MLF wird 50: Allons les filles!
26. August 1970. Neun Frauen überqueren die Champs-Élysées und nähern sich dem Arc de Triomphe. In ihrer Mitte tragen sie ein Blumengesteck mit einer Schärpe, auf der steht: „Für die unbekannte Frau des unbekannten Soldaten“. Zielstrebig schreiten sie auf das Grab des unbekannten Soldaten zu, das unter dem Arc steht und auf dem eine ewige Flamme brennt. Die gilt dem unbekannten Toten aus dem Ersten Weltkrieg, ja allen gefallenen Soldaten. Der unbekannten Frau des unbekannten Soldaten gilt sie nicht. Das wollen die neun nun ändern.
Der Frauentrupp ist noch nicht ganz am Grabmal angekommen, da tritt ihm die Polizei entgegen. Denn das hier ist ein heiliger Ort, hier wird nicht protestiert. Da nutzt es auch nichts, dass unter den neun zwei bekannte Schriftstellerinnen sind, Monique Wittig und Christiane Rochefort, und eine unbekannte Stripteasetänzerin aus dem Crazy Horse, Monique Bourroux.
Neun Frauen festgenommen am Arc de Triomphe - ein unerhörtes Event!
PassantInnen bleiben stehen. Vorab informierte Journalisten rufen: „Wehrt euch!“ Kameras klicken. Mikros werden hingehalten. Doch nichts zu machen: Die neun werden abgeführt in die Wache gleich nebenan, die in einem der Pfeiler des Arc residiert. Dort nerven die Frauen die Polizisten über Stunden durch das Schmettern von auf Heldinnen umgeschriebenen Heldenliedern. Gegen Abend werden sie vor die Tür gesetzt.
Am nächsten Morgen titeln quasi alle Pariser Tageszeitungen mit dem unerhörten Event. Mitten im Sommerloch ist das Spektakel herzlich willkommen. Und die Medien geben den Frauen auch bald einen Namen: „Le Mouvement de libération des femmes“. Die Bewegung zur Befreiung der Frauen: le MLF. Die Frauenbewegung in Frankreich ist geboren – und sollte von nun an Freude und Schrecken verbreiten.
Ab da ging es Schlag auf Schlag. Wenige Wochen später sind aus den neun schon ein paar hundert geworden. Ich bin dabei. Wir treffen uns jeden Mittwochabend in einem großen Saal im ersten Stock der Beaux Art an der Seine und wissen kaum, wohin mit all unserem Elan und unserer Leidenschaft. Jede redet, und wer am lautesten redet, schafft es, gehört zu werden. Wir nennen uns: Féministes Révolutionnaires oder Gouines Rouges (Rote Lesben) oder Oreilles Vertes (Grüne Ohren). Wir schreiben Flugblätter, Gedichte und Lieder. Wir singen und schreien. Und wenn wir abends gegen 22 Uhr die Rue Bonaparte Richtung Saint-Germain hochstürmen, kneifen wir auch schon mal einem harmlosen Passanten in den Hintern.
Sie schreiben Flugblätter, Gedichte, Lieder.
Mit Elan und Leidenschaft
Im Dezember 1970 erscheint die erste von sieben Ausgaben des Torchon brûle (wörtlich: brennendes Spültuch, übertragen: Der Haussegen hängt schief). Jede der sieben Ausgaben wird von einer anderen Gruppe gemacht. Am 5. April 1971 erscheint das von einigen unter uns initiierte „Manifest der 343“, darunter auch die neun vom Arc de Triomphe. Die 343 Französinnen erklären: „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht dazu für jede Frau!“ Auch Simone de Beauvoir ist inzwischen mit von der Partie. Neun Wochen später, am 6. Juni 1971, wird ein ganz ähnliches Manifest im (k)Stern erscheinen. Ich hatte die Idee nach Deutschland exportiert. Dieses Manifest der 374 sollte zum Auslöser der deutschen Frauenbewegung werden.
Doch ganz wie in Deutschland war auch die französische Frauenbewegung nicht aus dem Nichts gekommen. Es hatte schon vorher rumort, auf den Barrikaden von Mai 68, an den Universitäten und vor allem in der „Roten Fakultät Vincennes“, die 1969 am Rand von Paris gegründet worden war und Sammelbecken und Brutstätte der Post-68er und sozialen Bewegungen wurde.
In Vincennes hatten Studentinnen bereits im Frühling 1970 eine erste Vollversammlung abgehalten. Die war von linken Machos mit dem Slogan gestürmt worden: „Le pouvoir est au bout du phallus“ (Die Macht ist an der Spitze des Phallus). Die Frauen antworteten ein paar Tage später mit einer Demo und Slogans wie: „Wir sind alle hysterisch!“ – „Wir sind alle frustriert!“ – „Wir sind alle lesbisch!“ – Damit machten sie die Klischees über sie zu einer ironischen Waffe.
Die neuen Feministinnen glaubten, sie seien die ersten in der Geschichte
Im Juli 1970 war eine Ausgabe des Partisan (das französische Kursbuch) erschienen mit dem Titel: „Libération des Femmes, l’an zéro“. Da glaubten die neuen Feministinnen noch, sie seien die ersten in der Geschichte, es schlage die Stunde Null. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis sie ihre Vorgängerinnen entdeckten, in Frankreich wie Deutschland.
Auf den 26. August 1970, der aus Solidarität mit den am gleichen Tag demonstrierenden Amerikanerinnen gewählt worden war, folgte eine wahre Kulturrevolution. Der MLF war rasch in aller Munde, zur Freude vieler Frauen und zum Schrecken einiger Männer. Aktionen, Projekte, Bewusstseinsveränderungen und Gesetzesänderungen, Verschiebung der Machtverhältnisse.
Cathy Bernheim, eine der neun vor 50 Jahren am Arc de Triomphe und damals 24 Jahre alt, ruft heute, zusammen mit weiteren Frauen der ersten Stunde, bekannte und unbekannte Frauen, auf: Kommt alle am 26. August zum Arc de Triomphe! Wir haben Grund zum Feiern!