Carola Meier-Seethaler ist tot
Sie erholt sich gerade von einem schweren Sturz und ist noch etwas wackelig auf den Beinen, als ich sie in Bern besuche. Ihr Denken aber ist scharf wie eh und je. Am 19. März wird Carola Meier-Seethaler 95 Jahre alt. 18 war sie demnach, als Bombenangriffe weite Teile ihrer Geburtsstadt München zerstörten und in den letzten Kriegstagen auch ihr Elternhaus in Bad Reichenhall schwer getroffen wurde. Zutiefst verstört von diesen Ereignissen beschloss sie, in München Philosophie zu studieren, um herauszufinden, wo Krieg und Gewalt ihren Ursprung haben.
Diese Frage treibt Carola Meier-Seethaler bis heute um. Dass sie die Antworten mittlerweile vermehrt auf psychologischer Ebene sucht, daran ist die Universität München schuld, die ihr nach erfolgreicher Promotion eine bezahlte Assistentenstelle verweigerte. Begründung: Eine akademische Laufbahn sei für Frauen nicht vorgesehen, sie heirateten ja doch. Diese Kränkung war für Meier- Seethaler Anlass, ihr Nebenfach Psychologie abzuschließen und die Psychotherapie zu ihrem Beruf zu machen.
Sie gab nicht eher auf, bis sie zum Ursprung eines Problems vorgedrungen war
Geheiratet hat Carola Meier-Seethaler dann trotzdem. In dem Schweizer Chemiker Hans-Ludwig Meier fand sie einen Ehemann, der ihr partnerschaftlich zur Seite stand und sie nach der Geburt der beiden Töchter unterstützte, Mutterschaft und Beruf unter einen Hut zu bringen. Nachdem die Psychologin zunächst längere Zeit unterrichtet hatte, eröffnete sie 1978 ihre erste eigene Praxis. Hier, im therapeutischen Gespräch, gewann sie jene Einsichten in die Problematik der Geschlechterbeziehungen, die sie zu ihren späteren kulturphilosophischen Werken inspirierten.
Immer wieder, so erzählt sie, habe sie Ehepaare in der Therapie gehabt, er beruflich gestresst, sie deprimiert, die ihr vor Augen geführt hätten, wie krankmachend die traditionelle Rollenverteilung sein könne: für den zu Stärke verpflichteten Mann ebenso wie für die zur häuslichen Isolation verurteilte Frau. Wie, so fragte sie sich, hatte es dazu kommen können?
Angeregt durch die feministische Wissenschaft der 1970er Jahre, begann Carola Meier-Seethaler archäologische, ethnologische und religionsphilosophische Studien zu betreiben. Sie wollte herausfinden, was zur männlichen Vorherrschaft über die ursprünglich matrizentrischen Gemeinschaften geführt hatte. Ihr Schluss, stark verkürzt: Es war die „Zweitrangigkeit der Männer“, die diese – wegen mangelnder Gebärfähigkeit –, durch Selbstüberhöhung und Herabsetzung des Weiblichen erfolgreich zu kompensieren wussten.
Sie wagte es, sich dem feministischen Mainstream entgegenzustellen
In Werken wie „Ursprünge und Befreiungen“ oder „Gefühl und Urteilskraft“ hat Carola Meier-Seethaler eine Kulturtheorie entwickelt, die zur Aufkündigung patriarchaler Denkmuster aufruft und Emanzipation als Bewegung versteht, die Mann und Frau gleichermaßen zugutekommt. Denn nicht um einen Kampf der Geschlechter gehe es ihr, sagt sie, sondern um die Überwindung jener dualistischen Weltsicht, die bis heute das männliche Prinzip über das weibliche stellt, den Geist über die Materie, den Verstand über das Gefühl, und damit Mensch und Natur immer von Neuem Gewalt antue.
Carola Meier-Seethaler ist eine Wissenschaftlerin, die nicht eher aufgibt, als bis sie zum Ursprung eines Problems vorgedrungen ist und Wege zu dessen Überwindung aufzeigen kann. Dabei scheut sie sich nicht, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen und sich dem Mainstream, auch dem feministischen, entgegenzustellen. So ist sie zum Beispiel mit der von Judith Butler entwickelten Gender-Theorie nicht einverstanden und hält die amerikanische Kultautorin für eine „Totengräberin des Feminismus“. Denn, so Meier-Seethaler in einem Aufsatz zum Feminismus von heute, „wenn biologische Zweigeschlechtlichkeit Sie als kulturelle Konstruktion abgetan wird, dann erübrigt sich im Grunde die Geschlechterfrage.“ Und damit auch der Feminismus, der ihr doch so sehr am Herzen liegt.
Widerspruchsgeist und Debattierfreude blitzen auf, wenn Carola Meier-Seethaler auf solche Themen zu sprechen kommt. Zum Gehen mag sie auf einen Rollator angewiesen sein. In ihrem Denken und Argumentieren aber fliegt sie.
KLARA OBERMÜLLER