Mitgefühl und Analyse
Ich schreibe diesen Text Mitte Juni. Vor sechs Wochen habe ich einen Offenen Brief an Kanzler Scholz initiiert, der von weiteren 27 Intellektuellen und KünstlerInnen unterzeichnet wurde. Innerhalb von nur wenigen Tagen hat dieser Brief die Meinungen und Debatten in Deutschland tiefgreifend verändert, wie auch Umfragen belegen. Die bisher stumme Hälfte der Bevölkerung hat jetzt eine, hat viele Stimmen. Endlich wird diskutiert. Doch unter dem Eindruck der täglichen Bilder des Grauens kommen die Menschen zu unterschiedlichen Schlüssen. Was ist richtig: noch mehr Waffen – oder schnellstmögliche Verhandlungen?
Bis zu dem Offenen Brief, der innerhalb von zwei Monaten von über 300.000 Menschen auf change.org unterzeichnet wurde, waren in den Medien fast ausschließlich BefürworterInnen weiterer Waffenlieferungen und GegnerInnen von Verhandlungen zu Wort gekommen. Heute wissen wir, dass 83 Prozent der Bevölkerung dafür sind, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen. Und 68 Prozent sind überzeugt, dass der Krieg nur durch Verhandlungen beendet werden kann, nicht zuletzt, weil sie zu recht die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem atomaren Weltkrieg fürchten.
Im Fernsehen sehen wir nur Helden oder Opfer. Hie Putin, der auf dem Roten Platz seine Armee aufmarschieren, oder Selenskyj, der vor den Trümmern seine Muskeln spielen lässt; da verstümmelte Männer, vergewaltigte Frauen und verlorene Kinder.
Gedemütigte Machos sind lebensgefährlich, als Ehemänner wie als Präsidenten
„Es wäre furchtbar, wenn Putin diesen Krieg gewinnt“, hat der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg gesagt und hinzugefügt: „Noch furchtbarer wäre nur, wenn Putin den Krieg verliert.“
Will sagen: Die Helden dürfen ihr Gesicht nicht verlieren. Gedemütigte Machos sind lebensgefährlich, als Ehemänner wie als Präsidenten. Toxische Männlichkeit heißt das. Und wenn dann so ein Mann auch noch über die größte Atommacht der Welt verfügt, ist er nicht nur für seine direkten Gegner gefährlich, sondern für die ganze Welt.
Wir 28 sind nach der Veröffentlichung unseres Briefes zunächst einmal heftig und nicht selten hämisch angegriffen worden: als „Vulgärpazifisten“ und „Sofapazifisten“ oder als „total naiv“ und „daneben“.
Zum Glück ist die Mehrheit von uns 28 medienerfahren. Wir gingen und gehen an die Medienfront und stellen Missverständnisse sowie böswillige Unterstellungen richtig. Nein, wir sind nicht für „Kapitulation“, sondern gratulieren der Ukraine zur erfolgreichen Gegenwehr. Doch wir fragen uns, ob nach der Verteidigung von Kiew nicht der Zeitpunkt gekommen wäre, an den Verhandlungstisch zu gehen. Die fortschreitende Zerstörung und das Leid der Ukraine berührt uns tief. Doch wir bezweifeln, dass der erhoffte Verhandlungsvorteil – der vielleicht, vielleicht!, nach weiteren Wochen oder gar Monaten Kämpfen zu erzielen wäre – dafür steht: für weitere Tausende von Opfern nicht nur in der Ukraine.
Ganz zu schweigen von den zu erwartenden Millionen Hungertoten im globalen Süden, als Folge dieses Krieges. Denn längst wirft der Krieg in der Ukraine seine Schatten über die ganze Welt. ExpertInnen sprechen schon jetzt von der „größten humanitären Katastrophe“ unserer Zeit.
Es wäre nicht das erste Mal, dass die Folgen eines Krieges ungleich dramatischer sind, als es die Folgen eines Kompromisses wären. Selbst nach der Beendigung dieses Krieges werden Millionen von bewaffneten und kriegstraumatisierten ukrainischen Männern im Land sein; plus Tausende streunende Söldner, Berufs- wie Hobbykiller. Die vergewaltigten Frauen werden dann in der Ukraine nicht mehr als Opfer gelten, sondern als „Schlampen“ (das berichten Ukrainerinnen schon jetzt). Und die Mafia sowie islamistische Terroristen freuen sich schon jetzt auf die Tonnen von Waffen, die nach einem Waffenstillstand in ganz Europa verdealt werden.
Man muss mit Putin reden. Das ist keine moralische, sondern eine Machtfrage
Aber man kann doch mit einem Verbrecher wie Putin nicht reden, heißt es bei den Wohlmeinenden. Tja, man muss wohl, ob man will oder nicht. Das ist keine moralische, sondern eine Machtfrage. Wir verhandeln ja sogar mit den Taliban. Auch ist es nicht das erste Mal, dass der Präsident einer Weltmacht sich einen kriegerischen Überfall auf ein schwächeres Land erlaubt. Stichwort Vietnam oder Irak oder Libyen. Der völkerrechtswidrige Überfall des Irak durch Amerika und seine Alliierten (darunter die Ukraine) forderte 2003 Zehntausende von Toten und hinterließ verbrannte Erde. Und wir haben trotzdem weiter mit George W. Bush geredet.
Präsident Selenskyj und sein fragwürdiger Botschafter in Deutschland fordern nun ohne Unterlass noch „mehr schwere Waffen“ vom Westen. Im Namen der Opfer. Doch dienen die Waffen wirklich dem Schutz der Bevölkerung – oder verursachen sie noch mehr Opfer? Und wollen wirklich alle Kämpfenden in der Ukraine Helden sein? Auch all die 18- bis 60-jährigen Ukrainer, die vom ersten Kriegstag an zwangsmobilisiert wurden? Unter ihnen hatten drei von vier vermutlich zuvor noch nie eine Waffe in der Hand. Wie stehen deren Überlebenschancen?
In dieser Debatte versuchen unsere KritikerInnen, den Begriff „Pazifismus“ zum Schimpfwort zu degradieren. Zeit also, klar zu sagen: Ja, ich bin Pazifistin! Immer gewesen. Ich bin allerdings keine absolute, sondern eine relative Pazifistin. Eine, die sich, wenn es sein muss, auch mit Gewalt verteidigt – und dies selbstverständlich auch der Ukraine zugesteht. Doch auch eine, die realistisch ist, um Machtverhältnisse weiß und dass Krieg immer das größte Übel ist.
Wäre dieser Krieg noch wenige Wochen vor Ausbruch vermeidbar gewesen? Noch Mitte Dezember 2021 hat Putin Washington Verhandlungen angeboten zur Lösung des Ukraine-Konfliktes. Washington hat nicht reagiert. Gab das den letzten Ausschlag? Denn schließlich ist – und das weiß vermutlich nur der grüne Rüstungsexperte Hofreiter nicht – dieser Krieg weit über den territorialen Konflikt hinaus ein Stellvertreterkrieg zwischen Amerika und Russland.
Die New York Times stellt die zentrale Frage: Was ist das Ziel dieses Krieges?
Doch endlich scheint das bisher aus der Ferne so rüstungs- und kampffreudige Amerika aufzuwachen. Nach der Gewährung weiterer 40 Milliarden Dollar an die Ukraine für Waffenkäufe (die vermutlich überwiegend bei der US-Waffenindustrie getätigt werden) stellt die einflussreiche New York Times (NYT), die Medienstimme der Demokraten, die Frage nach dem Ende des Krieges. Es könne schließlich nicht sinnvoll sein, „sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte“. Drei Monate nach Kriegsbeginn stellt die NYT die zentrale Frage: Was ist eigentlich das Ziel des Krieges? Da stehen nur drei Optionen im Raum.
1. Die Vertreibung des russischen Okkupators aus dem gesamten Gebiet der Ukraine, inklusive der Krim und dem seit langem von beiden Seiten umkämpften Donbass. – An diesen beiden Punkten wird Putin nicht zurückweichen wollen. Und es ist schwer vorstellbar, wie die kleine Ukraine die Weltmacht Russland dazu zwingen könnte.
2. Die Vertreibung des russischen Okkupators aus der Ukraine bei Verzicht auf die Krim sowie der Umsetzung des schon 2015 vereinbarten Sonderstatus für den Donbass (Minsker Abkommen). Plus einer neutralen, NATO-freien Ukraine. – Das wäre realistisch. Dazu müssten allerdings beide Seiten Kompromisse machen, auch Selenskyj, wie die NYT schreibt.
3. Ein Krieg mit dem Ziel, dass „Putin nie mehr ein anderes Land angreifen kann“. Oder, um es mit US-Verteidigungsminister Austin zu sagen: „Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es zu etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Also die totale Entmachtung Russlands. – Was fatal wäre. Nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt. Denn darauf würde Putin wohl mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren. Mit allen. Das haben wir ja bereits an seinem brutalen Überfall auf die Ukraine gesehen.
Russische Truppen an der mexikanischen Grenze - wie würden die USA reagieren?
Auch dürfen wir nicht vergessen: In dem von Deutschland verantworteten Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion über 27 Millionen Tote zu beklagen. Und heute hat Russland mit der Ukraine eine 2.300 Kilometer lange, gemeinsame Grenze. Die NATO stünde also bei einem NATO-Mitglied Ukraine ante portas. Was vergleichbar wäre mit russischen Truppen und Raketen an der mexikanischen Grenze zu den USA. So etwas würden auch die USA nicht hinnehmen.
Das ist die reale Lage, über die geredet werden muss. Dagegen darf nicht das tägliche Leid der ukrainischen Bevölkerung ausgespielt werden. Mitgefühl statt Analysen? Nein. Beides! Eine ehrliche Analyse der Machtverhältnisse, statt Denkverbote und Illusionen, nutzt vor allem den Menschen in der Ukraine. Verhandlungen statt Waffen bedeutet: weniger Opfer! Darin sind wir 28 uns einig.
Jüngst hatten wir eine Videokonferenz. Die meisten von uns haben sich dabei erstmals von Angesicht zu Angesicht erlebt. Wir sind sehr unterschiedlich. Aber keine und keiner von uns 28 hat in den vergangenen Wochen auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass es richtig war, diesen Offenen Brief an Kanzler Scholz zu schreiben; ihn darin zu bestärken, besonnen zu bleiben und die schon jetzt auch für uns spürbaren grauenvollen Folgen dieses Krieges nicht aus dem Auge zu verlieren. Von einem sehr real drohenden Weltkrieg ganz zu schweigen.
ALICE SCHWARZER