Hallo, ist da das Fräulein vom Amt?
Für Marcel Proust waren Telefonistinnen "ironische Furien" oder "kluge Jungfrauen". Ob er sich wohlwollend oder bissig äußerte, hing wohl davon ab, ob seine letzte Telefonverbindung schnell und reibungslos oder stockend und unter Mühen zustande gekommen war. Denn die neue Erfindung litt an Kinderkrankheiten: lange Wartezeiten, Störungen in der Leitung und Pannen bei der Vermittlung waren keine Seltenheit.
Wer heute mit dem iPhone ein Telefonat führt, kann sich die Umstände, die ein Telefongespräch früher mit sich brachte, gar nicht mehr vorstellen. Tausende von Frauen waren Anfang des letzten Jahrhunderts auf der ganzen Welt nur damit beschäftigt, die Verbindungen zwischen den einzelnen GesprächspartnerInnen herzustellen. Gleichzeitig war das "Fräulein vom Amt" der Inbegriff für eine neue Zeit, in der die Frauen ihr Korsett ablegten und erstmals ihr eigenes Geld verdienten.
Generalpostmeister Heinrich Stephan führte 1877 das in den USA gerade erst erfundene Telefon beim deutschen Reichstelegrafenamt ein und der Fernsprecher wurde zunächst vor allem dazu verwendet, Telegramme zu übermitteln. Die Verbindungen bestanden nur zwischen den Postämtern. Firmen und Haushalte verfügten zunächst nicht über ein Telefon.
Das änderte sich erst, als die Bell-Telephone Company 1880 versuchte, ein Vertriebsnetz für Privatpersonen aufzubauen. Der deutsche Generalpostmeister reagierte rasch. Er ließ die Fernsprechleitungen durch Reichskanzler Bismarck sofort verstaatlichen und warb höchstpersönlich um private Kunden. Die mussten allerdings mühsam vom Nutzen dieser neuen Erfindung überzeugt werden, für die sie im Jahr die stolze Summe von 200 Reichsmark Benutzungsgebühr hinblättern mussten (Ein Lehrer verdiente damals etwa 1.000 Mark im Jahr). Und so zählte das erste öffentliche Fernsprechnetz in Berlin 1881 bei der Eröffnung ganze 94 Teilnehmer.
Doch das Telefon setzte sich durch: Zwölf Jahre später, Ende 1893, gab es in Berlin bereits 20.949 Sprechstellen. New York im Mutterland des Telefons konnte zu dieser Zeit nur mit 9.066 Sprechstellen aufwarten, London mit 6.700.
Jeder Fernsprechteilnehmer erhielt einen Apparatesatz, der aus einem Holzgehäuse mit zwei Fernsprechern (das Bell-Telefon konnte zwar sowohl zum Sprechen als auch zum Hören benutzt werden, da aber das Wechseln zwischen Ohr und Mund sehr unpraktisch war, benutzte man zwei Telefone), einem "Wecker" und einem Blitzableiter bestand. Von jedem Kunden führte eine Leitung direkt zum Reichstelegrafenamt. Hier standen am Anfang männliche Beamte, die am Klappenschrank per Hand die Verbindung zwischen den Gesprächspartnern stöpselten. Das heißt, der Anrufer nahm den Hörer ab und "weckte" den Beamten mit einer Ruftaste: Am Klappenschrank fiel die Klappe mit der Rufnummer des Anrufers. Der Telefonist fragte den Teilnehmer, mit wem er telefonieren wollte. War die Leitung frei, stöpselte der Beamte das Gespräch weiter und informierte den Angerufenen darüber, dass er am Telefon verlangt wurde. Nach Beenden des Gesprächs informierte der Anrufer den Beamten durch das Schlusszeichen. Dieser zog die Verbindungsleitung aus den Klinken, das Telefonat war beendet.
Mit der rasch steigenden Teilnehmerzahl wurde jedoch immer mehr Personal benötigt, zunächst kamen billigere männliche Hilfskräfte hinzu. Die Arbeit musste im Stehen und bei erheblichem Lärm verrichtet werden. Verständlich, dass "Telefonist" bald nicht mehr der angesagteste Traumberuf war.
Hier traten nun die Frauen auf den Plan: 1887 begannen die ersten in Hamburg und Berlin ihre Arbeit als Fernsprechgehilfinnen. Sie bildeten bald eine eigene Sparte zwischen den mittleren Beamten und den männlichen Hilfsarbeitern. Man schätzte ihre Leistungsbereitschaft und ihre Geduld gegenüber Kunden wie Arbeitgebern. Die Frauen waren im Kommen. Dies beunruhigte nun wiederum die Männer. Die neue Rolle, in die das zarte Geschlecht hier hinein wuchs, erweckte bei den Männern Ängste und Futterneid. Die Wellen schlugen hoch, und so kam es, dass Unterstaatssekretär Fischer 1894 im Reichstag erklärte, dass man Telefonistinnen beschäftige "einmal, weil durch die höhere Stimmlage des weiblichen Organs die Schallwellen leichter verständlich sind, und sodann, weil der Teilnehmer friedlich wird, wenn ihm aus dem Telephon eine Frauenstimme entgegentönt".
Es verstand sich von selbst, dass die Frauen dennoch weniger verdienten als ihre männlichen Arbeitskollegen, genau ein Viertel weniger. Sie hatten keine Aufstiegsmöglichkeiten und erhielten beim Ausscheiden auch nach langjähriger Tätigkeit keine Abfindungen. Immerhin durften sie bei der Arbeit nun sitzen.
Und dennoch: Was für die Männer als Stressjob galt, entwickelte sich für die Frauen zu einem begehrten Beruf. Denn Frauen, die nicht länger von der Familie abhängig sein wollten, mussten sich eine Tätigkeit suchen, die ihnen erlaubt war. Neben den traditionellen Berufen als Köchin, Hausmädchen, Krankenschwester oder Lehrerin konnte Frau nun auch in Fabriken, im Büro oder eben als Telefonistin ihr Glück versuchen.
Das "Fräulein vom Amt" war in, ja galt sogar als sexy. Von einem technischen Arbeitsplatz tönte dem Anrufer eine anonyme weibliche Stimme entgegen, das gab der Fantasie Raum.
Kein Wunder, dass die Post sich die Telefonistinnen unter einem großen Angebot aussuchen konnte. Wer Chancen haben wollte, musste "unbescholten und gebildet" sein, kam daher meist "aus gutem Hause".
Die Erwählten wurden mit Brustmikrofon und Kopf-Fernhörer ausgestattet, der Dienst konnte beginnen. Nicht immer erwartete ein freundlicher Anrufer das "Fräulein". Hinzu kamen die Unzulänglichkeiten der Technik: rauschende Leitung, falsch gestöpselte Verbindung etc. Die Telefonistin Margarete Pick klagte: "So viele Beamtenbeleidigungsklagen hätten die Berliner Gerichte in Jahrzehnten nicht durchgearbeitet, (...) wenn (...) männliche Beamte den Telefondienst versehen hätten."
Der Arbeitsplatz wurde zunehmend rationalisiert, so gab es genaue Vorschriften, mit welchen Handgriffen die Verbindung herzustellen sei, und eine zeitsparende Standardsprache: "Hier Amt, was beliebt?"
Mehr und mehr unterlag das "Fräulein vom Amt" auch einer strengen – übrigens häufig weiblichen – Überwachung, die nicht nur den Gang zur Toilette kontrollierte, sondern auch die mit fortschreitender Technik immer anspruchsvollere Vermittlungstätigkeit. Als Glühlämpchen die Klappen ersetzten, die signalisierten, dass eine Verbindung gewünscht wurde, konnte "der Beamte am Aufsichtstisch also an dem Aufleuchten und Erlöschen der Lampen seines Tableaus direkt ersehen, ob die Anruf- und Schlusszeichen an den einzelnen Plätzen sofort bedient werden; er kann sich überdies unbemerkt in den Stromkreis jeder Telefonistin einschalten und alle Gespräche mithören. Selbstverständlich kommt diese intensive Überwachung des gesamten Umschaltedienstes einer raschen Abwicklung des Verkehrs sehr zu statten" (Elektrotechnische Zeitschrift, 1900).
Die Bezeichnung "Fräulein vom Amt" hatte übrigens einen ganz konkreten Grund, denn eine der Einstellungsbedingungen war die Ehelosigkeit. So hieß es in einem Weisungsbuch des Telefonamts Nürnberg: "Das weibliche Postpersonal bedarf zur Eingehung einer Ehe der Erlaubnis der zuständigen Dienstbehörde. Da sich aber aus der Verwendung von verheirateten Beamtinnen (…) Schwierigkeiten verschiedener Art ergeben können, kann dem unterstellten weiblichen Personal (…) die Erlaubnis zur Eingehung einer Ehe nicht erteilt werden."
Diese für uns heute ungeheuerliche Einmischung des Arbeitgebers in die Privatsphäre war im Kaiserreich gar nicht so ungewöhnlich. Sie galt zum Beispiel auch für männliche Postillons. 1919 fand diese feudale Praxis in der demokratischen Weimarer Verfassung ein Ende.
Doch mit den "Fräuleins vom Amt" ging es weiter. In den zwanziger Jahren kam für sie eine "psychotechnische Eignungsprüfung" dazu, die unter anderem das Zahlengedächtnis und die Reaktionsfähigkeit der Telefonistinnen testete.
Typische Telefonistinnen-Erkrankungen traten auf, wie Kopfschmerzen, Reizzustände plus dauerhafte Hörschäden.
Die Frauen begannen sich zu organisieren. Ein erster Zusammenschluss fand 1905 in Halle statt, es folgten zahlreiche Vereine, die sich 1912 schließlich im "Verband der deutschen Reichs- Post- und Telegraphenbeamtinnen" zusammenschlossen. Wahlspruch: "Arbeiten und Frohsein!" Die Zahl der Mitglieder würde jedem Gewerkschaftsvertreter heute die Freudentränen in die Augen treiben: 1924 waren 87,4 Prozent des weiblichen Telefon-Personals organisiert.
Der Verein wirkte auf breiter Ebene. Er setzte sich nicht nur für die beruflichen und wirtschaftlichen Belange der Mitglieder ein, wie für die Aufhebung der Ehelosigkeit oder eine Abfindung beim Ausscheiden, bald mit dem Beinamen "Heiratsprämie" versehen. Sie wurde 1923 erstmals ausgezahlt. Erholungsräume und Lesesäle wurden eingerichtet und ein preiswerter Mittagstisch angeboten. Fortbildungskurse ermöglichten eine berufliche Höherstufung.
Der Verein trug viel dazu bei, dass der Beruf für das "Fräulein vom Amt" attraktiv blieb. Sie galt als die "neue Frau", war in den zwanziger Jahren ein Werbe-Idol und hatte in der Tat einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass Frauen berufstätig sein konnten. Und stolz auf das Erreichte.
Das letzte "Fräulein vom Amt" wurde 1966 von dem unaufhaltsamen Fortschritt überflüssig gemacht.
Zum Weiterlesen:
Helmut Gold/Annette Koch: "Das Fräulein vom Amt" (Prestel);
Yvonne Bühlmann/Kathrin Zatti: "Sanft wie eine Taube, klug wie eine Schlange und verschwiegen wie ein Grab …" Frauen im schweizerischen Telegrafen – und Telefonwesen 1870–1914 (Chronos)