Attentäter: verwirrt und enttäuscht

Was waren die Motive des Attentäters, der auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit einem Auto in die Menge raste?
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Der Anschlag von Magdeburg scheint eine seltsame Mutation des Terrorismus zu sein: Ein Psychiater aus einem islamischen Land, der gleichzeitig psychisch krank zu sein scheint, hasst den Islam und den Islamismus, rast aber in einen Weihnachtsmarkt und tötet zahlreiche Menschen. All das macht es vielen Deutschen schwer, diese Tat einzuordnen. Hatte man früher Angst vor Islamisten, muss man sich jetzt auch vor Islamkritikern fürchten?

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Um die Tat zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Heimat des Attentäters werfen. Taleb A. wuchs in den 1970er und -80er Jahren in der Stadt al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens auf, in einer Zeit, in der der Wahhabismus, die strengste Auslegung des sunnitischen Islam, vorherrschte. Er gehört zur schiitischen Minderheit, die im Geburtsland des Islam massiver Unterdrückung ausgesetzt ist.

Radikale Religiosität kann radikale Formen des Atheismus hervorbringen

Radikale Religiosität bringt oft radikale Formen des Atheismus hervor. So werden Atheisten, die in einem streng religiösen Umfeld sozialisiert wurden, nicht selten zu kompromisslosen Gegnern der Religion, manchmal sogar zu Feinden aller Gläubigen. Dies scheint bei Taleb A. der Fall gewesen zu sein. Er floh vor den Salafisten, kam nach Deutschland und wurde selbst zum salafistischen Atheisten, der Andersdenkenden die Existenzberechtigung absprach. Als Ex-Muslim schien er hohe Erwartungen an den säkularen Westen gehabt zu haben.

Er wollte, dass Deutschland auf ihn hört und keine Muslime mehr aufnimmt, warf Angela Merkel vor, Europa islamisieren zu wollen und glaubte an eine große Verschwörung. Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen das linke politische Establishment, sondern auch gegen Teile der islamkritischen Szene in Deutschland.

Genau vier Wochen vor dem Anschlag schrieb er mir eine Nachricht auf X, in der er mich aufforderte, meine Unterstützung für die „Säkulare Flüchtlingshilfe“ einzustellen, eine Organisation, die sich für säkulare und atheistische Asylsuchende einsetzt, die in Asylbewerberheimen häufig von fanatischen Muslimen schikaniert und angegriffen werden. In seiner Nachricht an mich warnte er, dass er bald etwas tun werde, das diese Organisation weltweit zum Gesprächsthema Nr. 1 machen würde. Er glaubte, dass sowohl die Bundesregierung als auch Teile der islamkritischen Szene in Deutschland unter einer Decke steckten, um saudische Frauen nach Deutschland zu locken und ihr Leben zu zerstören. Er sah sich gerne als Schutzpatron der saudischen Frauen in Deutschland.

Er wollte, dass Deutschland keine Muslime mehr aufnimmt, glaubte an Verschwörung

Manche halten ihn für einen radikalen Schiiten, der Taqiyya (das Prinzip, in akuter Gefahr den eigenen Glauben zu verleugnen, Anm. der Red.), nur betreibt, um säkulare Muslime zu diskreditieren. Das ist zwar nicht auszuschließen, aber seine Äußerungen auf X und auch seine Nachrichten an mich zeugen eher von Verwirrung als von einer klugen Strategie. Er scheint nur wie jemand zu sein, der von einem Extrem ins andere fällt.

Die klassischen Merkmale eines Terroristen sind bei Taleb A. nicht zu erkennen. Es fehlt die religiöse oder politische Ideologie, die seine Tat erklärt, und es fehlt das klare Ziel. Dennoch erkennen wir bei ihm einige Muster, die wir auch bei anderen Terroristen finden: Die unerschütterliche Gewissheit, die keinen Zweifel zulässt; eine heroisch geschlossene Erzählung, in der er sich als ewiges Opfer gegen den Rest der Welt verschwört; eine prophetische Persönlichkeit, die eine explosive Mischung aus Hilflosigkeit und Narzissmus in sich vereint; und die feste Überzeugung, dass seine Tat entweder die Welt verändern oder ein großes Geheimnis enthüllen wird.

Klassische Merkmale eines Terroristen sind bei Taleb A. nicht zu erkennen

Nicht nur religiöse Muslime können nach ihrer Ankunft im Westen in eine Identitätskrise geraten. Auch säkulare Menschen aus dem islamischen Kulturkreis erleben nach der Migration oft soziale Isolation und moralische Desorientierung. Auch ich habe Ägypten vor 29 Jahren verlassen, um hier in Freiheit zu leben, aber für diese Freiheit hatte ich weder eine Gebrauchsanweisung noch einen Führerschein.

Ich hatte weder ein Navigationssystem noch ein klares Ziel. Und so wird die Freiheit für viele eher zum Fluch als zum Segen. Erst nach Jahren habe ich begriffen, dass Deutschland mir die Freiheit nicht schuldet, sondern dass ich sie mir selbst verdienen muss. Erst dann habe ich meinen Frieden mit Deutschland gefunden.

Viele Ex-Muslime leben hier in Abschottung. Ihre Hoffnungen auf den Westen schlagen schnell in tiefe Enttäuschung um, wenn sie merken, dass religiöse Migranten in Medien und Politik mehr Aufmerksamkeit bekommen als Menschen, die die Werte des Westens ohne Überredung angenommen haben. Und genau das suchte Taleb A. Mit seiner lauten und unausgewogenen Islamkritik wollte er mehr öffentliche Aufmerksamkeit.

Als er diese nicht bekam, versuchte er es mit Copycat Crime. Er blickte zurück und sah, wie Islamisten in der Vergangenheit größtmögliche Aufmerksamkeit bekamen und fand nichts Besseres als das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz 2017. Er kopierte die Tat in Magdeburg, damit endlich die ganze Welt ihn und seine kruden Verschwörungstheorien kennt.

Die abscheuliche Tat in Magdeburg eignet sich nicht für politische Grabenkämpfe

So schmerzlich der Anschlag von Magdeburg war, so viel Aufmerksamkeit darf der Täter nicht bekommen. Diese abscheuliche Tat eignet sich auch nicht für politische Grabenkämpfe zwischen Rechts und Links. Der Täter steht weder für Muslime noch für Atheisten. Er hat seine Tat nicht begangen, weil er rechts oder links war, sondern weil er mit seiner eigenen Verwirrung und mit den Zumutungen der Freiheit nicht zurechtgekommen ist.

Ja, die Freiheit ist ein mühseliges Geschäft, und ja, sie hat ihren Preis. Ein Preis der Freiheit ist, dass man in einer offenen Gesellschaft solche Taten nicht immer vorhersehen oder verhindern kann. Ja, wir haben viele Probleme in der Migrations- und Asylpolitik. Ja, wir müssen gegen Islamismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus kämpfen, aber die Tat von Magdeburg eignet sich nicht dazu, all diese Themen aufzufächern. Es gilt, was wir nach jedem solchen Anschlag tun müssen: Einen kühlen Kopf bewahren, wachsam bleiben und uns unsere Freiheit und Lebensfreude nicht nehmen lassen!

HAMED ABDEL-SAMAD

Der Text erschien zuerst auf Focus Online

 

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