"Es ist immer noch eine Straftat!"
Sie haben in Österreich seit 50 Jahren die Fristenlösung. Eine Frau kann in den ersten drei Monaten die Schwangerschaft abbrechen. Wie ist Ihre Bilanz?
Christian Fiala: Die Fortschritte seither sind marginal und die wesentlichen Probleme sind immer noch die gleichen.
Nämlich?
Dass der Staat die Menschen immer noch bevormundet. Die Fristenlösung ist zweifellos ein Fortschritt. Aber der grundsätzliche Gedanke ist doch auch in Österreich immer noch, dass der Staat Frauen bestraft, wenn sie sich nicht in der Lage sehen, ein Kind – und oft ist es ja ein weiteres Kind – verantwortungsvoll ins Leben zu begleiten. Denn auch die Fristenlösung ist ja nur eine Ausnahme von der Bestrafung der Frau mit bis zu einem Jahr Gefängnis. Ein Schwangerschaftsabbruch ist immer noch eine Straftat. Deshalb wird er in der Ausbildung von Ärzten und Ärztinnen nicht gelehrt und von der Krankenkasse nicht bezahlt. Die staatliche Bevormundung der Frau existiert also immer noch und die muss beendet werden!
Was müsste passieren?
Die Fristenlösung war 1975 ein Kompromiss. Die katholische Kirche hat damals mit einem Aufstand gedroht, falls der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch genommen worden wäre. Inzwischen wäre es sozial auch nicht mehr vertretbar, wenn eine Frau für eine Abtreibung mit Gefängnis bestraft würde. Aber dann stellt sich doch die Frage: Warum nimmt man die Abtreibung nicht raus aus dem Strafgesetzbuch? Das ist ja totes Recht!
In der DDR wurde die Abtreibung 1972 ganz aus dem Strafgesetzbuch genommen. Sie fiel dann in die Sozialgesetzgebung.
Genau. Angela Merkel ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der jede Frau im Krankenhaus einen Anspruch auf einen kostenlosen Abbruch hatte. Und dann wird sie Kanzlerin und macht für die Frauen in Deutschland die Tür zu! Heute hat Deutschland ein Gesetz, das Frauen mit ungewollter Schwangerschaft in Westeuropa am meisten bevormundet. Und europaweit gesehen steht Deutschland auf Platz zwei hinter Polen, gleichauf mit Ungarn. Das ist doch beschämend! Auch für uns Männer, denn wir haben ja nichts davon, wenn Frauen bevormundet werden. In Kanada hat der Oberste Gerichtshof bereits 1988 das Abtreibungsverbot ersatzlos gestrichen, weil es gegen die Menschenrechte von Frauen verstößt.
Wir haben in Deutschland das Problem, dass Frauen Abtreibungen immer schwerer gemacht werden, weil immer weniger ÄrztInnen und Krankenhäuser Abbrüche vornehmen. Wie ist das in Österreich?
In den Hauptstädten der Bundesländer ist die Versorgungslage noch einigermaßen. Aber auf dem Land gibt es überhaupt nichts. Und das ist natürlich ein großes Problem. Die meisten Frauen, die abtreiben, haben schon Kinder. Für sie ist es besonders schwierig, für einen Abbruch in eine entfernte Stadt zu fahren. In Salzburg wollte eine SPÖ-Politikerin durchsetzen, dass die Landesklinik Abbrüche durchführt, aber eine Allianz aus ÖVP, der katholischen Kirche und der Ärztekammer hat verhindert, dass sich Ärzte von dort beteiligen. Deshalb fahren ein Kollege und ich seit 2005 am Wochenende nach Salzburg, um dort Abbrüche zu machen und sind im Bundesland quasi die einzigen die das tun. Und im Burgenland gibt es keinen einzigen Arzt, der Abbrüche durchführt, obwohl dort schon lange die SPÖ regiert.
Dass ÄrztInnen keine Abbrüche mehr machen, liegt auch am Druck der sogenannten „Lebensschützer“.
Diese Leute sind keine Lebensschützer, sondern Lebensgefährder! Ich habe als Arzt in Afrika und in Asien gearbeitet und gesehen, wie Frauen an verbotenen und deshalb verpfuschten Abtreibungen elendig krepieren. Diese religiösen Fundamentalisten demonstrieren seit 20 Jahren fast jeden Tag vor unserer Ambulanz in Wien.
In Deutschland gibt es jetzt ein Verbot dieser sogenannten „Gehsteigbelästigungen“. Und in Österreich?
Wir haben eine Studie dazu gemacht, wie Frauen diese teilweise sehr übergriffigen Verhaltensweisen wahrnehmen: Keine einzige fand das hilfreich, es hat ihre Entscheidung nicht geändert, aber alle erwarteten sich vom Staat, dass er sie vor diesen Übergriffen schützt. Daraufhin wurde in Wien ein entsprechendes Gesetz mit einer Strafandrohung erlassen. Frauen dürfen im Zugang zu einer Gesundheitseinrichtung nicht mehr angesprochen werden, niemand darf sich ihnen in den Weg stellen und man darf ihnen nichts überreichen. Die Fundamentalisten stehen jetzt auf der anderen Straßenseite, aber immerhin dürfen sie keinen direkten Kontakt mehr mit den Frauen aufnehmen. Es ist super, dass Deutschland dieses Verbot jetzt endlich eingeführt hat. Andere Länder wie Frankreich oder England haben das schon sehr lang und mit sehr harten Strafen eingeführt, das hat sich dort sehr bewährt. Und das ist auch absolut notwendig. Warum sollen Frauen beim Zugang zu einer Gesundheitseinrichtung wie Freiwild behandelt werden? Wie kann es sein, dass jeder ihnen nachlaufen und sie als Mörderinnen beschimpfen darf?
Sie haben 2003 das „Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch“ gegründet. Mit Ihrem Team haben Sie Anfang 2024 ein Volksbegehren initiiert. Was ist Ihr Ziel?
Es stimmt, dass es auch bei uns in Österreich wenige Ärzte gibt, die Abbrüche vornehmen. Ich halte diese Diskussion aber für den falschen Ansatz. Denn letztlich haben wir nicht zu wenig Ärzte, sondern viel zu viele Restriktionen! Wenn Frauen die Abtreibungspille rezeptfrei in jeder Apotheke kaufen könnten, dann wäre das Problem über Nacht gelöst. Der medikamentöse Abbruch unterscheidet sich medizinisch nicht von einem Spontan-Abort. Deshalb haben wir Anfang 2024 zwei Volksbegehren mit folgenden Forderungen eingeleitet: Erstens die Strafbestimmungen nach dem Vorbild Kanadas ersatzlos zu streichen. Und zweitens das Präparat für den medikamentösen Abbruch rezeptfrei abzugeben, damit ihn Frauen selbst durchführen können.
Wie funktioniert ein Volksbegehren in Österreich?
Wir haben zwei Jahre Zeit, Unterschriften zu sammeln. Wenn 100.000 Unterschriften zusammen sind, muss sich das Parlament mit unseren Forderungen befassen. Und im Idealfall führt das zu einer Gesetzesänderung.
Anders als in der Schweiz wäre die Regierung aber nicht verpflichtet, das Gesetz zu ändern?
Nein. Aber das Ganze würde natürlich auch in den Medien entsprechend berichtet und wir hoffen ein bisschen auf den Effekt, den die Stern-Aktion von 1971 hatte. Nämlich, dass es eine breite gesellschaftliche Debatte gibt, die dann zu mehr Selbstbestimmung von Frauen führt.
Welche Hoffnung verbinden Sie mit der neuen Regierungs-Koalition aus der konservativen ÖVP, der SPÖ und den liberalen Neos?
Die Erfahrung lehrt, dass es letztlich keine Partei gibt, die beim Thema Abtreibung etwas zum Positiven bewirkt hätte, Fortschritte für Frauen haben immer nur einzelne Personen erkämpft.
Die rechtspopulistische FPÖ ist bei den Wahlen im September 2024 stärkste Partei geworden. Hat sich dadurch das Klima in Sachen Schwangerschaftsabbrüche verschärft?
Ich halte das für ein Schattenboxen der anderen Parteien, um davon abzulenken, dass sie selbst nichts für die Frauen verbessern. Die FPÖ hat, abgesehen von der Rhetorik, faktisch nichts verschärft. Ich bin natürlich weit davon entfernt, die FPÖ zu verteidigen. Aber ich empöre mich viel mehr über die fortschrittlichen Parteien, die vorgeben, in Sachen Abtreibung etwas für die Frauen verbessern zu wollen – und es dann nicht tun. Schon 1920 hat eine der ersten Abgeordneten im österreichischen Parlament gefordert, eine Abtreibung nur zu bestrafen, wenn sie gegen den Willen der Frau vorgenommen wird. Und hundert Jahre später diskutieren wir immer noch über das Gleiche!
Das Gespräch führte Chantal Louis.
Weiterlesen: Susanne Krejsa MacManus und Christian Fiala: 1945 – 1975. Der blutige Kampf um die Fristenlösung … und was seither geschah (Verlagshaus der Ärzte), erscheint im Februar 2025
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