Adèle Haenel: Ich klage an!
… Hier, im Studio des TV-Senders Mediapart. Es ist der stärkste Auftritt im Leben der in Frankreich längst berühmten Schauspielerin (die in Deutschland gerade in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ zu sehen ist). Und er erschüttert das Land. Noch nie wurde öffentlich so eindringlich, so ungeschützt – und so reflektiert über erlittene sexuelle Demütigung und Gewalt gesprochen wie in dieser einen Stunde.
„Wir müssen das Schweigen über das System der Vergewaltigung brechen“, sagt die Schauspielerin. „Denn es nutzt nur den Tätern, aber verrät die Opfer.“
Das Schweigen nutzt nur den Tätern
Es passierte, als sie zwischen 12 und 15 war, er zwischen 36 und 39. Alle wussten es, wie sich jetzt bei der Recherche der Mediapart-Journalistin Marine Turchi herausstellte. Selbst seine Schwester wusste Bescheid. Und seine Freundin trennte sich von ihm, weil er dem Kind nachstellte. Aber auch sie schützte Adèle nicht. Und er? Er leugnet bis heute. „Ich habe sie entdeckt“, antwortet er auf die Fragen der Journalisten.
Danach hatte das junge Mädchen zunächst ganz mit dem Film gebrochen. Sie fiel in eine Depression, machte einen Selbstmordversuch. 17 Jahre später war der Auslöser für das Ende ihres Schweigens eine Dokumentation über Michael Jacksons Missbrauch von Kindern. Außerdem war sie seit langem von ihrer Gefährtin, der Regisseurin Céline Sciamma (mit der sie zwei Filme gedreht hat), bestärkt worden. Bestärkt in dem Bemühen, der Verdrängung und der Scham zu entrinnen.
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Adèle Haenel, 30, hat schon zweimal den César bekommen, eine Art französischer Oscar. Dennoch hat sie es riskiert. „Ich musste reden“, sagt sie heute. „Selbst wenn es das Ende meiner Karriere gewesen wäre.“ Doch das Gegenteil ist passiert. Der Verband der französischen Filmemacher hat sich umgehend mit Haenel solidarisiert. Und ganz Frankreich redet so ernsthaft wie noch nie über „die Kultur der Vergewaltigung im Film“.
Bis dahin hatte das Problem das Land der Galanterie und der „Männer, die Frauen lieben“ (Dominique Strauss-Kahn) noch nicht wirklich erreicht. Die Strauss-Kahn-Affäre, in der ein Zimmermädchen den mächtigen IWF-Chef beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben, hatte Amerika stärker erschüttert als Frankreich. Und in Sachen MeToo machte vor allem ein von der Porno-Schriftstellerin und Galeristin Catherine Millet verfasstes „Manifest“ die Runde, in dem sie schrieb, so eine Vergewaltigung könne doch auch ganz sexy sein – und das auch Catherine Deneuve unterschrieb.
DIe Isolierung der Opfer
hat System
Die Journalistin Marine Turchi hat sieben Monate lang in der Filmbranche recherchiert und rund 30 Frauen gefunden, die bereit sind zu reden. Adèle Haenel ist die erste, die jetzt nach vorne geht. „Das bin ich denen schuldig, die es schon gewagt haben zu reden“, erklärte sie. „Sie sollen wissen, dass sie nicht alleine sind.“
„Die Isolierung der Opfer hat System“, sagt Haenel in dem Interview, das sie in Begleitung der Journalistin Turchi dem Mediapart-Chef vor laufenden Kameras gab. „Auch ich war damals allein.“
Während der Dreharbeiten zu dem Film „Geschwisterliebe“ hatte die 12-Jährige sich auf dem Set nackt ausziehen müssen. Und immer samstags beorderte der Regisseur sie in seine Wohnung, um mit ihr „über die Arbeit zu sprechen“. Adèle ging und schwieg.
„Es gibt ein System der Omertà in den Familien“, klagt Haenel heute. „Und die Justiz versagt komplett. Sie nimmt die Opfer nicht ernst. Die Justiz ist dem Problem nicht gewachsen.“ Daraufhin kündigte die Justizministerin eine Untersuchung des Falls an.
Die Scham muss das Lager wechseln
Doch Adèle Haenel will mehr. „Die Täter sind keine Monster. Es sind unsere Freunde und Väter“, sagt sie. „Das muss sich ändern! Wenn die Gesellschaft nicht so gewalttätig gegen Frauen wäre, wäre die sexuelle Gewalt Einzelner nicht möglich.“ Sie fordert: „Die Schlächter müssen sich endlich ins Gesicht sehen. Erst dann haben wir die Chance, eine menschliche Gesellschaft zu erschaffen.“
Am Ende der Live-Sendung liest Adèle einen Brief vor. Sie hatte ihn im April an ihren Vater geschrieben. Denn der hatte ihr geraten zu schweigen. Alles andere würde ihr nur schaden. „Wenn ich zu ihm ging, habe ich mich immer so schmutzig gefühlt. Ich habe mich geschämt“, schreibt die Tochter an den Vater. „Heute rede ich, damit die Scham das Lager wechselt.“
Auch der Vater hat inzwischen das Lager gewechselt. Er findet es richtig, dass seine Tochter endlich öffentlich sagt: „Ich klage an!“