Esther Muinjangue: Die Herero

Foto: Hildegard Titus/Getty Images
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Die 58 Jahre alte Muinjangue ist selbst eine Herero. Von 1904 bis 1908 hatten sogenannte deutsche Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika Aufstände der beiden Volksgruppen brutal niedergeschlagen. Zehntausende Menschen wurden getötet, vertrieben, viele Frauen von deutschen Soldaten vergewaltigt. Auch ihr Großvater sei das „Produkt“ einer Vergewaltigung gewesen, sagt sie fast beiläufig. Die deutsche Kolonialzeit sei bis heute präsent: im Alltagsleben, auf Straßenschildern, in Songs junger Musiker.

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Muinjangue ist eine der international bekanntesten Herero-Aktivistinnen. Als Mitgründerin der Ovaherero-Genozid-Stiftung macht sie seit zwei Jahrzehnten auf die Gräueltaten aufmerksam, setzt sich dafür ein, dass sie von Deutschland als Völkermord anerkannt und die Nachfahren der Opfer entschädigt werden. Im Juni 2021 hatten die deutsche und namibische Regierung ein sogenanntes „Aussöhnungsabkommen“ vorgelegt.

Esther Muinjangue (3.v.l.) 2017 auf dem „Gedenkmarsch Kolonialgeschichte“ in Berlin. - Foto: IPON/Imago
Esther Muinjangue (3.v.l.) 2017 auf dem „Gedenkmarsch Kolonialgeschichte“ in Berlin. - Foto: IPON/Imago

Sechs Jahre wurde darüber verhandelt, am Ende sprachen beide Seiten von einem „historischen Moment“ – aber Muinjangue nicht. Im September ging sie mit vielen anderen Herero und Nama zu Protesten auf die Straße, einige versuchten, das Parlament zu stürmen. Bis Redaktionsschluss hatten die Abgeordneten das Abkommen nicht ratifiziert.

Muinjangue ist wütend. Schon die Bezeichnung des Abkommens sei eine Beleidigung, sagt sie. „Warum ist von Versöhnung die Rede? Die Herero und Nama haben keine Menschen in Deutschland umgebracht, wir müssen uns mit niemandem versöhnen.“ Statt mit Vertretern einiger Interessensgruppen hätte die deutsche Regierung mit allen verhandeln müssen. Wiedergutmachung könne zudem nur über Reparationen erreicht werden. Entwicklungshilfen – Deutschland will über 30 Jahre hinweg 1,1 Milliarden Euro in  Entwicklungsprojekte investieren – könnten sie nicht ersetzen. Empört ist Muinjangue auch darüber, dass die deutsche Regierung so über die Verwendung des Geldes entscheiden würde. „Woher kennt sie unsere Bedürfnisse? Warum können wir nicht entscheiden, wie wir das Geld investieren?“

Muinjangue ist seit jeher eine Frau klarer Worte. Schon von frühen Jahren an hat sie gelernt, ihren Weg zu gehen, sich auch den traditionellen Vorstellungen in ihrem Land über die Rolle der Frau zu widersetzen. Für viele Namibierinnen ist sie zu einem Vorbild geworden.

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Aufgewachsen in armen Verhältnissen machte sie zunächst eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin, studierte an der heutigen University of Namibia, wo sie später einen Lehrauftrag erhielt. Im März 2019 wurde sie zur Parteivorsitzenden der kleinen Oppositionspartei NUDO gewählt. Sie führt als erste Frau eine Partei in Namibia. Im gleichen Jahr kandidierte sie in den nationalen Präsidentschaftswahlen, wiederum als erste Frau in der Geschichte des Landes.

Trotz eines mageren Wahlergebnisses lässt sie sich in ihrem Tatendrang nicht bremsen. Ihr sei es nicht um den Sieg gegangen, sagt sie. Sie habe beweisen wollen, dass Frauen sich ebenso hohe politische Ziele setzen können wie Männer. Im gleichen Jahr erlangte sie ihren Doktortitel von der Universität Stellenbosch in Südafrika. Obwohl sie der Opposition angehört, wurde sie vom Präsidenten zur Vize-Gesundheitsministerin ernannt. Oft stößt sie kontroverse Debatten an, beispielsweise über das Recht auf Abtreibung, für das sie kämpft.

Am leidenschaftlichsten aber engagiert sich die stolze Herero – zu feierlichen Anlässen ist sie in der Tracht mit breitem Hut und langem Rock zu sehen – für die Entschädigungsfrage.

„Ein Abkommen hat nur das Ziel erreicht, wenn alle zufrieden sind. Das ist hier nicht der Fall“, sagt sie bestimmt und setzt hinzu: „Wir haben mehr als 100 Jahre auf die Anerkennung des Genozids gewartet. Wir können noch länger kämpfen.“

CLAUDIA BRÖLL

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