Carola Meier-Seethaler ist tot

Carola Meier-Seethaler (1927-2022). Foto: Iris Krebs
Artikel teilen

Sie erholt sich gerade von einem schweren Sturz und ist noch etwas wackelig auf den Beinen, als ich sie in Bern besuche. Ihr Denken aber ist scharf wie eh und je. Am 19. März wird Carola Meier-Seethaler 95 Jahre alt. 18 war sie demnach, als Bombenangriffe weite Teile ihrer Geburtsstadt München zerstörten und in den letzten Kriegstagen auch ihr Elternhaus in Bad Reichenhall schwer getroffen wurde. Zutiefst verstört von diesen Ereignissen beschloss sie, in München Philosophie zu studieren, um herauszufinden, wo Krieg und Gewalt ihren Ursprung haben.

Anzeige

Diese Frage treibt Carola Meier-Seethaler bis heute um. Dass sie die Antworten mittlerweile vermehrt auf psychologischer Ebene sucht, daran ist die Universität München schuld, die ihr nach erfolgreicher Promotion eine bezahlte Assistentenstelle verweigerte. Begründung: Eine akademische Laufbahn sei für Frauen nicht vorgesehen, sie heirateten ja doch. Diese Kränkung war für Meier- Seethaler Anlass, ihr Nebenfach Psychologie abzuschließen und die Psychotherapie zu ihrem Beruf zu machen.

Sie gab nicht eher auf, bis sie zum Ursprung eines Problems vorgedrungen war

Geheiratet hat Carola Meier-Seethaler dann trotzdem. In dem Schweizer Chemiker Hans-Ludwig Meier fand sie einen Ehemann, der ihr partnerschaftlich zur Seite stand und sie nach der Geburt der beiden Töchter unterstützte, Mutterschaft und Beruf unter einen Hut zu bringen. Nachdem die Psychologin zunächst längere Zeit unterrichtet hatte, eröffnete sie 1978 ihre erste eigene Praxis. Hier, im therapeutischen Gespräch, gewann sie jene Einsichten in die Problematik der Geschlechterbeziehungen, die sie zu ihren späteren kulturphilosophischen Werken inspirierten.

Immer wieder, so erzählt sie, habe sie Ehepaare in der Therapie gehabt, er beruflich gestresst, sie deprimiert, die ihr vor Augen geführt hätten, wie krankmachend die traditionelle Rollenverteilung sein könne: für den zu Stärke verpflichteten Mann ebenso wie für die zur häuslichen Isolation verurteilte Frau. Wie, so fragte sie sich, hatte es dazu kommen können?

Angeregt durch die feministische Wissenschaft der 1970er Jahre, begann Carola Meier-Seethaler archäologische, ethnologische und religionsphilosophische Studien zu betreiben. Sie wollte herausfinden, was zur männlichen Vorherrschaft über die ursprünglich matrizentrischen Gemeinschaften geführt hatte. Ihr Schluss, stark verkürzt: Es war die „Zweitrangigkeit der Männer“, die diese – wegen mangelnder Gebärfähigkeit –, durch Selbstüberhöhung und Herabsetzung des Weiblichen erfolgreich zu kompensieren wussten.

Sie wagte es, sich dem feministischen Mainstream entgegenzustellen

In Werken wie „Ursprünge und Befreiungen“ oder „Gefühl und Urteilskraft“ hat Carola Meier-Seethaler eine Kulturtheorie entwickelt, die zur Aufkündigung patriarchaler Denkmuster aufruft und Emanzipation als Bewegung versteht, die Mann und Frau gleichermaßen zugutekommt. Denn nicht um einen Kampf der Geschlechter gehe es ihr, sagt sie, sondern um die Überwindung jener dualistischen Weltsicht, die bis heute das männliche Prinzip über das weibliche stellt, den Geist über die Materie, den Verstand über das Gefühl, und damit Mensch und Natur immer von Neuem Gewalt antue.

Carola Meier-Seethaler ist eine Wissenschaftlerin, die nicht eher aufgibt, als bis sie zum Ursprung eines Problems vorgedrungen ist und Wege zu dessen Überwindung aufzeigen kann. Dabei scheut sie sich nicht, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen und sich dem Mainstream, auch dem feministischen, entgegenzustellen. So ist sie zum Beispiel mit der von Judith Butler entwickelten Gender-Theorie nicht einverstanden und hält die amerikanische Kultautorin für eine „Totengräberin des Feminismus“. Denn, so Meier-Seethaler in einem Aufsatz zum Feminismus von heute, „wenn biologische Zweigeschlechtlichkeit Sie als kulturelle Konstruktion abgetan wird, dann erübrigt sich im Grunde die Geschlechterfrage.“ Und damit auch der Feminismus, der ihr doch so sehr am Herzen liegt.

Widerspruchsgeist und Debattierfreude blitzen auf, wenn Carola Meier-Seethaler auf solche Themen zu sprechen kommt. Zum Gehen mag sie auf einen Rollator angewiesen sein. In ihrem Denken und Argumentieren aber fliegt sie.

KLARA OBERMÜLLER

Artikel teilen

Philosophin: politisch inkorrekt?

Foto: Iris Krebs
Artikel teilen

Zum ersten Mal gecancelt wurde Carola Meier-Seethaler im Jahr 1950. Damals nannte man die Verbannung einer unliebsamen Person allerdings noch nicht so. Die 23-Jährige hatte gerade an der Universität München in Philosophie promoviert. Doch ihre Habilitation scheiterte an der Universitätsleitung. „Die Universitätslaufbahn sei für Frauen nicht vorgesehen.“ Die geschasste Philosophin stürzte sich in ihr Nebenfach Psychologie, forschte zu Geschlechterverhältnissen und verfasst zahlreiche Bücher; darunter „Ursprünge und Befreiungen“, ein Standardwerk über die Entstehung des Patriarchats.

Anzeige

72 Jahre später, im Februar 2022, wird die heute 95-Jährige, die seit 1958 in Bern lebt, eingeladen, an der PhilExpo22 teilzunehmen. Das Philosophie-Portal „philosophie.ch“ plane für Mai „erstmals eine landesweite Expo für Philosophie in der Schweiz“, schreibt Tanja Liebschwager vom Ausstellungs-Team. Sie selbst plane in diesem Rahmen eine „Ausstellung zu Frauen in der Philosophie. Darin wird die Unterrepräsentation von Frauen in der Philosophie diskutiert, die historischen Anfänge von Frauen an den Schweizer Universitäten aufgearbeitet und philosophisch tätige Personen porträtiert.“ Sie könne sich dort einen Text und ein Video als Beitrag von Meier-Seethaler vorstellen.

"Trans- und nichtbinäre Personen könnten sich durch den Beitrag verletzt fühlen"

Carola Meier-Seethaler sagt freudig zu. Aber aus ihrer Teilnahme wird nichts. Denn die Frau, die von 2001 bis 2006 Mitglied der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin war, schreibt in ihrem Beitrag für die Ausstellung am Ende den folgenden Satz: „In meiner emanzipatorischen Position trete ich für die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Lebensgebieten ein. Sie ist noch längst nicht erreicht, solange weltweit Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts diskriminiert, verfolgt und ermordet werden.“

Tanja Liebschwager bedankt sich zunächst „für den spannenden Beitrag, über den ich mich sehr freue“. Allerdings: „Gerne würden wir das Wort ‚biologisch‘ an dieser Stelle weglassen, da wir der Auffassung sind, dass die genannten Dinge Frauen nicht nur aufgrund ihres biologischen, sondern auch aufgrund ihres sozialen/sozial konstruierten Geschlechts zustoßen.“

Meier-Seethaler aber hält an der Formulierung fest, „und dies auch deshalb, weil die Misshandlung von Frauen in vielen Teilen der Welt stattfindet, in denen eine patriarchale Ideologie vorherrscht, in welcher über soziokulturelle Prägungen gar nicht reflektiert wird.“

"Die Offenheit für Argumente ist eine Voraussetzung für Philosophie."

Man habe nun doch schon genug Filmmaterial, bedauert plötzlich Liebschwager. Auch das geplante Porträt könne so nicht kommen. Stattdessen könne ihr Text anonym ausgestellt werden und ohne den inkriminierten Abschnitt. Was damit zusammenhänge „dass trans und nicht-binäre Personen an unserer Ausstellung beteiligt sind und wir niemanden verletzen möchten“. Carola Meier-Seethaler lehnt ab.

Der Text erscheint schließlich doch noch in voller Länge, zwar nicht in der Ausstellung, aber auf philosophie.ch. Als der Geschäftsführer Philipp Blum aus den Schweizer Medien von dem Fall erfährt, entschuldigt er sich bei Carola Meier-Seethaler: „Alles, was mit Cancel Culture zu tun hat, widerspricht dem Grundgedanken und den Grundsätzen unseres Portals.“

Und auf dem Portal erklärt der Philosoph: „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass es mir gründlich misslungen ist, selbst unsere eigenen Mitarbeitenden davon zu überzeugen, dass genuin philosophische Fragen in Artikeln, Essays, Blogbeiträgen und Buchnotizen auf eben unserem Portal abgehandelt werden sollen, mit Argumenten und Gegen-Argumenten, und nicht durch Anfeindungen, Ein- und Ausladungen und dem Hinweis, durch andersartige Meinungen in irgendeiner Weise ‚verletzt‘ zu werden. Diese Offenheit für die Argumente des anderen ist eine nicht verhandelbare Voraussetzung von Philosophie."

Weiterlesen

Anzeige

 
Zur Startseite