Jeanine Meerapfel: Ein weiter Weg

Jeanine Meerapfel - Foto: Gerald Zörner/Gezett/imago images
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Kaum ein Jahr liegt unsere letzte Begegnung zurück, doch es fühlt sich an wie eine Epoche. Damals ist die Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin ein Haus voller Leben. Im gläsernen Plenarsaal hält Jeanine Meerapfel eine Hommage an den verstorbenen Schriftsteller György Konrád. Sie spricht mit Wärme und Humor, so gar nicht amtlich in ihrer Funktion als Präsidentin. Am Ende mischt sie sich unter das Publikum, plaudert in mehreren Sprachen, umarmt Freunde, stellt Menschen einander vor.

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Jetzt, an einem Wintertag im zweiten Lockdown, ist die Akademie ein schlafender Ort, seit Monaten in den Stillstand versetzt, selbst der Buchladen im Entrée ist geschlossen. Jeanine Meerapfel verbeugt sich leicht, die Arme vor der Brust gekreuzt. Sie begrüßt den Gast so herzlich, wie es ihr unter den Umständen möglich ist, ihr freundlicher Blick verringert die Distanz.

Die Politik hat das kulturelle Leben schon Anfang November ausgeknipst. Jeanine Meerapfel warnt: „Wenn man über einen langen Zeitraum Kunst und Kultur stilllegt, werden enorme Verluste entstehen. Kunst heißt auch Mitfühlen und Miterleben, und das macht uns aus als Menschen.“

Die 77-jährige Regisseurin leitet eines der ältesten Kulturinstitute Europas. Zwei Häuser mit unverwechselbarer Aura, ein Archiv voller kostbarer Nachlässe sowie ein Bildungsprogramm für Kinder und Jugendliche gehören ebenso dazu wie zahlreiche öffentliche Konferenzen mit Künstlern und Wissenschaftlern.

Beharrlich fordert Jeanine Meerapfel die Politik auf, die Kultur mit als Erstes zu öffnen. Zumal Kinos, Museen und Theater schon im letzten Jahr ausgeklügelte Hygiene-Konzepte umgesetzt haben. Lamentieren kommt für Jeanine Meerapfel nicht in Frage. Selbstbezogenheit ebenso wenig. Früh bewegte sie sich jenseits der Grenzen eines Landes, einer Sprache.

Geboren wurde Meerapfel 1943 in Buenos Aires, als Kind jüdischer Emigranten. Der Vater stammte aus dem Badischen, die Mutter war Französin. In den Nachkriegsjahren trennte sich das Paar, die Mutter lebte mit den beiden Töchtern in materieller Not. Und doch hat Jeanine Meerapfel etwas anderes geprägt: „Sie alle haben mich als Kind wahrgenommen, und wenn Eltern Kinder wahrnehmen als Menschen und sie als solche wachsen lassen, dann kriegt man Kraft, und diese Kraft ist durch nichts zu ersetzen.“

Bei Dreharbeiten des Dokumentarfilms "Desembarcos"

Bei Dreharbeiten des Dokumentarfilms "Desembarcos"

Jeanine Meerapfel hat diese Kraft als Regisseurin vor allem den Frauen geschenkt, den starken, verletzlichen, suchenden Frauen ihrer Filme. Frauen, die gegen Gewalt aufstehen, wie die demonstrierenden Mütter der Plaza del Mayo in Buenos Aires. In „La Amiga“ spielte Liv Ullmann so eine Mutter, deren Sohn während der Militärdiktatur verschleppt wurde. Im Dokumentarfilm „Die Kümmeltürkin geht“ spürt die Regisseurin dem Druck nach, der eine eigenwillige, in kein Klischee passende türkische Frau zermürbt. In „Annas Sommer“ hadert Angela Molina mit einem schwierigen Erbe. In „Ein deutscher Freund“ sind es Liebende, die einander verfehlen, zu schwer tragen sie an der Last ihrer Familien.

Mit der Suche nach ihrer jüdischen Identität hat sich Jeanine Meerapfel erst nach ihrer Ankunft in Deutschland beschäftigt. Heute sagt sie: „Mein kritisches Bewusstsein gegenüber diesem Land ist größer geworden.“ In der Akademie stößt sie Debatten über den wieder erstarkenden Rassismus und Antisemitismus an. Doch sie sagt auch: „Ich liebe dieses Land nach wie vor.“

Ausgerechnet in der schwäbischen Provinz, an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, hatte sie als eine der ersten Frauen in den 1960er Jahren Film studiert. Es war die Zeit der Studentenunruhen, aber ihr politisches Denken verleitete sie nie zu einem Kino der Thesen.

Ihr jüngster Film heißt „Eine Frau“. Wenn alles gutgeht, wird er im Frühjahr 2021 zu sehen sein. In einem visuellen Essay spürt sie dem Leben ihrer Mutter nach, aber auch dem ihrer Schwester, und natürlich, sagt sie, handle der Film auch von ihr selbst. Also doch eine Autobiografie? Nein. Aber: „Ich bin es, die erzählt.“

CHRISTINA BYLOW

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