Ärztin: Wir müssen aufklären!

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Viele Mütter machen nach einer Geburt die traumatische Erfahrung ihre „Mitte“ verloren zu haben. Sich „nach unten ungeschützt offen“ zu fühlen, ist ein Schock. Dass der Beckenboden auch im übertragenen Sinne Halt gibt, wird ihnen erst bewusst, wenn sie ihn verloren haben. Wird die muskuläre und bindegewebige Hängematte, die sich vom Kreuzbein und Steißbein hinten bis zum Schambein vorne aufspannt, zu lasch, verlieren wichtige Organteile – Harnröhre, Scheide und Darm – Form und Festigkeit. Unkontrollierter Verlust von Urin und das Absacken der Organe sind die Folge.

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Die Frauen fühlen sich zu recht regelrecht hintergangen, weil niemand es für nötig hielt, über solche Folgen einer natürlichen Geburt aufzuklären – obwohl es in Fachzeitschriften von Hebammen und FrauenärztInnen durchaus ein Thema ist. Dennoch bekommen die Schwangeren vor der Geburt nur beruhigende Sätze zu hören wie: „Wer nach der Geburt ein paar Tröpfchen verliert, bekommt das mit Beckenbodengymnastik oft wieder rasch in den Griff“. Von einem „informed consent“, einer „informierten Entscheidung“, wie sie sonst in der Medizin üblich ist, ist das weit entfernt.

„Spätestens in der Schwangerschaft“, so ExpertInnen, sollte thematisiert werden, dass alles, was das Baby schwer macht, auch eine Gefahr für den Beckenboden der Mutter darstellt. Was eben nicht Wenige betrifft: In Deutschland erreichen gut zehn Prozent der Babys ein Geburtsgewicht von 4.000 Gramm und mehr – mit jeder zehnten Schwangeren wäre also darüber zu sprechen, was da auf sie zukommen kann. Zudem entscheiden sich immer mehr Frauen erst nach Ausbildung und Berufstätigkeit für ein Kind: Schon 2017 war gut jede dritte werdende Mutter (von insgesamt 780.000) bereits 34 Jahre und älter.

Eine Schwangere ohne Aufklärung in eine natürliche Geburt gehen zu lassen, das wird immer riskanter. Zum Beispiel: Wer kleiner ist als 160 Zentimeter, älter als 35 und ein Kind erwartet, das mehr als 4.000 Gramm wiegt, läuft Gefahr, nach einer natürlichen Geburt unkontrolliert Urin zu lassen. Diese Frauen müssen mit einem Abrutschen ihrer Beckenorgane rechnen, bis hin zur Ausstülpung ihrer Gebärmutter aus der Scheide heraus.

Alter, Körpergröße und Babygewicht sind nur drei von etlichen Gefährdern. Problematisch sind auch Zangengeburten und das Herausziehen mittels Saugglocke; außerdem sehr lange Austreibungsphasen, die wegen des anhaltenden Drucks auch die Nerven im Beckenboden schädigen können.

Selbst Frauen, die eindeutig ihre Gebärmutter mit dem Finger in der Scheide ertasten, weil sie „ein Ei da unten spüren“, wiegeln viele ÄrztInnen erstmal ab. „Das vergeht wieder, das haben viele, das kommt in Ordnung, wenn sie abstillen …“, so und so ähnlich lauten die Ausflüchte. So manche Frau fühlt sich zur „neurotischen Zicke“ abgestempelt.

Oft kommt aber gar nichts mehr in Ordnung. Reißt zum Beispiel der Levator ani, der wichtigste Beckenbodenmuskel, vorne am Schambein ab, dann „vergeht“ es mitnichten. Der Beckenbodenhebermuskel bleibt gerissen und kann nicht wieder festgetackert werden. Auch Beckenbodentraining nützt dann nichts.

85 Prozent aller Frauen müssen bei vaginalen Geburten mit äußeren Verletzungen am Beckenboden rechnen. Auch wenn etliche nicht gravierend sind, benötigen doch 60 Prozent, also mehr als die Hälfte, nach der Geburt eine chirurgische Behandlung (so steht es in den aktuellen britischen Leitlinien). Auch sehr ausgedehnte Dammrisse, die die Schließmuskeln des Darmes schädigen, entscheiden manchmal über das Schicksal einer Frau. Denn wenn diese Verschlussmechanismen erstmal zerstört sind, kann man kaum noch helfen. Die Frauen verlieren unkontrolliert Wind und Kot. Sie sind häufig nicht mehr berufstauglich. Man stelle sich eine Lehrerin in der Klasse vor, der regelmäßig Pupse entweichen. Oder eine Angestellte, die im Großraumbüro anfängt zu stinken, weil völlig unbemerkt Darminhalt in die Hose geht. Ultraschalluntersuchungen haben gezeigt, dass mehr als jede Dritte der Erstgebärenden nach einer natürlichen Geburt bereits Defekte am Schließmuskel aufweist.

Was muss also passieren? Aufklärung! Vor der nächsten Geburt muss über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts gesprochen werden, um das Risiko einer schlimmeren Schließmuskelverletzung zu minimieren. Aber das passiert nicht. Die meisten GeburtshelferInnen, ÄrztInnen wie Hebammen, machen einen großen Bogen um das Thema. Nicht einmal im Geburtsvorbereitungskurs kommt es zur Sprache.

Dabei sollte Aufklärung Pflicht sein, damit Schwangere selbst entscheiden können, ob sie eine natürliche Geburt oder einen Kaiserschnitt wollen!

Oft erfahren die Opfer erst in einschlägigen Facebookgruppen, dass es nicht nur ihnen so geht. Sie hören erstmals von spezialisierten Physiotherapeutinnen, die für die Behandlung von Beckenbodenversehrten eigens qualifiziert sind oder von Beckenbodenzentren, in denen speziell ausgebildete UrogynäkologInnen sich ihrer Nöte annehmen. Häufig ist dann schon wertvolle Zeit vergangen und versäumt worden, etwa mit einem Pessar, dem überdehnten Beckenboden in der ersten Zeit nach der Geburt Halt zu geben.

Übrigens: Wenn nicht richtig aufgeklärt wurde, kann das Ansprüche begründen. Das gilt auch für die mangelnde Diagnose der Risiken. Eines der letzten Urteile des Bundesgerichtshofes lautete, dass über die Möglichkeit eines Kaiserschnittes rechtzeitig aufzuklären sei, wenn sich im Verlauf der Geburt Komplikationen anbahnten. Damit sind auch drohende Beckenbodenschäden gemeint.

Aber besser vorher aufklären lassen und sich für das Recht auf Aufklärung einsetzen.

Martina Lenzen-Schulte

Mehr zum Thema
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TherapeutInnen für Beckenbodengeschädigte: ag-ggup.de/therapeutenliste/therapeutenliste-beckenboden

Kaiserschnitt oder natürliche Geburt? (1/15)
 

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Beckenbodenschäden: 300.000 Euro erklagt

Foto: Bettina Flitner
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Wollten Sie eine natürliche Geburt?
Ja! Eine natürliche Geburt war für mich das „Normale“ und „Richtige“. Ein Kaiserschnitt schien mir einem Versagen gleichzukommen. Eine Mutter, die es noch nicht einmal schafft, ihr eigenes Kind auf die Welt zu bringen, ist ja gar keine richtige Mutter. Das ist zumindest das, was mir hebammenseits immer vermittelt worden ist.

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Was passierte dann bei der Geburt?
Anfangs lief alles wie im Bilderbuch. Erträgliche Wehen, ein sich zügig öffnender Muttermund. Doch dann kam es zum Geburtsstillstand. Zwei Stunden lang tat sich gar nichts. Eigentlich hätte ich nun einen Kaiserschnitt bekommen müssen. Es kam ein Gynäkologe – wohlgemerkt kein Anästhesist wie im Behandlungsvertrag vereinbart –, der mir eine überdosierte PDA spritzte. Danach war ich von der Brust ab taub. Ich lag da und habe nichts mehr gespürt, mehrere Stunden lang. Dann kam der Arzt und schmiss sich mit voller Kraft auf meinen Bauch. Ich dachte, ich zerreiße. Den Dammschnitt habe ich nicht einmal gespürt. Dann hat er die Geburtszange genommen und das Kind rausgeholt. Meinem Sohn ging es soweit gut – doch bei mir war alles kaputt.

Was heißt das?
Mir ging es sehr schlecht und ich konnte keinen Urin mehr lassen. Mit einem Blasenkatheter wurden dann große Mengen herausgeholt. Das sei alles ganz normal, sagten mir die Schwestern. Da habe ich noch nicht gewusst, welche Schäden ich erlitten hatte. Eine Woche nach der Entlassung aus der Klinik ging der Dammschnitt auf. Man sagte mir, alles würde verheilen. Ich konnte lange Zeit nicht laufen. Auch das wurde mir als normal verkauft.

Und wann haben Sie realisiert, dass etwas schiefgelaufen ist?
Ich musste auch Monate nach der Geburt noch immer in kurzen Intervallen zur Toilette. „Du musst mehr Rückbildung machen“, hieß es von allen Seiten. Ich habe drei Kurse gemacht, aber nichts wurde besser. Ein Muskel, der gerissen ist, kann eben kaum trainiert werden. Auch habe ich oft Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.

Was haben die Ärzte gesagt?
Der Klinikarzt hat alles runtergespielt, nach dem Motto: Da müssen Frauen halt durch, das tut man fürs Kind. Ich war bei mehreren Urologen. Keiner von ihnen hat meinen Beckenboden untersucht. „Reizblase“ lautete ihre Diagnose. Einer vermutete ein psychisches Problem. Ich wurde nach einem Jahr wieder schwanger.

Und wie verlief es diesmal?
Relativ schnell. Das Kind ist mir mehr oder weniger rausgefallen. Heute weiß ich warum: Weil alles kaputt war. Meine Beschwerden blieben unverändert. Vier Monate nach der Geburt bin ich von meinem Frauenarzt in ein Beckenbodenzentrum überwiesen worden. Dort wurde endlich festgestellt, was bereits bei der ersten Geburt pas­siert war: ein schwerer Beckenbodenschaden und ein Nervenschaden am Plexus Praesacralis, dem Nervengeflecht im unteren Rücken. Dort ent­springt auch der Nervus Pudendus, der das Becken und Blase und Darm versorgt. Hätten die Ärzte damals einen Kaiserschnitt gemacht, wäre mir all das erspart geblieben.

Und heute?
Ich bin nachts zirka zehn Mal wach und muss Urin lassen. Dadurch bin ich immer übermüdet. Außerdem ist zu der Blasen­ noch eine Stuhl­inkontinenz dazugekommen. Ich kann weichen Stuhl nicht mehr halten, ich verliere Winde. Ich kann nirgendwo hingehen, wo keine Toilette in der Nähe ist. Wenn ich längere Zeit laufe, werden meine Beine taub. Im Januar wollte ich eigentlich wieder anfangen zu arbeiten, doch ich bin noch arbeitsunfähig. Ich habe einen Grad der Behinde­rung beantragt. Den Pflegegrad eins habe ich bereits bekommen. Meine Berufsunfähigkeitsversiche­rung zahlt dauerhaft meine Rente. Zum Glück habe ich diese Versicherung. Viele betroffene Frauen, die ich kenne, haben sie nicht.

Wann haben Sie denn gemerkt, dass Sie kein Einzelfall sind?
Kaum ein Arzt sagt offen: Das ist ein Schaden, der bei einer natürlichen Geburt entstanden ist. Dann gäbe es viele Klagen. Nach langem Suchen habe ich Spezialisten ausfindig gemacht, die mich auf­geklärt haben. Da habe ich gemerkt, dass ich bei weitem nicht die Einzige bin. Viele Frauen tragen schwere Schäden durch die natürliche Geburt davon: abgesenkte Beckenböden, Nervenschäden und Muskelabrisse. Es sind junge Frauen, die nun für den Rest ihres Lebens behindert sind.

Waren es bei diesen Frauen auch Arztfehler?
Nein. Das kann man so nicht immer sagen. Sie wurden aber meist schlicht schlecht beraten. Viele von ihnen hätten einfach einen Kaiser­schnitt machen lassen sollen, dann wären sie heute nicht inkontinent oder hätten eine abge­senkte Gebärmutter. Viele von ihnen hatten eine Zangengeburt. Die Zange muss endlich verboten werden! In anderen europäischen Ländern ist sie das längst: Doch in Deutschland gibt es immer noch Ärzte, die diese Methode praktizieren, obwohl sie Frauen nachweislich schädigt. Beim Aushändigen des Mutterpasses werden wir über Toxoplasmose und andere Dinge aufgeklärt. Warum nicht auch über Risiken der natürlichen Geburt? Das individuelle Risiko kann mithilfe des UR Choice­Rechners kalkuliert werden. Ein Hin­weis darauf im Mutterpass könnte viele Mütter vor schweren Schäden bewahren.

Warum ist das in Deutschland so?
Geburten bringen den Kliniken kein Geld, das ist die eine Seite. Die andere ist: Mutterschaft ist bei uns noch enorm ideologisch aufgeladen. Du musst als Frau bereit sein, für dein Kind zu leiden. Jede Voruntersuchung, jeder Geburtsvorberei­tungskurs, alles dreht sich ums Kind. Und dann noch diese Verklärung der Natürlichkeit. Ein Bypass am Herzen ist auch nicht natürlich, aber er rettet Leben. Am schlimmsten finde ich die Unmündigkeit der Schwangeren. Wer ein Kind bekommt, befindet sich in einer absoluten Not­situation. Man ist den Ärzten ausgeliefert. Ist der Kreißsaal frei? Sind die richtigen Ärzte vor Ort? Wollen sie mein Bestes oder nur schnell fertig werden? Das betrifft Millionen von Frauen. So etwas würde Männern nicht passieren. Jede Meniskusverletzung wird ernster genommen als eine Verletzung, die durch die Geburt passiert ist.

Es geht also um Grundsätzliches?
Ja. Es ist wie mit der Abtreibung. Ich will das selbst entscheiden! Wenn eine Frau einen Kaiser­schnitt wünscht – und sei es, weil sie Angst vor Schmerzen hat – dann ist das ihr gutes Recht. Mir wurde das genommen.

Buchtipp: Martina Lenzen-Schulte: "Untenrum offen“ (Eden Books). Die Ärztin und Medizin-Journalistin plädiert dafür, Beckenbodenschäden nicht länger zu verharmlosen und tabuisierern.

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