Demokraten: Kein Sturm aufs Kapitol

Trump-Anhänger erstürmen das Capitol in Washington. - Foto: imago images / ZUMA Wire
Artikel teilen

Man kann schockiert sein – aber nicht überrascht. Seit Monaten kündigt sich an, dass zwar eine Wiederwahl Trumps bedrückend wäre – aber fast noch bedrückender der Gedanke: Was wird dieser Mann tun, wenn er die Wahl verliert? „Machen Sie sich auf gefährliche Zeiten gefasst“, warnte die renommierte US-Psychiaterin Judith L. Herman bereits im August 2020 in EMMA.

Anzeige

Jetzt wissen wir, was er tut. Er schwingt sich zum Herrn über die Realität auf, verkündet seine Wahrheit als allgemeingültig und stachelt seine AnhängerInnen zum Sturm auf den Kongress auf. Die Bilder vom 6. Januar 2021 werden sich unauslöschbar in das Gedächtnis Amerikas, ja der Welt eingraben: ein Fahnen-schwingender, zum Teil schwer bewaffneter Mob stürmt das Kapitol und dringt bis ins Innerste der Demokratie vor. Gewählte PolitikerInnen und MitarbeiterInnen werfen sich in Todesangst auf den Boden und werden vor den viel zu wenigen Polizisten hastig in Sicherheit gebracht.

Psychiaterin Judith Herman warnte: "Machen Sie sich auf gefährliche Zeiten gefasst!"

Derweil gröhlen vor dem Kongress die von Präsident Trump persönlich aufgestachelten Massen weiter, klettern Männer die Wände des Gebäudes hoch, schlagen Fenster ein, vandalisieren die heiligen Hallen der Demokratie. In der Menge etwa 20 Prozent Frauen – und ein Prozent Schwarze. Die Szenen zeigen naive Männer und Frauen, die den Tränen nahe tatsächlich zu glauben scheinen, man habe sie um ihre Wahl betrogen – bis hin zu martialisch aufgerüsteten Männern, die im Krieger-Outfit daherstolzieren.

Währenddessen twittert der – inzwischen auf den Sozialen Medien zeitweise gesperrte – amtierende Präsident über den Mob, „ihr seid etwas ganz Besonderes“ und faselt weiterhin von einer „gestohlenen Wahl“.

Glaubt er selbst, was er sagt? Oder manipuliert er die Menschen bewusst? Schwer zu sagen. Psychiaterin Herman und etliche KollegInnen hatten schon 2016 direkt nach der Wahl den noch amtierenden Präsidenten Obama aufgefordert, Trump auf seinen körperlichen und seelischen Gesundheitszustand untersuchen zu lassen. Vergebens.

Dass Trump sich aufführt, wie er sich aufführt, ist also keine Überraschung. Dass eine demokratische Partei wie die Republikaner und ihre potenten Gönner einen Mann wie Trump überhaupt zum Kandidaten für die Präsidentschaft machen und dann auch noch seinen Wahlkampf unterstützen, das ist der wahre Skandal! Sie sind es, die Verantwortlichen. Trump ist ein Wahnsinniger oder Krimineller, vermutlich beides zugleich. Aber ein System, eine Partei und Menschen, die so jemanden in die Position des Leader kommen lassen, sind undemokratisch, unverantwortlich, ja gemeingefährlich.

Ist dieser Aufruhr der weißen Old Boys ein letztes Aufbäumen – oder erst der Anfang eines Aufstandes, der verhindern will, dass auch Frauen, Farbige und Besonnene aller Geschlechter, Farben und Herkunft, an der Macht teilhaben?

Der Aufruhr der weißen Old Boys: ein letztes Aufbäumen – oder Anfang eines Aufstandes?

Wird Trump es in den bevorstehenden zwei Wochen seiner Noch-Amtszeit schaffen, die amerikanische Demokratie, die schon lange viele Brüche hat, noch mehr zu zerstören? Reißt er bei seinem Niedergang ein Stück Amerika und westliche Welt mit?

Gerade wir Deutschen wissen aus unserer Geschichte, wohin das führen und wie schnell das gehen kann. Und längst hat der Trump-Bazillus ja auch auf die ganze Welt übergegriffen.

Die besonnene, ja demütige Rede des zukünftigen Präsidenten Joe Biden noch am Tag des Aufruhrs macht Hoffnung. Und die Existenz einer Frau wie Kamala Harris als Vizepräsidentin sowieso.

Aber wie viele der erhitzten Hälfte des amerikanischen Volkes, das Trump gewählt hat, überhaupt noch erreichbar sind, ist unklar. Auch die Bilder von einem geifernden, hysterischen Hitler inmitten der entzückten Massen lösen rückwirkend ja Kopfschütteln aus. Aber eben nur rückwirkend und nach zwölf Jahren Grauen, das ausländische Mächte in die Knie zwingen mussten.

Und vor allem: Werden die Mächte, die einen Mann wie Trump kalt und machtgierig an die Spitze des Staates gebracht haben, sich besinnen? Bekommen Demokratie und Aufklärung eine Chance gegen den Machtwahn dieser Proud Boys?

ALICE SCHWARZER

Artikel teilen
 
Zur Startseite