Warum schämen Sie sich, Seyran Ateş?
Liebe Seyran Ateş,
ich habe Ihr Interview in der Zeit gelesen („Ich schäme mich in Grund und Boden“). Es geht darin darum, dass Sie sich 45.000 Euro vom Betreiber des Großbordells Artemis in Berlin geliehen haben, dafür in der öffentlichen Kritik stehen und sich nun rechtfertigen. Und schämen.
Wofür Sie sich schämen, habe ich allerdings nicht verstanden. Schließlich sind für Sie Bordellbetreiber ehrbare „Unternehmer“ und deren finanzielle Gewinne aus dem Handel mit Frauen zum sexuellen Gebrauch von Männern „nicht schmutzig“. Den Puff ihres Bordellbetreibers und Vertrauten (den Sie in Ihrer Korrespondenz als „mein Lieber“ bezeichnen) nennen sie „vorbildlich“.
Sie bezeichnen das Großbordell gar als eine Art sicheren Hafen für Frauen, die sich prostituieren müssen, und schreiben: „Wenn Frauen schon als Prostituierte arbeiten müssen, dann bitte wie im Artemis.“ Und dann fordern Sie auch noch eine „konsequente Legalisierung“ der Prostitution. Raten Sie etwa auch jungen Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, Geld benötigen, es doch mal im Artemis zu versuchen? Und würden Sie es auch ihrer Tochter raten?
Würden Sie auch ihrer Tochter
zur Arbeit im Bordell raten?
Lesen Sie eigentlich Zeitung? In Stuttgart ging letztes Jahr der Prozess gegen das „Wellness-Bordell“ Paradise zu Ende. Nach 56 Verhandlungstagen war klar, dass die vorgeblich sauberen „Unternehmer im Rotlichtgewerbe“ mit Zuhältern und Menschenhändlern gemeinsame Sache machen. Machen müssen. Das geht gar nicht anders. Denn die sind die Lieferanten des in solchen Großbordellen permanent benötigten „Frischfleisches“, also der - auf welchen Wegen auch immer - importierten jungen Frauen, oft sehr jungen Frauen. In Deutschland ist ja die Prostitution ab 18 Jahren legal.
Die Stuttgarter Bordellbetreiber wurden wegen „Beihilfe zur Zuhälterei und zum Menschenhandel“ zu drei bis fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie konnten allerdings überhaupt nur verurteilt werden, weil die Staatsanwaltschaft nicht lockerließ und die Kriminalpolizei über Jahre und Jahre recherchiert hat - und weil die betroffenen Frauen den ungeheuren Mut hatten, auszusagen (wofür solche Aussteigerinnen und ihre Familien in den Heimatländern nicht selten mit dem Tode bedroht werden).
Die feinen Bordellbetreiber hatten nicht etwa eigenhändig die Frauen ins Bordell geprügelt. Sie hatten ihnen auch nicht direkt das Geld der Freier abgenommen. Sie hatten allerdings mit denen kooperiert, die dieses schmutzige Geschäft erledigen. Und damit haben sie über Jahrzehnte bestens verdient (und könnten viele Kredite vergeben).
Kein Bordell kann wirtschaftlich laufen, wenn den Sexkäufern nicht ausreichend Frauen zur Verfügung stehen. Die Betreiber in Stuttgart hatten also genau das gemacht, was typisch für die Branche ist: Sie hatten sich die Armut der Frauen, die patriarchalen Strukturen in deren Herkunftsländern und die Gewalt der Zuhälter zu Nutze gemacht und ihren Profit daraus gezogen. Im Paradise-Prozess waren Polizei und Justiz entschlossen, in mühsamer Kleinarbeit die Kooperation zwischen Zuhältern und Bordellbetreibern nachzuweisen. Nur deshalb konnte das Verfahren gelingen. Im Artemis in Berlin gelang das nicht. In der Hauptstadt sieht man solche Probleme offensichtlich auch lockerer.
Immerhin gelang es aber im Oktober 2017, dem Hells Angels-Rocker Emran M. nachzuweisen, dass er seine Freundin ins Artemis geprügelt hatte. Er wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der ehemalige Fußball-Profi hatte die junge Frau, die ein Tattoo als „Property of Emran“ markierte, gezwungen, von 18 bis 5 Uhr anzuschaffen und ihm pro Schicht 1.000 Euro abzuliefern. Hakkı Şimşek hat angeblich von alldem nichts gewusst. Was er wohl noch alles nicht weiß?
Glauben Sie also im Ernst, dass die ehemaligen Vorzeigebordellbetreiber von Stuttgart, die jahrelang als „Gentlemen“ durch die Talkshows getingelt sind und über die „saubere Prostitution“ fabuliert haben, die bedauerliche Ausnahme unter den ansonsten ehrbaren Großbordellbetreibern waren?
Wem würde ein "liberaler" Umgang mit der Prostitution nutzen?
Deren Kunden, die Sexkäufer, bezahlen nicht die 80 Euro Eintritt, um die tollen Räumlichkeiten zu besichtigen. Sie zahlen, weil sie in dem Bordell eine große Auswahl der Ware Frau geboten bekommen. Und da es aus guten Gründen nicht mehr genügend „Freiwillige“ in Deutschland gibt, ist die Prostitutionsindustrie zwingend auf den Import von Zwangs- und Armutsprostituierten angewiesen.
Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite seit fast dreißig Jahren in der Beratung und Betreuung von Prostituierten. Und ich gehöre dem Verein SISTERS - für den Ausstieg aus der Prostitution! - an, der sich zur Aufgabe gemacht hat, prostituierten Frauen beim Ausstieg zu helfen. Und wir informieren Medien, Politik und Öffentlichkeit über die große Not der Frauen, die Ausbeutung und Gewalt, die der Kern der Prostitution sind.
In Deutschland werden nach aktuellen Schätzungen zur Zeit zwischen 120.000 und 400.000 Frauen prostituiert. Genaue Zahlen gibt es nicht. Der Anteil der deutschen Frauen liegt bei 10 bis maximal 20 Prozent. Der weit überwiegende Teil der Prostituierten hierzulande kommt aus dem europäischen Ausland und hier vor allem aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn, also den ärmsten Ländern. Unser vermeintlich „liberaler“ Umgang mit der Prostitution hat zur Folge, dass Menschenhandel und Zuhälterei in Deutschland kontinuierlich wachsen, kriminelle Organisationen das Rotlichtmilieu dominieren und nur noch die wenigsten Prostituierten wirklich „freiwillig“ arbeiten. Und da träumen Sie, eine Anwältin und Frauenrechtlerin, von einer „konsequenten Legalisierung“ der Prostitution? Zu wessen Nutzen? Zu dem der Frauen erwiesenermaßen nicht. Aber bestimmt zum Nutzen des lieben Hakki Şimşek, ihrem Kreditgeber und Betreiber des Berliner Großbordells.
Wissen Sie, dass die meisten Frauen in die Prostitution gezwungen werden?
Sie behaupten, Sie hätten früher als Feministin die Prostitution bekämpft. Doch würden Sie sich wirklich für Prostituierte interessieren, liebe Seyran Ateş, müssten Sie wissen, dass die meisten Frauen mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt und hier in die Prostitution gezwungen werden. Und nicht wenige dieser Frauen, oft Romas, werden von ihren Familien in die Prostitution geschickt, um Geld nach Hause zu schicken. Andere junge Frauen geraten über die Loverboy-Methode in die Prostitution. Eine Methode, mit der sich die Täter die Liebe und Unerfahrenheit der Mädchen zu Nutze machen, um sie dann in der Prostitution auszubeuten. In den Bordellen leben sie dann unter sklavenähnlichen Bedingungen. Sie werden von Zuhältern überwacht, können nicht selbst entscheiden, welchen Sexkäufer sie nehmen, welche sexuellen Praktiken sie anbieten, wem sie ihr Geld geben - und ob und wann sie aussteigen können.
Binnen weniger Wochen sind viele der Frauen physisch und psychisch so sehr geschädigt, dass sie ohne die ständige Einnahme von Schmerzmitteln nicht mehr arbeiten können. Sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, entwickeln Essstörungen und Waschzwänge. Viele von ihnen schließlich auch eine posttraumatische Belastungsstörung, die nach Beendigung der Prostitution fortwirkt und ihr ganzes weiteres Leben beeinträchtigt. In der Prostitution werden Wunden gerissen, die auch die Zeit nicht heilen kann.
Prostitution ist deshalb keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Menschenrechte!
Machen Sie sich für das Nordische Modell und die Freierbestrafung stark!
Sie kämpfen als deutsch-türkische Anwältin so mutig gegen die fundamentalistischen Islamisten (bei denen international eine der Haupteinnahmequellen der Frauenhandel und die Prostitution ist), dass der deutsche Staat sogar entschieden hat, Sie permanent durch Bodyguards schützen zu lassen. Die oft gefolterten Frauen in der Prostitution schützt niemand.
Statt sich also nun zur Kumpanin von Bordellbetreibern zu machen, könnten Sie etwas für die Frauen in der Prostitution tun. Arbeiten Sie mit in unserem Verein Sisters, gerade eine Anwältin können wir gut gebrauchen! Machen Sie sich für das so genannte Nordische Modell stark, die Bestrafung der Freier und die Förderung des Ausstiegs aus der Prostitution. Denn das wäre das Ende der Prostitution, der „weißen Sklaverei“, wie es im angelsächsischen Raum heißt. Die Bestrafung des Frauenkaufs wäre allerdings auch das Ende der Zuhälter und Salon- bzw. Großbordell-Betreiber. Die könnten dann keine Kredite mehr geben. Aber das ist nicht schlimm. Denn deren Gewinne sind schmutziges Geld. Sehr schmutziges Geld. Und Sie müssten sich dann nicht mehr schämen.
Sabine Constabel