Die Schweiz und ihre Frauenzentralen
In der ganzen Welt verwechseln die Menschen Schweden mit der Schweiz, weil beide Länder mit „Schw“ anfangen. Aber, so erklären die junge Blonde, der bärtige Seemann und 20 weitere SchwedInnen: „Wir sind völlig unterschiedliche Länder!“ Nicht nur, dass die Schweiz das Frauenwahlrecht 50 Jahre später eingeführt hat als Schweden. Noch ein ganz wichtiger Unterschied: „In Schweden muss ein Mann, der für Sex bezahlt, eine Strafe zahlen oder ins Gefängnis.“ Und das schon seit 20 Jahren. „Bei euch ist das legal. Vielleicht waren wir ja mal brutale Wikinger – aber ihr lebt noch im Mittelalter“, sagt der Seemann.
Mit dieser „Message from Sweden to the People in Switzerland“ hatte die Frauenzentrale Zürich 2018 einen Coup gelandet. Das Anliegen: „In vielen europäischen Ländern wird über Prostitution diskutiert – in der Schweiz nicht.“ Das wollte die Frauenzentrale ändern. Sechs Jahre, bevor die Debatte über das sogenannte Nordische Modell so richtig an Fahrt aufnehmen würde, war diese Videokampagne „Für eine Schweiz ohne Freier“ von der damaligen Präsidentin Andrea Gisler mit einem Paukenschlag lanciert worden. Das Video war frech, mutig und seiner Zeit voraus. Zwar ist man in der Schweiz vom Nordischen Modell immer noch weit entfernt – zumindest noch sehr viel weiter als Deutschland –, aber die Aktion machte dem ganzen Land deutlich, wie politisch engagiert und laut die Frauenzentralen in der Schweiz sind. Und auch über die Grenzen der Schweiz hinaus war von ihnen plötzlich die Rede.
Aktuell kämpft die Frauenzentrale Zürich noch immer tapfer gegen Prostitution. In einem „Whitepaper“ (Download auf frauenzentrale-zh.ch) gibt sie erstmals einen umfassenden Überblick über die Prostitution im eigenen Land. Gefragt nach dem Grund, warum sie sich prostituieren, erklärten 85 Prozent der Frauen: Aus wirtschaftlicher Not und Mangel an Alternativen. 89 Prozent der befragten Frauen wollen nichts dringlicher als einen Ausstieg. Von wegen Selbstbestimmung und große Freiheit! An dieses Märchen wird in erster Linie nur noch von den Linken in der Schweiz geglaubt. Die Wahrheit: 68 Prozent der Frauen in der Prostitution leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie sonst nur von Kriegsveteranen und Holocaust-Überlebenden bekannt ist. Prostituierte werden neunmal häufiger vergewaltigt als andere Frauen.
Die Frauenzentralen, sie sind ein schweizerisches Kuriosum. Es gibt sie in 17 von insgesamt 26 Kantonen, und alle haben eine eigene Ausrichtung. Sie sind nicht unter einem Dachorgan gebündelt und geben keine gemeinsamen Parolen heraus, es eint sie gerade mal eine jährliche Zusammenkunft und dass sie alle dem eidgenössischen Frauenverband Alliance F angeschlossen sind. Die Frauenzentralen sind damit ein schweizerischer Sonderfall im allerbesten Sinn: eigensinnig und unabhängig. Alle 17 Frauenzentralen sind anders. Einige finanzieren sich über Spenden und Vermächtnisse. Die Frauenzentrale Zürich etwa über eine Liegenschaft, nur einen Steinwurf vom berühmten Paradeplatz entfernt, die sie einer ehemaligen Präsidentin verdankt. Und die cleveren Frauen der Frauenzentrale im Kanton Zug erwarben schon früh ein Brockenhaus, einen Second-Hand-Laden, der heute noch betrieben wird. Andere Frauenzentralen, die vor allem staatliche Aufgaben wie Beratungen übernehmen, erhalten Entschädigungen vom jeweiligen Kanton. Die Frauenzentrale Zug zum Beispiel beschäftigt 35 Mitarbeiterinnen und 180 Freiwillige.
Die Schweizer Frauenzentralen gibt es seit über 100 Jahren! Dass sie eben gerade nicht mit einer Stimme sprechen, belebt nicht nur die Debatte, sondern zeigt vor allem auf, dass über Feminismus sehr wohl gestritten werden darf – und zwar selbst über ganz zentrale Fragen. Die Frauenzentrale Aargau etwa steht dem Prostitutionsverbot ablehnend gegenüber, während Zürich, Zug oder Glarus dieses klar befürworten. Als sich Anfang des Jahres die Glarner Nachrichten in einem vorgeblich lustigen Text völlig daneben über Prostituierte äußerten, reagierte die Frauenzentrale Glarus sofort mit einem gepfefferten Leserinnenbrief. Mit dem Resultat, dass die Zeitung ein paar Tage später ein Streitgespräch über das Nordische Modell abdruckte.
Zur Lobbyarbeit der Frauenzentralen kommt ein breites Hilfsangebot an Rechts-, Vorsorge- und Budgetberatungen hinzu und in manchen Kantonen, wie etwa Bern, übernehmen die Frauenzentralen mit dem Alimenteninkasso gar staatliche Aufgaben.
Das machte sie immer aus: Dass sie sowohl argumentieren wie auch die Ärmel hochkrempeln und mit anpacken. Gerade zweites hat ihnen zu viel Anerkennung verholfen und dazu, dass man ihren Forderungen nach Gleichstellung überhaupt oder mindestens ein bisschen besser zuhörte.
Entstanden sind die Frauenzentralen nach der Mobilmachung 1914. Bereits zuvor hatte es Vereine gegeben, die sich für eine Verbesserung der weiblichen Lebensumstände eingesetzt hatten: Der Frauenrechtsschutz von Emily Kempin-Spyri etwa, der ersten Juristin der Schweiz, die für ihre Geschlechtsgenossinnen unentgeltliche Rechtsberatungen anbot. Und dann natürlich die Stimmrechtsvereine!
Weil die Hälfte der Bevölkerung politisch und gesellschaftlich ohne Stimme war, weder wählen noch abstimmen durfte und ihr überhaupt viele Aufgaben, Berufe und Studiengänge verwehrt war, machte der Kriegsausbruch die Schweizerinnen aber auf ihre ganz eigene Weise mobil. Sie wollten ihren Beitrag leisten und „ihre Besonnenheit und Tüchtigkeit in ernster Zeit beweisen und ihre Kräfte fürs Vaterland einsetzen“, wie es in einem Aufruf vom Bund Schweizerischer Frauenvereine hieß. Damit verbunden war die Aufforderung, sich in lokale Gruppen (Zentralen) aufzuteilen.
Unzählige Frauen strickten also Mützen für die Armee – pro Exemplar gab es 80 Rappen – oder unterrichteten ihre Geschlechtsgenossinnen in Gemüseanbau. Es wurde die Notstandshilfe mit sogenannten Wärme- und Nähstuben lanciert, wo „ungelernten“ oder arbeitslosen Frauen das Flicken, Nähen und Stopfen beigebracht wurde. Und natürlich kümmerten sie sich um Kranke, was damals noch nicht als staatliche Aufgabe angesehen wurde.
Nach dem Krieg machten die Frauenzentralen weiter – es gab ja nach wie vor eine Menge zu tun. Nun ging es um praktische Themen aus der weiblichen Lebenswelt: um Gesundheit, die Preise von Lebensmitteln, den Kampf gegen Armut oder Alkoholmissbrauch. Selbst Mutterschutz war bereits ein Thema oder das Verbot der Prostitution.
Weil ihnen wenig anderes übrigblieb, engagierten sich die Frauenzentralen in klassisch weiblichen Bereichen – aber sie fanden das eben auch richtig so. Umstürzlerische Pläne hegten sie nicht, im Gegenteil: Sie vertraten einen Reform-Feminismus und hatten kein Interesse, das Ernährer-Hausfrau-Modell abzuschaffen.
Trotzdem kämpften sie von Anfang für das weibliche Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer Ebene. Das mag auf den ersten Blick erstaunlich klingen, war für die hauptsächlich aus dem Bürgertum stammenden Feministinnen aber keineswegs ein Widerspruch: Sie glaubten an die unterschiedlichen Prägungen der Geschlechter, daran, dass Frauen und Männer klar geteilte Aufgabenbereiche haben sollten und verstanden sich trotzdem als vollwertige Bürgerinnen. Wenn es ihnen also erlaubt wäre, endlich offiziell mitzureden, könnten sie ihre Sicht als Frauen einfließen lassen, und davon würden alle profitieren. Frauen wie Männer und Kinder sowieso. Frauen sollten ihre „spezielle Aufgabe erkennen“, die sie zu leisten in der Lage seien, so die Zürcher Frauenzentrale 1923, „nämlich warmes mütterliches Empfinden in das Leben der Gemeinschaft zu tragen“. Ausgerechnet die Einwohnerinnen der Weltstadt Zürich hielten bis in die 1990er Jahre an diesem klar getrennten Rollenverständnis fest.
Das Stimm- und Wahlrecht erhielten die Schweizer Frauen schließlich 1971, im Kanton Appenzell Innerrhoden gar erst 1991 (und auch nur auf Druck des Bundesgerichts). Dass das lang ersehnte und so hart erkämpfte Ziel endlich, endlich erreicht war, stürzte die Frauenzentralen vorübergehend in eine Krise: Es war nicht mehr länger nötig, dass sie als Scharnier zwischen Staat und Feministinnen auftraten – Frauen konnten nun nicht nur selbst wählen, sondern auch gewählt werden und genau wie die Männer in den nationalen Räten ihre Anliegen vertreten.
Weil aber die soziale Arbeit für die Frauenzentralen stets ein genauso wichtiger Pfeiler gewesen war wie die politische, konnten sie sich weiterhin behaupten. Es gab ja nicht plötzlich weniger Gewalt in Beziehungen oder ungewollte Schwangerschaften, und das Geld blieb bis heute „die weibliche Problemzone“, wie es die Frauenzentrale Zürich vor ein paar Jahren einmal formulierte. Und es gibt immer noch viel zu tun. Mittlerweile sind in den Beratungen auch Männer willkommen.
Auf jeden Fall stehen die Schweizerinnen hinter ihren Frauenzentralen. Denn sie wissen: Sie haben diesem helvetischen Kuriosum viel zu verdanken. Es mag ein Sonderfall sein, es ist aber vor allem ein Glücksfall.
BETTINA WEBER
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