„Das Gesetz wäre verfassungswidrig!“
Die Zürcher sind mächtig stolz auf ihr Frauenbad an der Limmat. 1888 wurde das „Badhaus für Frauenzimmer“ gebaut und auch 135 Jahre später sind Frauen hier gern unter sich. „Die Frauenbadi ist hier so selbstverständlich wie der See und der Uetliberg. Die entspannte Atmosphäre, weniger Hemmungen, niemand pfeift einem nach, die Religion – den Zürcherinnen ist ihre Frauenbadi aus unterschiedlichen Gründen lieb“, schwärmt die Stadt auf ihrer Website. „Einige Touristinnen und Touristen wundern sich wohl, wenn sie am Stadthausquai über der Eingangstür des Bads den Schriftzug ‚Frauenbad‘ entdecken. Beim Versuch hineinzugelangen merken Männer jedoch bald: Das ist ernst gemeint, kein Zutritt. Hin und wieder müssen die Bademeisterinnen tatsächlich einen Touristen wegweisen, der sich in die Frauenbadi verirrt hat.“
Im Sommer 2022 wiesen die Bademeisterinnen einen Badegast weg, der kein Tourist war, sondern Zürcher. Er trug einen Schnauzbart und erklärte, er sei eine Frau. Sein Pass wies ihn tatsächlich als solche aus. Als das Personal den bärtigen Menschen dennoch nicht ins Frauenbad lassen wollte, beschwerte er sich beim Sportamt. Folge: Man handhabe es jetzt „in der Praxis so, dass Personen gemäß einem Ausweis oder einem vergleichbaren Dokument weiblich sein müssen“, erklärt Philipp Buchelt von den Stadtzürcher Badeanlagen.
Ein Mensch mit Bart im Frauenbad? Wie kann das sein? Seit dem 1. Januar 2022 gilt in der Schweiz das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“. Jeder Mensch ab 16 kann durch eine einfache Erklärung beim Standesamt seinen Geschlechtseintrag ändern. Jeder Mann kann also erklären, er sei eine Frau. Er hat dann – mit Bart und auch mit Penis – Zugang zu allen Räumen und Gruppen, die Frauen vorbehalten sind – Frauenbäder, Frauenumkleiden, Frauenberatungsstellen. Er tritt im Sport gegen Frauen an, er hat Zugang zu allen gesetzlichen Fördermaßnahmen für Frauen.
Hier gibt es ein Missbrauchspotenzial,
da kann man sich nur an den Kopf fassen!
Auch in Deutschland soll das „Selbstbestimmungsgesetz“ eingeführt werden. Und in der Debatte um das Gesetz melden sich immer mehr JuristInnen zu Wort, die die „freie Beliebigkeit“, mit der sich Menschen ohne jeden Bezug zur biologischen Realität per „Selbstzuordnung“ zu Frau oder Mann erklären können, für verfassungswidrig halten.
„Das Gesetz hätte Folgen für alle Rechtsgebiete, bei denen es auf das Geschlecht ankommt“, erklärt Boris Schinkels, Professor für Bürgerliches, Internationales und Europäisches Privatrecht an der Universität Greifswald. Das reicht von der Wehrpflicht im Kriegsfall über Arbeitsschutzbestimmungen bis zum Sport, vom Strafvollzug bis zum Familienrecht.
Stichwort Familienrecht: So hat zum Beispiel die Mutter eines Kindes automatisch das Sorgerecht, wenn die Eltern nicht verheiratet sind. Was, wenn der Vater in einem Sorgerechtsstreit seinen Geschlechtseintrag wechselt und so ebenfalls zur „Mutter“ wird? Stichwort Arbeitsschutz: Für Frauen und Männer, die an ihrem Arbeitsplatz Radioaktivität ausgesetzt sind, gelten unterschiedliche Grenzwerte. Das macht Sinn, weil Männer lebenslang immer neue Spermien produzieren, während die Eizellen der Frau von Geburt an angelegt sind. Strahlenbelastung wirkt sich also völlig unterschiedlich aus, unabhängig davon, wie sich Mann oder Frau „definiert“. Stichwort Strafvollzug: Biologische Männer, die sich „als Frau definieren“, würden im Frauentrakt untergebracht. Strafverteidiger warnen vor der enormen Missbrauchsgefahr durch Sexualstraftäter, für die es im Ausland schon zahlreiche Beispiele gibt.
„Hier wird ein derartiges Missbrauchspotenzial präsentiert, da kann man sich nur an den Kopf fassen“, erklärt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Udo Vetter. „Ich bin seit 30 Jahren ausschließlich als Strafverteidiger tätig und habe Hunderte Sexualstraftäter verteidigt. Das gibt mir Einblicke in Täterpersönlichkeiten.“
So bestünde „das realistische Risiko, dass Kinder in Umkleiden und Duschen auch mit Menschen konfrontiert werden, die eben keine schützenswerten und vom Gesetz gemeinten Transpersonen sind, sondern die Situation missbrauchen wollen“. Mehr noch: Mindestens fünfzig Prozent der Bevölkerung, nämlich Frauen, müssen Angst davor haben, dass ihnen künftig ihre Schutzräume genommen werden. Er sei, erklärt der Jurist, „fassungslos“ über das „undurchdachte Gesetz“.
„Mit der Preisgabe der Biologie als Regelkriterium bleiben von der körperlichen Kategorie des Geschlechts nur noch die Begriffshülsen übrig“, bestätigt Boris Schinkels. Aber: „Das Geschlecht und die Genderidentität sind nicht vergleichbar und daher auch nicht austauschbar.“ Eine Gleichsetzung findet Jurist Schinkels daher „hochproblematisch“. Wie soll zum Beispiel der Staat die in der Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung von Männern und Frauen durchsetzen, wenn sich jeder als solche definieren kann?
In einem Sorgerechtsstreit könnte sich
der Vater ebenfalls als Mutter definieren.
„Das geplante Selbstbestimmungsgesetz behandelt das Geschlecht einer Person als rein individuelle und fluide Angelegenheit“, erklärt Judith Froese, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Konstanz. „Das geschlechtliche Diskriminierungsverbot könnte dann nur noch in dem Sinne verstanden werden, dass es sich gegen irgendwie geartete Vorstellungen von Geschlecht richtet. Die von Art. 3 Abs, 2 GG geforderte Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die insbesondere auch durch die Beseitigung bestehender Nachteile erfolgen soll, könnte bei einer Aufgabe des Geschlechts als Kategorie weder hergestellt noch garantiert werden.“ Froeses Fazit: „Das wird dem Zweck des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrags kaum entsprechen können.“
Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist aber nicht nur in der deutschen Verfassung festgeschrieben – und dort sogar mit einer aktiven Umsetzungspflicht verbunden („Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“), sondern auch im Recht der Europäischen Union. Deshalb hält der Arbeitsrechtler Jonas Jacob „das geplante Selbstbestimmungsgesetz sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch aus unionsrechtlicher Perspektive für rechtswidrig. Im Unionsrecht, das dem nationalen Verfassungsrecht vorgeht, herrscht ein binäres Geschlechtsverständnis, das grundsätzlich an die biologischen Voraussetzungen anknüpft.“
Der Jurist, der als Rechtsanwalt in Wuppertal tätig ist, und sich in seiner Dissertation mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2017 zum sogenannten „Dritten Geschlecht“ befasst hat, erklärt: „Die Geschichte der Frauenrechte in der EU ist eine sehr besondere, weil die ganzen arbeitsrechtlichen Bestimmungen, aus denen auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz entspringt, den Schutz der Frau in den Mittelpunkt stellen. Und wenn man nun den Geschlechtsbegriff komplett versubjektiviert, indem man sagt: ‚Eine Frau ist eine Person, die sich ausgesucht hat, eine Frau zu sein‘, dann führt man das Ziel, Frauenrechte zu stärken, ad absurdum.“
Auch in anderen internationalen Abkommen, an die Deutschland gebunden ist, ist eindeutig, dass mit dem Begriff „Frau“ Frauen im biologischen Sinne gemeint sind. So heißt es zum Beispiel in der „UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen“, kurz CEDAW im Original: „The term ‚discrimination against women‘ shall mean any distinction, exclusion or restriction made on the basis of sex.“ Übersetzt: „Der Begriff ‚Diskriminierung gegen Frauen‘ meint jede Unterscheidung, jeden Ausschluss oder jede Beschränkung auf der Basis des Geschlechts.“ Im Englischen wird bekanntlich zwischen „sex“ und „gender“ unterschieden, wobei „sex“ das biologische Geschlecht meint und „gender“ das soziale Geschlecht, also die Geschlechterrollen. Auch die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen differenziert klar zwischen „sex“ und „gender“. Es ist also klar, was UN und Europarat mit „Geschlecht“ meinen: Frauen, die aufgrund ihres Körpers Frauen sind – und nicht Männer, die sich per einfachem Sprechakt „als Frauen definieren“.
Befürworter des Selbstbestimmungsgesetzes und der Idee vom Geschlecht per Eigendefinition ziehen gern das Allgemeine Persönlichkeitsrecht heran: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ heißt es im Grundgesetz. Allerdings hat der Satz noch einen zweiten Teil. Er lautet „… soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“. Also zum Beispiel das Recht von Frauen, in einem geschützten Frauenraum wie einem Frauenbad oder einem Frauenhaus nicht auf einen biologischen Mann zu treffen. Im Zweifel stehen hier die Rechte zweier Parteien im Raum, die es gegeneinander abzuwägen gilt.
Karlsruhe will, dass "Beliebige Personen-
standswechsel" ausgeschlossen werden.
Jurist Boris Schinkels kritisiert: „Die Rechte Dritter werden bisher gar nicht berücksichtigt. Was ist etwa mit dem Persönlichkeitsrecht eines Ehepartners oder dem Persönlichkeitsrecht eines Kindes hinsichtlich seiner Abstammung? Diese Fragen werden überhaupt nicht verhandelt!“ Aber wäre das „Selbstbestimmungsgesetz“ nicht durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Transsexualität gedeckt, ja auf Basis dieser Urteile geradezu zwingend, wie die Befürworter des Gesetzes behaupten? Nein, so einfach ist das nicht.
Zwar hat Karlsruhe mit seiner Entscheidung im Jahr 2011 erklärt, dass man den Wechsel des Geschlechtseintrags nicht mehr an eine Operation knüpfen dürfe, weil die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken „unzumutbar“ seien. Und es hat in seiner Entscheidung von 2017 erklärt, dass „sich das Geschlecht nicht allein nach genetisch-anatomisch-chromosomalen Merkmalen bestimmen oder gar herstellen lässt, sondern von sozialen und psychischen Faktoren mitbestimmt“ werde. Das Gericht hat allerdings nicht verlangt, sämtliche Hürden auf dem Weg zum Geschlechtswechsel abzuräumen, im Gegenteil.
Eine Klage auf Abschaffung der zwei Sachverständigen-Gutachten, die für den Wechsel des Geschlechtseintrags bis heute notwendig sind, wies Karlsruhe zweimal ab. Die RichterInnen erklärten: „Da das Geschlecht maßgeblich für die Zuweisung von Rechten und Pflichten sein kann und von ihm familiäre Zuordnungen abhängig sind, ist es ein berechtigtes Anliegen des Gesetzgebers, dem Personenstand Dauerhaftigkeit und Eindeutigkeit zu verleihen, ein Auseinanderfallen von biologischer und rechtlicher Geschlechtszugehörigkeit möglichst zu vermeiden und einer Änderung des Personenstands nur stattzugeben, wenn dafür tragfähige Gründe vorliegen. Dabei kann er, um beliebige Personenstandwechsel auszuschließen, einen auf objektivierbare Kriterien gestützten Nachweis verlangen, dass die selbstempfundene Geschlechtszugehörigkeit, die dem festgestellten Geschlecht zuwiderläuft, tatsächlich von Dauer und ihre Anerkennung für den Betroffenen von existenziellen Bedeutung ist.“
„Beliebige Personenstandswechsel“ sollen also ausgeschlossen werden und der Personenstand, also der Geschlechtseintrag soll „dauerhaft“ und „eindeutig“ sein. Die Forderung nach „Dauerhaftigkeit“ und „Eindeutigkeit“ des Geschlechtseintrags zieht sich wie ein roter Faden durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, auch durch das letzte Karlsruher Urteil von 2017. Wie verträgt sich das mit dem „Selbstbestimmungsgesetz“, bei dem der Geschlechtswechsel auf einer „nicht einmal im Ansatz plausibel zu machenden Selbsteinschätzung“ beruht, die zudem einmal im Jahr geändert werden kann?
Gar nicht, erklärt Florian Becker, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Kiel. Aus Beckers Sicht sei der Gesetzgeber nicht nur dazu „berechtigt, einen Antrag auf Änderung des Geschlechtseintrags an einen Nachweis der Ernsthaftigkeit des Anliegens zu knüpfen, sondern sogar dazu verpflichtet“.
Es wäre zu hoffen, dass der Justizminister die Einwände der JuristInnen zur Kenntnis nimmt. Andernfalls dürfte sehr bald eine Klage gegen das Selbstbestimmungsgesetz in Karlsruhe eintreffen.