Au revoir les hommes?
Wird in Frankreich „das tausendjährige Patriarchat“ abgewickelt? Für Eric Zemmour, den rechtsradikalen Kandidaten für die Präsidentschaft, ging das Patriarchat vor einem Jahrzehnt in New York zu Ende: als Dominique Strauss-Kahn, Kronfavorit für die Nachfolge von Präsident Sarkozy, ins Gefängnis gesteckt wurde. Die Anklage lautete auf „Vergewaltigung“ – für Zemmour allerdings war das die „Kastration aller Franzosen“. In der „traditionellen Gesellschaft“, schreibt er in seinem Buch zum Wahlkampf, „gehört der sexuelle Hunger zur Macht“. O-Ton: „Die Frauen sind das Ziel und die Beute jedes Mannes, der in der Gesellschaft nach oben will. Die Frauen wissen das, sie wählen und hätscheln ihn.“
Ahnungsvoll deutete Zemmour an, dass er selbst zur Zielscheibe gleichlautender Vorwürfe werden könnte. Tatsächlich bezichtigen ihn mehrere Frauen der sexuellen Belästigung. Die Paparazzi – die schon François Hollande bei seinem nächtlichen Seitensprung auflauerten – fotografierten Zemmour im Sommer 2021 beim Baden im Meer, eng umschlugen mit Sarah Knafo: Seine Wahlkampfleiterin, noch keine dreißig Jahre alt, ist schwanger. Ein paar Tage nach der Wahl wird Zemmour, 63, verheiratet und Vater dreier Kinder, also nochmals Papa. Und will dennoch durchaus Präsident werden.
Auch der sozialistische Präsident François Mitterrand hatte schließlich eine außereheliche Tochter. Als er starb, standen zwei Witwen an seinem Grab. Im vergangenen Herbst veröffentlichte eine weitere bislang unbekannte Geliebte ihre Memoiren: Sie war Studentin, während Mitterands langer Regentschaft hatte sie täglich Kontakt mit ihm, regelmäßig besuchte sie ihn im Elysée.
Über politische Erfahrung verfügt der Journalist Zemmour nicht. Nur sein „sexueller Hunger“ und sein Hang zum Patriarchat scheinen ihn für die Präsidentschaft zu prädestinieren.
Lange war #MeToo in Frankreich folgenlos geblieben. Doch inzwischen erschüttern zahlreiche Missbrauchs- und Vergewaltigungsaffären die Gesellschaft. Auch mit Minderjährigen – Inzest inklusive. In die Skandale sind prominente Intellektuelle, Journalisten und Politiker verwickelt – zuletzt Macrons Ex-Umweltminister Nicolas Hulot, der als moralische Instanz verehrt worden war. Auch Innenminister Darmanin musste sich gegen den Vorwurf einer Vergewaltigung wehren.
Zemmours Wahl ist noch unwahrscheinlicher, als es jene von Donald Trump war. Noch mehr als die Angst vor Frankreichs Niedergang, der Einwanderung, der Unsicherheit und dem Islam beseelt die Angst der Männer vor den Frauen Zemmours Wahlkampf. Dem könnte abgeholfen werden. Als Präsident will Zemmour alle Gleichstellungs-Quoten abschaffen und das Gendern – die inklusive Schreibweise – verbieten. Vor seinem letzten Bestseller „Der französische Suizid“ veröffentlichte er eine Kampfansage an die Feministen. Das Buch ist nach seinen Worten nicht weniger als eine Antwort auf den Klassiker von Simone de Beauvoir: „Das andere Geschlecht“.
Wie der rechtsradikale Eric Zemmour führt auch die linksradikale Ökofeministin Sandrine Rousseau den Wahlkampf als Krieg der Geschlechter. Ihr Programm ist die „Dekonstruktion“ der Männer. Die „Woke“-Aktivistin Rousseau will die Ausbeutung der Frauen, Schwarzen und der Natur beenden. Und den Kapitalismus abschaffen. Ihr Kampf gegen das Patriarchat und dessen „Kultur der Vergewaltigung“ (Rousseau) ist an das Engagement gegen den Kolonialismus, Rassismus und die „Islamophobie“ gekoppelt. Ganz knapp nur – mit 49 Prozent – hat Rousseau die Vorwahl der Grünen gegen den „Realo“ Yannick Jadot verloren. Seither tritt sie als Vizekandidatin auf und führt zumindest ansatzweise einen separaten Wahlkampf.
Die Wählerinnen werden eine Wahl entscheiden, in der es wie nie zuvor um die Geschlechter geht und der Triumph einer Frau wahrscheinlicher ist als ein Sieg Zemmours. Sie machen 52 Prozent der Bevölkerung aus. Entschiedener als die Männer halten sie Distanz zu den Rechtsradikalen. Das war schon so, als der Neofaschist Jean-Marie Le Pen vor zwanzig Jahren in die Stichwahl kam. Einer Umfrage zufolge sind nur 12 Prozent der Wählerinnen bereit, ihre Stimme Zemmour zu geben. 66 Prozent fürchten um ihre Rechte, falls er gewinnen sollte.
Die Republik hat viele Quoten und Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter erlassen. Doch die Machtausübung ist eine monarchistische geblieben und wird von Männern dominiert. Zum letzten Mal seit dem Krieg gab es eine Premierministerin: unter Mitterrand, vor dreißig Jahren. Zehn Monate blieb Edith Cresson im Amt. Als die Sozialistin Ségolène Royal 2007 die Vorwahl gegen Strauß-Kahn und den früheren Premierminister Laurent Fabius gewann, spotteten die Genossen: „Und wer hütet jetzt die Kinder?“ (Sie hat vier Kinder, zusammen mit dem späteren Präsidenten François Hollande.)
Im aktuellen Wahlkampf liefern sich die linken Kandidatinnen Anne Hidalgo und Christine Taubira ein Geplänkel, dass mal als „Hahnenkampf“ gallischer Gockel mal als „Zickenkrieg“ bezeichnet wird.
Die Republikaner, die einen virilen Kult des Chefs pflegen und noch nie von einer Frau geführt wurden, kürten Valérie Pécresse. Ihr hatte niemand auch nur die geringste Chance eingeräumt. Als „la blonde“ wurde sie belächelt – obwohl sie Ministerin war und die Region Paris regiert. Gegen vier Männer setzte sie sich durch. Und alle mussten aufs Gruppenbild mit der strahlenden Siegerin.
„Sie hat einen Mann und eine Partei, die sie unterstützen“, kommentierte Ségolène Royal sarkastisch – sie war von keinem der beiden unterstützt worden. Ein Foto mit den gratulierenden Verlierern Strauss-Kahn und Fabius hatte es für die Sozialistin Royal nicht gegeben. Mit François Hollande, dem Vater ihrer vier Kinder, spielte sie im Wahlkampf heile Familie – obwohl sie längst getrennt lebten. Fünf Jahre später zog Hollande mit seiner Freundin ins Elysée. Präsident war Hollande nur dank der Verhaftung von Strauß-Kahn geworden.
„Zwei Drittel Merkel, ein Drittel Thatcher“, charakterisiert Pécresse sich selbst. In der französischen Geschichte gibt es für sie kein weibliches Vorbild. Sie beruft sich auf Jacques Chirac, den letzten Präsidenten, dessen Affären zahlreich waren, aber (noch) nicht von den Medien breitgewalzt wurden. Über ihn zirkulierte das Bonmot „Eine Viertelstunde, Dusche inklusive.“ Auch Journalistinnen gehörten zu seinen zahlreichen Mätressen. Als Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins L’Express hatte Françoise Giroud attraktive und kurz geschürzte Journalistinnen auf die Politiker angesetzt – unter Giscard d’Estaing wurde die Frauenrechtlerin Frankreichs erste Ministerin für die Rechte der Frauen.
Für Emmanuel Macron ist Valérie Pécresse die gefährlichste Gegnerin. Er musste – und muss – wegen seiner 24 Jahre älteren Frau vielen Gerüchten und Vorurteilen Stand halten. Geschickt profilierte er sich als „drittes Geschlecht“ auch in der Politik, „weder links noch rechts“ und „sowohl als auch“. Bei den Feministinnen ist er als ein „dekonstruierter Mann“ sehr beliebt. Er verkörpert so ziemlich das Gegenteil von Zemmour. Doch seine Bilanz der Maßnahmen gegen die häusliche Gewalt und für Gleichstellung ist enttäuschend.
Macron führt in allen Umfragen. Nach Stand der Dinge geht es im ersten Durchgang darum, seine Herausfordererin für die Stichwahl zu bestimmen. Die konservative Pécresse wie auch die rechtspopulistische Marine Le Pen, beide Mütter von drei Kindern, sind darauf bedacht, den Männern keine Angst zu machen. Pécresse unterstreicht die Führungsqualitäten einer Frau: „Leadership au féminin“ und verspricht: „Meine Hand wird nicht zittern.“
Marine Le Pen profiliert sich als „Staatsfrau“, will aber „weder Merkel noch Thatcher“ sein. Sie lebt inzwischen in einer Wohngemeinschaft mit einer Freundin aus der Jugendzeit. Gegen den Willen des Vaters, den sie wegen seiner antisemitischen Provokationen aus der von ihm gegründeten Partei warf, hat sie den Front National entnazifiziert und in Rassemblement National umbenannt. Ausgerechnet eine rechte Politikerin lehnte sich gegen das Patriarchat in Partei und Familie auf. Jean-Marie Le Pen, ein langjähriger Freund von Zemmour, unterstellt seiner Tochter „mangelnde Virilität“.
Marine Le Pens Mut und Läuterung müssen Zemmour so unerträglich geworden sein, dass er sich zu seiner Kandidatur entschloss. Er will nicht nur das Patriarchat retten, sondern auch Vichy und Pétain rehabilitieren. Von Pétain, dem demokratisch gewählten faschistischen Regierungschef in der Zeit der Kollaboration mit den Nazis, behauptet Zemmour, er habe die französischen Juden nicht deportiert, sondern „beschützt“. Mit seinem Störmanöver gegen Marine Le Pen riskiert Zemmour, zum Steigbügelhalter einer Politikerin zu werden, die nie mit der extremen Rechten kungelte.
Wie „weibliche Leadership“ an der Spitze der Macht aussehen könnte, hat Pécresse zu Beginn der Kampagne gezeigt. Ihre erste Reise in die Provinz führte in die Heimat ihres Gegners und Parteifreunds, den sie erst in der Stichwahl besiegte. Auch den anderen unterlegenen Kandidaten stattete sie einen Besuch ab. Alle werden in ihrer Wahl-Kampagne wichtige Aufgaben wahrnehmen. Und offensichtlich hat ihnen Pécresse auch deutlich gemacht, dass ihre Unterstützung und Treue mit Ministerposten belohnt wird.
Nach dem Fiasko vor fünf Jahren, als die konservativen Republikaner erstmals in der Geschichte der Fünften Republik den Einzug in die Stichwahl verpassten, war man jetzt schon bei der Vorwahl darauf bedacht, keine unüberwindbaren Gräben auszuheben. Für die Republikaner geht es um das nackte Überleben, für die Republik um ihre Erneuerung.
Der Einzug von Valérie Pécresse ins Elysée ist ein Versprechen für die Modernisierung und Demokratisierung der anachronistischen politischen Kultur. Marianne, ihr Symbol, bekommt eine neue Aktualität. Eine nüchterne Frau bedeutet: mehr Pragmatismus, weniger Hysterie und Ideologie.
An ihrem Willen zur Macht zweifelt niemand mehr. Mit verblüffender Selbstverständlichkeit nennt Valérie Pécresse ihre Kontrahenten aus der Vorwahl permanent „meine vier Musketiere“. Mit ihnen will sie die Spitze erobern. Wäre sie ein Mann und dessen Team ein ausschließlich weibliches, würde man eine solche Äußerung als paternalistisch empfinden. Als Staatspräsidentin wäre „la blonde“ zweifellos fähig, einen (heterosexuellen) Mann als MinisterIn für die Gleichstellung zu ernennen.
JÜRG ALTWEGG