schreibt Hedwig Dohm, „und bezeichnet am besten das Wollen und Handeln jener streitbaren Frauen, die die Axt an die Wurzel der Übel legen.“ 

Jetzt werden die deutschen Männer wirklich nervös. Sie schlagen zurück. Zunächst mit der Diffamierung der Radikalen als alt, verbissen und hässlich, als „widernatürliche Mannweiber“ (sprich: lesbisch). Ein Spaltungsversuch, der bis heute als erfolgversprechend gilt.

Es folgt: der Frontalangriff. Die Attacke kommt von hochgeschätzten Männern wie Nietzsche („Der Mann muss das Weib als Besitz, als verschließ­bares Eigentum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorherbestimmtes auffassen“) oder Schopenhauer („Sie sind das sexus sequior, das in jedem Betracht zurückstehende, zweite Geschlecht“). Hedwig Dohm, mittlerweile in den Siebzigern, entlarvt diese „Antifeministen“ 1912 in ihrem gleichnamigen Werk als pathologische Frauenfeinde. Ihren Geschlechtsgenossinnen aber rät sie: „Mehr Stolz, ihr Frauen! Der Stolze kann missfallen, aber man verachtet ihn nicht. Nur auf den Nacken, der sich beugt, tritt der Fuß des vermeintlichen Herrn!“

Mittlerweile ist Dohm über achtzig. Aber in ihrem immer zarter werdenden Körper steckt ein unvermindert starker Geist. Im Juli 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. „Ich war bei Hedwig Dohm“, schreibt Minna Cauer im August 1914 in ihr Tagebuch. „Sie ist gebrochen, sie sieht aus wie eine Tote. ‚Das zu erleben, dieses Barbarentum‘, ruft sie mir mit Tränen in den Augen entgegen, ‚Nicht vor Christi Zeiten und nicht nach ihm gab es solche Menschenschlächterei.‘“

Ganz Deutschland ist im patriotischen Taumel, und das gilt auch für die Frauenbewegung. Es gehört viel Mut dazu, sich gegen diesen Krieg zu äußern. Die Handvoll, die es dennoch wagt, sind ausschließlich Frauenrechtlerinnen – und ausschließlich „Radikale“: Heymann, Augspurg – und Hedwig Dohm. „Es gibt keine Vaterlandsliebe, die den Feindeshass heiligt“, schreibt sie 1915 mitten im Krieg. Aber trotz ihrer Verzweiflung ob des Massenmordes weigert sich Dohm auch diesmal, an eine natürliche, unabänder­liche Bestimmung des Menschen zu glauben: „Und ist es wahr, dass die Lust an der Menschenjagd als ein Wesenszug der menschlichen Natur eingeätzt ist, so ist diese Natur einer Reparatur bedürftig. Ändern wir sie! Ich glaube an den Fortschritt der Menschheit!“

Als am 12. November 1918 der ‚Rat der Volksbeauftragten‘ die Einführung des „allgemeinen Wahlrechts für alle männlichen und weiblichen Personen über 20 Jahre“ verkündet, ist Hedwig Dohm 87 Jahre alt. Sie stirbt am 1. Juli 1919 in ihrer Wohnung in der Berliner Tiergartenstraße.

Über 80 Nachrufe auf die berühmte Feministin erscheinen, darunter einer von Minna Cauer: „Wenige Menschen sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, worin sich scharfer Geist und Herzensgüte so paarte.“ Und Lida Gustava Heymann schreibt: „Zu irgendwelchen Kompromissen war Hedwig Dohm niemals geneigt. Möchten jüngere Generationen ihr nacheifern.“

Hedwig Dohm hatte eigentlich schon auf alles eine Antwort. Sie könnte hundert Jahre nach ihrem Tod dieselben Worte sagen wie 1909, als sie vom „Preußischen Verein für Frauenrecht“ um einen „neuen“ Text gebeten wurde. Lakonisch stellt Dohm damals fest: „In der Frauenfrage, wissen Sie, da komme ich mir schon seit Jahrzehnten wie ein Wiederkäuer vor.“

Chantal Louis, Mitarbeit: Gundula Thors - Ausgabe bestellen 

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Bücher von Dohm im FrauenMediaTurm und wieder aufgelegt im Holzinger Verlag. Über Dohm: Julia Meißner: „Mehr Stolz, Ihr Frauen!“ (im FMT), Isabel Rohner: „Spuren ins Jetzt.“ Biografie (Helmer), Nikola Müller & Isabel Rohner (Hg.): „Dohm: Feuilletons 1877 – 1903“ und „Dohm – Ausgewählte Texte“ (beide trafo). www.hedwigdohm.de

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Otto-Peters zum 200. Geburtstag!

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Als EMMA in ihrer ersten Ausgabe im ­Februar 1977 die Reihe „Unsere Schwestern von gestern“ startete, da war sie die allererste, die in dieser Serie über feministische Pionierinnen porträtiert wurde: Louise Otto-Peters. Der Grund war einfach: „Sie war zu Beginn der Neuen Frauenbewegung die einzige, deren Namen wir kannten“, erinnert sich Alice Schwarzer.

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Hedwig Dohm, Minna Cauer, Anita Augspurg – sie alle mussten von den neuen Feministinnen erst mühselig aus verstaubten Archivschränken hervorgeklaubt und wiederentdeckt werden – und sie sind, bis auf die zu Lebzeiten berühmte Dohm, bis heute über einschlägige Feministinnenkreise hinaus wenig bekannt. Wenn auf die Frage „Welche historischen Frauenrechtlerinnen kennst du?“ überhaupt ein Name fällt, dann ist es fast immer ihrer: Louise Otto-Peters. Die „Lerche des Völkerfrühlings“ war 1848 mit den Männern auf die Revolutionsbarrikaden gegangen, hatte 1849 die Frauen-Zeitung gegründet und 1865 den „Allgemeinen Deutschen Frauenverein“. Damit gab sie den Startschuss für die erste deutsche Frauenbewegung. Sie ist bis heute die präsenteste unter den feministischen Pionierinnen. Und es stellt sich die Frage: Warum ist das so?

Eine Annäherung an die Antwort gibt eine Film-Beschreibung der DEFA. Denn Louise Otto-Peters‘ Leben wurde sogar 1958 verfilmt, und zwar in der DDR. Vier Jahre zuvor hatte die frauenbewegte Sozialistin Hedda Zinner einen biografischen Roman über Otto-Peters geschrieben: „Nur eine Frau“. Doch während Zinner, übrigens die Großmutter von Jenny Erpenbeck, durchaus nicht nur Louises Begeisterung für die 48er-Revolution thematisiert, sondern auch ihren Kampf um ein selbstbestimmtes Frauenleben, ist die Frauenrechtlerin für die DEFA vor allem Sozialistin: „Als wohlbehütete Tochter eines angesehenen Juristen wächst Louise Otto-Peters in Meißen auf. In ihrer bürgerlichen Umgebung stößt die junge Louise mit ihrer Anteilnahme an politischen und sozialen Problemen auf Unverständnis.

Doch sie geht ihren eigenen Weg, schlägt die Werbung eines reichen Adligen aus und beginnt zu arbeiten. Ihre Gedichte und fortschrittlichen Artikel werden von den Zeitungen gedruckt. Ein Aufenthalt beim Schwager, der eine Weberei besitzt, konfrontiert sie mit dem Elend der Fabrik­arbeiter. Ihr Mitleid und ihre Empörung ob dieser Ausbeutung lässt sie Partei ergreifen. Verständnis für ihr Engagement findet sie bei dem jungen Lehrer August Peters, der die von der Fabrik­arbeit übermüdeten Kinder in den Abendstunden unterrichtet. Eine Verbindung der beiden wird von der Familie hintertrieben. Louise schreibt sozialkritische Romane und gründet die erste Frauenzeitschrift Deutschlands. In den Kämpfen der 48er-Revolution trifft sie August wieder. Er ist verwundet, und sie verbirgt ihn, kann aber seine Verhaftung nicht verhindern. Als er nach zehnjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, heiraten sie." Ende.

Das ist alles richtig und historisch verbrieft. Aber: War da nicht noch was? Füllen wir also die aufschlussreiche Leerstelle aus der feministischen Perspektive.

Den ganzen Artikel in der aktuellen EMMA lesen.

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Hedda Zinner: Nur eine Frau (antiquarisch). Weitere Lite­ratur über Louise Otto-Peters: www.frauenmediaturm.de

 

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