Mary Jane Sherfey: Die Potenz der Frau

Mary Jane Sherfeys Buch "Die Potenz der Frau" war eine Sensation!
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Mary Jane Sherfey (1919 – 1983) war eine amerikanische Psychiaterin und Forscherin, die in New York lebte. Ihr 1972 erschienenes Buch „The Nature and Evolution of Female Sexuality“ (deutsch „Die Potenz der Frau“, 1974) sattelte auf der fortschrittlichen Sexualwissenschaft auf, den Studien von Alfred Kinsey in den 1950er Jahren und Forschungen des Ehepaars Masters und Johnson (Die sexuelle Reaktion, 1970). Sherfey ging weit darüber hinaus, ihre Veröffentlichung war eine Sensation. In Zeiten, in denen der „vaginale Orgasmus“ Doktrin war und das Hauptproblem von Frauen ihre „Frigidität“, behauptete und belegte Sherfey: 1. Im Ursprung ist das Weib. Der Embryo ist in den ersten fünf Wochen weiblich und beginnt erst dann, sich nach weiblich oder männlich zu differenzieren. 2. Das körperliche Zentrum des Orgasmus ist die Klitoris mit ihren inneren Schwellkörpern. 3. Die sexuelle Potenz der Frau ist unbegrenzt, unersättlich, dem des Mannes weiter überlegen – und wurde genau darum im Patriarchat unterdrückt. Unterdrückt wurden auch die Erkenntnisse von Sherfey und es dauerte 32 Jahre, bis sie wieder ans Licht kamen: Die australische Neurologin Helen O’Connell belegte im Jahr 1998 anhand sezierter weiblicher Körper, dass das Ausmaß der klitoralen Schwellkörper innerhalb des Körpers der Frau weit über dem Ausmaß der Schwellkörper des Mannes liegt. Inzwischen ist die zentrale physische Bedeutung der Klitoris – die in den 1970er Jahren von Psychiatern wie Psychoanalytikern noch glatt geleugnet worden war – unbestritten. Theoretisch. Praktisch gibt es weiterhin ein Primat des „vaginalen Orgasmus“ und die dazu passende Sexualpraktik der Penetration (nicht zuletzt gefördert durch die Pornografie). Dabei ist der vaginale Geschlechtsverkehr zwar unerlässlich zum Zeugen von Kindern, aber eher hinderlich beim Zeugen der Lust, was wir spätestens seit Sherfey wissen – und aus eigener Erfahrung. A.S. - Nachfolgend ein Auszug aus "Die Potenz der Frau"

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Die neuesten embryologischen Untersuchungen haben eindeutig ergeben, dass die Vorstellung einer anfänglichen anatomischen Bisexualität oder Äquipotenz des Embryos irrig ist. Alle Säugetierembryonen sind während der Frühphase ihres Lebens anatomisch weiblich. Etwa während der sechsten Woche menschlichen embryonischen Lebens spaltet sich durch die Einwirkung des fötalen Androgens die männliche von der weiblichen Form ab; diese Differenzierung ist am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats abgeschlossen.

Weibliche Strukturen entwickeln sich autonom und ohne Mitwirkung hormonaler Differenzierung. Werden die embryonalen Gonaden (Geschlechtsdrüsen) vor dem Ablauf der ersten sechs Wochen uterinen Lebens von einem genetisch weiblichen Embryo entfernt, wird es sich zu einem normalen Mädchen entwickeln, das sogar bei fehlenden Eierstöcken nach Verabfolgung der notwendigen Hormone eine normal verlaufende Pubertät durchmachen wird. Werden die entsprechenden Gonaden eines genetisch männlichen Lebewesens entfernt, wird es sich zu einem weiblichen entwickeln und, wenn zuzügliche Hormone verabfolgt werden, ebenfalls normale weibliche Pubertätsveränderungen durchmachen.

Bei den verschiedenen Primatenarten verbinden sich eine ausgeprägte Entwicklung des klitoridalen Systems, gewisser sekundärer Geschlechtsmerkmale einschließlich des Hauterotismus und ein außergewöhnliches Maß an sexueller Damm-Ödematisierung, die zum Teil durch Progesteron mit seinen ausgeprägt androgenen Eigenschaften hervorgerufen wird, um im Verlauf der Brunstzeit einen aggressiven Geschlechtstrieb und eine ungewöhnliche, unersättliche Paarungsbereitschaft auszulösen. Die Weibchen mit der unersättlichsten sexuellen Kapazität wären so für die Fort-pflanzung am geeignetsten.

Bei den intra-menschlichen Weibchen konnte sich diese unersättliche sexuelle Appetenz nur entwickeln, wenn dies die Betreuung der Nachkommenschaft nicht nachteilig beeinflusste. Die Betreuung des Nachwuchses wird dadurch gesichert, dass der extreme Sexualtrieb während der verlängerten Stillzeit ausfällt.
Die Gültigkeit dieser Überlegungen und ihre Relevanz für die Frau werden durch die Darstellung einer vergleichbaren sexuellen Physiologie und Verhaltensweise bei der Frau stark unterstützt.

Dies hat die Arbeit von Masters und Johnson (Anm. d. Red.: amerikanische Sexual-ForscherInnen) geleistet, und eine Zusammenfassung dessen, was sie über das tatsächliche Wesen des sexuellen Reaktionszyklus der Frau ermittelt haben, wurde hier gegeben. Die wichtigsten Beobachtungen sind:

• Es gibt keinen von einem klitoridalen unterschiedenen vaginalen Orgasmus. Das Wesen des Orgasmus bleibt dasselbe, unabhängig von der erogenen Zone, deren Reizung ihn verursacht hat. Der Orgasmus besteht aus den rhythmischen Kontraktionen der außerhalb der Vagina befindlichen Muskulatur gegen die sehr ausgedehnten zirkumvaginalen Venengeflechte und die um das vordere Scheidendrittel gelagerten Vorhofschwellkörper.

• Die Beschaffenheit des Labien-Vorhaut-Glansmechanismus, unterhält im Verlauf eines intravaginalen Koitus eine ununterbrochene Reizung der zurückgezogenen Klitoris. Mittels dieses Mechanismus verhalten sich Klitoris, Kleine Labien und vorderes Scheidendrittel als eine einzige, integrierte und perfekt funktionierende Einheit, wenn durch das männliche Organ auf die Labien ein Zug ausgeübt wird. Die Klitorisstimulierung selbst wird durch das rhythmische Ziehen an der ödematösen Klitorisvorhaut bewirkt. Eine vergleichbare Aktivierung der Klitoris wird durch Vorhautreibung im Verlauf unmittelbarer Klitoriszonenreizung erreicht.

• Bei voller sexueller Erregung können Frauen normalerweise viele aufeinanderfolgende Orgasmen erleben. Durch intravaginalen Koitus können sechs oder mehr erreicht werden. Wird die Klitoriszone direkt stimuliert und kann die Frau dabei ihre sexuelle Spannung steuern und eine verlängerte Reizung vornehmen, lassen sich innerhalb einer Stunde bis zu fünfzig Orgasmen erzielen.

Wie funktioniert ein Orgasmus bei Frauen? Das erklärt Sherfey im Video-Interview auf www.media-burn.org.
Wie funktioniert ein Orgasmus bei Frauen? Das erklärt Sherfey im Video-Interview auf www.media-burn.org.

Anhand dieser Feststellungen und anderer biologischer, insbesondere primatologischer Daten, stelle ich die folgenden vier Thesen auf:

1. Das erogene Potential der Klitorisglans ist wahrscheinlich höher als das des vorderen Scheidendrittels.

2. Unter optimalen Erregungsbedingungen ist das orgastische Potential der Frau wahrscheinlich mit dem des Primatenweibchens vergleichbar. Bei beiden werden Orgasmen am wirksamsten nur mittels eines hohen Grades an Beckenblutstauung und Ödematisierung erreicht, die wir mit der abgegrenzten und beschränkten Brunstzeit bei den Primaten und den letzten 14 Tagen des weiblichen Menstruationszyklus oder mit ausgedehnter, wirksamer Reizung in Zusammenhang bringen. Unter diesen Voraussetzungen wird naturgemäß jeder Orgasmus eine Verstärkung der Beckenvasokongestion bewirken; folglich steigert sich die orgasmische Kapazität mit jedem erreichten Orgasmus. Dies kann fortgesetzt werden, bis körperliche Erschöpfung eingetreten ist.

3. Bei diesen Primatengattungen und der menschlichen Frau hat sich also eine außergewöhnliche zyklische Potenz entwickelt, die zu der paradoxen Situation einer sexuellen Unersättlichkeit bei äußerster sexueller Sättigung geführt hat. Die evolutionäre Bedeutung dieser Tatsache ist ohne Zweifel: Mit der Auslese für die natürliche Fortpflanzung wird nur dasjenige Primatenweibchen belohnt, das die ausgedehnteste Beckenödematisierung hat, die wirksamste Klitorissexualität besitzt und die stärkste sexuelle Angriffslust zeigt. Der Zustand der Sättigung-in-der-Unersättlichkeit könnte möglicherweise ein wichtiger Faktor in der adaptiven Ausbreitung der Primaten gewesen sein, die zu immer komplizierteren Formen geführt und schließlich im Menschen ihren Höhepunkt erreicht hat. Damit wurde gleichzeitig auch eine der größten Hürden in der Entwicklung des modernen Menschen genommen.

4. Der aufgrund vielerlei Faktoren erfolgte Aufstieg der modernen Zivilisation war bedingt durch eine Unterdrückung der außergewöhnlichen zyklischen Sexualität der Frau, denn a. war die ungewöhnlich starke Hormonzufuhr der frühen menschlichen Frauen in Verbindung mit ihrer Hypersexualität und der lange andauernden Schwangerschaft ein wesentlicher Faktor in ihrer Befreiung aus dem genau abgegrenzten Brunstzyklus und der noch bedeutsameren Freisetzung von der post-partalen verminderten Sexualität. Die uneingeschränkte, kontinuierliche Hypersexualität der Frau hätte dazu geführt, dass sie ihre Mutterpflichten drastisch vernachlässigte. Und b. hatten sich mit dem Aufkommen sesshafter landwirtschaftlicher Ökonomien männliche Gebietsansprüche durch besitz- und sippenrechtliche Verordnungen geltend gemacht. Großfamilien, bei denen die Vaterschaft außer Zweifel war, wurden zur Regel und konnten sich erst entwickeln, als die ungewöhnlichen sexuellen Ansprüche der Frau gebändigt worden waren.

Schließlich sind durch die Erkenntnisse in bezug auf das weibliche embryonale Primat und die von Masters und Johnson gemachten Beobachtungen über den Sexualzyklus der Frau psychoanalytische Neuorientierungen notwendig geworden. Diese werden jedoch weniger durchgreifend sein, als man auf den ersten Blick annehmen mag. Abgesehen von den Vorstellungen einer angeborenen Bisexualität, der starren Dichotomie maskulinen und femininen Sexualverhaltens und den davon abgeleiteten Konzepten der Klitoris-Vagina-Übertragungstheorie, bleibt die Psychoanalyse, was sie bisher gewesen ist. Vieles von der Theorie der „maskulinen“ Komponenten weiblicher Sexualität bleibt natürlich bestehen, muss sich jedoch angesichts veränderter biologischer Konzepte, auf die sie sich gründet, neu orientieren. Ich bin sicher, dass ein großer Teil des heutigen und früheren sexuellen Symbolgehalts eine reichere Bedeutung bekommen wird.

In jedem Fall und ganz abgesehen von dem Wert oder Unwert meiner eigenen Folgerungen hoffe ich, dass diese Ausführungen über neue und wichtige Erkenntnisse aus der Biologie und der Gynäkologie im Zusammenhang mit der weiblichen sexuellen Differenzierung und erwachsenen Geschlechtlichkeit einen Beitrag zur Verknüpfung psychologischer und biologischer Faktoren leisten und gleichzeitig eine feste biologische Basis für alle zukünftigen Theorien über weibliche Psychosexualität liefern mögen.

MARY JANE SHERFEY

Der Text ist ein Auszug aus „Die Potenz der Frau“ (vergriffen, präsent im FrauenMediaTurm in Köln ). Die Video-Interviews mit Mary Jane Sherfey bei Mediaburn.org. - Mehr aus der EMMA-Reihe "Feministische Vordenkerinnen"

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