Eigentlich sind die Zahlen deprimierend: Seit Gründung der Eidgenossenschaft im Jahr 1848 haben 2.733 männliche Parlamentarier die Geschicke der Schweiz gelenkt – aber nur 246 weibliche. 110 Bundesräte, also Minister, regierten bisher das Land – aber gerade mal sieben Bundesrätinnen.
Flavia Kleiner hat beschlossen, die Sache mit Humor zu nehmen. Deshalb hat sie Schnurrbärte gezählt. „Wisst ihr eigentlich“, fragt sie die rund hundert Frauen im Saal, „dass seit Beginn der modernen Eidgenossenschaft mehr Männer mit Schnauz im Parlament gesessen haben als Frauen überhaupt?“ Gelächter. Dasselbe gilt übrigens für Männer mit dem Vornamen Hans.
Auch Elisabeth Kopp sorgt für Lacher im Publikum. Die 82-Jährige war anno 1984 die erste Frau im Schweizer Bundesrat – und für ihre Partei, die FDP, bis dato auch die letzte. Stolze 34 Jahre haben die Liberalen keine Ministerin mehr gestellt. Auch da hilft nur Galgenhumor. „Man kann nicht ein bisschen gleichberechtigt sein“, sagt Kopp. „Man ist es – oder man ist es nicht!“ Standing Ovations für die Pionierin, die sich stets für Frauenrechte stark gemacht hatte.
Die Frauen, die am 27. September in Bern zusammengekommen sind, möchten nicht ein bisschen, sondern ganz und gar gleichberechtigt sein. Deshalb startete die Alliance F, der Dachverband von 150 Schweizer Frauenorganisationen, an diesem Tag die Kampagne „Helvetia ruft!“
Mit im „Team Helvetia“: Parlamentarierinnen der sechs großen im Nationalrat vertretenen Parteien von grün bis konservativ. Und prominente „Botschafterinnen“ wie die Regisseurin Petra Volpe oder die Sportmoderatorin Steffi Buchli.
Grund für die Kampagne: „Helvetia ist in tiefer Sorge, denn sie weiß: Eine Demokratie ist nur so gut, wie sie ihre Bürgerinnen und Bürger repräsentiert.“ Und mit der Repräsentanz der Frauen ist es auch aktuell nicht weit her. „5 Männer, 2 Frauen im Bundesrat. 39 Männer, 7 Frauen im Ständerat. 140 Männer, 60 Frauen im Nationalrat. Gerade einmal 69 Frauen gestalten aktuell die Schweizer Politik auf nationaler Ebene mit. Sieht so eine Demokratie im 21. Jahrhundert aus?“ fragen die Schweizerinnen.
Erschwerend kommt hinzu: Die Schweizerinnen waren schonmal weiter. So saßen 2010 vier Bundesrätinnen in der Regierung und hatten damit sogar die Mehrheit im siebenköpfigen Bundesrat. Doch seither schrumpft der Frauenanteil wieder beständig. Aktuell sind nur noch Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) und Umweltministerin Doris Leuthard (CVP) im Amt. Eine dritte Kandidatin scheiterte im Herbst 2017 an der Zwei-Drittel-Männer-Mehrheit im Parlament. Und wenn Ministerin Leuthard, die 2019 als dienstälteste Bundesrätin freiwillig aus der Regierung ausscheidet, durch einen Minister ersetzt würde, wäre Ministerin Sommaruga in der Regierung allein unter Männern. (Zur Erklärung: In der Schweiz sitzen, bis auf kleine Splitterparteien, quasi alle Parteien in der Regierung. Sie nominieren ihren Kandidaten – oder ihre Kandidatin – für den Bundesrat, der dann vom Parlament bestätigt werden muss. Koalitionen gibt es nicht.)
Auch im Ständerat – der Kammer des Parlaments, die von den Kantonen bestückt wird – ist der Frauenanteil im Sinkflug. Von ehemals 25 Prozent im Jahr 2003 schrumpfte er auf aktuell 15 Prozent. Und: Fünf der 26 Kantone werden komplett frauenfrei regiert.
Kurz und gut: „Wir haben einen Backlash“, sagt Jessica Zuber von der Alliance F. „Und wir müssen feststellen: Von alleine ändert sich das nicht.“ Also peilt Helvetia das Superwahljahr 2019 an. Am 20. Oktober wählen die SchweizerInnen ihr Parlament neu, also den Nationalrat und den Ständerat. Außerdem werden in vier Kantonen Parlament und Kantonsregierung gewählt. Deshalb ruft nun Helvetia, wenn frau es so formulieren möchte, zu den Waffen. In diesem Fall heißt das: Die Parteien sollen mit Kandidatinnen befeuert werden.
Schritt 1: Die Alliance F hat rund 1.000 Politikerinnen angeschrieben, um sie a) zum Weitermachen zu bewegen und sie b) für das Mentoringprogramm der Kampagne zu gewinnen. Schritt 2: Frauen sollen ermutigt werden, zu kandidieren. Auch dazu hat „Helvetia ruft!“ Frauen angeschrieben, die sich zum Beispiel in Organisationen engagieren. Auf der Kampagnen-Website gibt es aber auch die Möglichkeit, Frauen vorzuschlagen.
„Sie können eine Freundin, eine Bekannte oder eine Nachbarin nominieren, wenn Sie das Gefühl haben: Das ist eine Frau, die will ich 2019 in Bern sehen!“ erklärt Flavia Kleiner. Kleiner ist Sprecherin der „Operation Libero“, einer noch jungen Organisation, die sich „für eine weltoffene und zukunftsgewandte Schweiz“ einsetzt. Sie ist, neben Alliance F, Trägerin der Kampagne. Aus all diesen Frauen „stellen wir dann einen Kandidatinnenpool zusammen“, erklärt Jessica Zuber.
Dann startet Schritt 3: das helvetische Trainingsprogramm. „Wir bringen die Kandidatinnen zusammen, damit sie netzwerken können. Wir geben ihnen praktische Tipps und organisieren Schulungen: Wie präsentiere ich mich, wie nehme ich Raum ein?“ erklärt Zuber. Und schließlich Schritt 4: Druck auf die Parteien. Die sollen „Frauen ebenso aussichtsreiche Plätze geben wie den Männern“. Übrigens: Keine einzige Schweizer Partei hat bisher eine Frauenquote für Parlamentssitze oder Listenplätze.
Wie wichtig es aber ist, dass Frauen in Parlamenten und Regierungen angemessen vertreten sind, zeigt der jüngste Kampf um das Gesetz zur Lohngleichheit. Soeben beschloss der Nationalrat, dass künftig Schweizer Unternehmen ab 100 MitarbeiterInnen alle vier Jahre eine Lohnanalyse durchführen müssen. Diese muss von einer unabhängigen Stelle überprüft und veröffentlicht werden. Zunächst wäre das Gesetz im Frühjahr fast im Ständerat gescheitert (wir erinnern uns: 39 Männer, sieben Frauen). Der lenkte schließlich auf Druck der Frauen doch noch ein.
Aber auch im Nationalrat (140 Männer, 60 Frauen) wäre das Lohngleichheitsgesetz abgeschmettert worden – hätten nicht mehrere weibliche Abgeordnete gegen ihre Fraktion gestimmt. Das führte, für die normalerweise so gelassenen SchweizerInnen äußerst ungewöhnlich, zu einem Eklat im Parlament. Als die Genfer Abgeordnete Céline Amaudruz, ihres Zeichens Vizepräsidentin der konservativen Schweizer Volkspartei (SVP) für den Gesetzentwurf votierte, explodierte SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi und drohte Amaudruz mit dem Entzug der Vizepräsidentschaft. Die brüllte zurück: „Je m’en fous!“ Was so viel heißt wie: Mir doch egal!
Sollten viele Schweizerinnen dem Ruf der Helvetia folgen, gäbe es solche belebenden Dialoge in den Schweizer Parlamenten ab 2019 hoffentlich öfter.
Helvetia plant übrigens schon ihre nächste Attacke: einen Frauenstreik am 14. Juni 2019. Am 14. Juni 1991 hatten eine halbe Million Schweizerinnen ihre Arbeit niedergelegt und ein Gleichstellungsgesetz gefordert. Motto: „Wenn Frau will, steht alles still!“