Alice Schwarzer schreibt

Die etwas andere Außenministerin

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Als sie vor zweieinhalb Jahren antrat, wurde sie mit Vorschusslorbeeren überschüttet. Die erste Außenministerin der Schweiz: Micheline Calmy-Rey, 59. Brillant sei sie, unerschrocken und frech. Sie selbst legte nach: „Ich mache Angst“, sagte sie. Und: „Ich bin ziemlich feministisch.“ In der Tat, die Schweiz, die bisher gar keine Außenpolitik zu haben schien, hatte plötzlich eine solche. Doch die Tochter eines Eisenbahners und Gewerkschafters aus dem Wallis, die in Genf Politik studierte und dort Parteivorsitzende der Sozialdemokraten und Finanzdirektorin wurde, schlägt in Bern seit 2003 international gehörte Töne an.

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Es mag zu Calmy-Reys Sensibilisierung für die Außenpolitik beitragen, dass sie mit einem Rumänen verheiratet ist (mit dem sie zwei erwachsene Kinder hat: eine Ärztin und einen Schriftsteller). Vor einigen Monaten nun wendete sich der Ton in den Medien, zumindest der mehrheitlichen deutschsprachigen. Was vorher noch als „führungsstark“ galt, ist jetzt „machtbewusst“, was als „selbstbewusst“ jetzt „beratungsresistent“. Ihr Regierungsstil („Wie eine fleißige Volkshochschul-Studentin“) wird ebenso bemäkelt, wie ihr Führungsstil („Weil ich es will“). Wie eine Monarchin herrsche sie im Departement für Äußere Angelegenheiten.

Während meines Aufenthalts in der Regierungshauptstadt Bern wohne ich im Hotel Bern. Ein gediegenes Haus, aber keineswegs das erste am Platz. Zwei Stunden bevor wir – meine Schweizer Kollegin Christine Loriol und ich – die Außenministerin treffen, bereden wir die Interviewstrategie im Hotel. Und wer geht da durch die Eingangshalle, unbeachtet und allein? Außenministerin Calmy-Rey. Sie verschwindet im Aufzug, taucht fünf Minuten später mit einem beigen Pudelmischling wieder auf, setzt sich an einen der kleinen Tische im Durchgang und fängt an, Notizen zu machen. Kein Bodyguard weit und breit. Auch keine Assistentin. Glückliche Schweiz, in der eine Außenministerin so uneitel und volksnah ist.

Das Interview

Frau Bundesrätin, Sie sind seit dem 4.12.2002 Außenministerin der Schweiz. Zeit, Bilanz zu ziehen. Sie haben mit gewaltigen Vorschusslorbeeren angefangen und ernten zur Zeit nur ätzende Kritik.
Bundesrätin Micheline Calmy-Rey Ich möchte mich dazu nicht äußern!

Tatsache ist: Sie sind nicht nur der erste weibliche Außenminister der Schweiz, sondern auch die einzige Frau in dem siebenköpfigen Kabinett. Da ist es eigentlich nicht weiter überraschend, dass Sie eine, wie Ihre Kritiker schreiben, „solitäre Figur“ sind.
(Lacht) Ich bin dreifach in der Minderheit. Ich bin Sozialdemokratin. Ich bin Genferin, das heißt, französischer Sprache und Kultur. Und ich bin eine Frau … Und Mutter. All diese Erfahrungen bringe ich in den Bundesrat ein.

Was heißt das konkret?
In Genf sehen Sie alle Kulturen und hören alle Sprachen. In manchen Schulen sind gar keine Schweizer mehr. Da sieht man die Welt mit anderen Augen.

Und als Frau?
Das prägt meine Sicht der Dinge und alles was ich tue.

89 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer finden Sie gut. Umso krasser hebt sich die scharfe Kritik in den Medien ab, die Ihnen seit einigen Monaten entgegen schlägt.
Das sind nicht begründete Kritiken. Ohne sachliche Beweise. Ich möchte nicht meine Zeit mit diesen Dingen verlieren. Das lohnt sich nicht.

Sie hatten einen von den Medien bejubelten Start. „Die Unerschrockene“ hieß es damals. Die „unbequeme Departementchefin“, die „charmante Macherin“. Neuerdings tönt das ganz anders, jetzt werden Sie mal als „Clown“ bezeichnet, mal als „sympathische Großmutter“. Es wird Ihnen sogar als „eitel“ vorgeworfen, dass viele Journalisten Ihre Handynummer haben. Bei einem Minister würde man vielleicht sagen: wunderbar kommunikativ. Kurzum: Das ganze Vokabular, das Sie da trifft, scheint aus dem abgegriffenen Arsenal der Waffenkammer der Frauenverächter zu sein. Sie werden neuerdings auch gerne als „beratungsresistent“ bezeichnet. Das kennen wir im Zusammenhang mit deutschen Politikerinnen …
Ich bin nicht in meiner Funktion, um geliebt zu werden. Ich versuche, etwas zu bewegen. Das ist auch für einen Mann nicht einfach. Aber eine Frau wird eben noch nach anderen Maßstäben beurteilt. Ich kenne das schon lange. Ich habe sowas mein ganzes Leben lang erlebt, diese unterschiedliche Wahrnehmung durch die Medien und durch die Bevölkerung. Ich habe eben alle Vorteile von Frauen – aber auch alle Nachteile.

Und was sind die Vorteile?
Die Lebenserfahrungen einer Frau sind nicht diejenigen eines Mannes. Das kann auch ein Vorteil sein. Dies gesagt, habe ich immer versucht, von meinem Frausein nicht zu profitieren. Im Gegenteil.

Kommt es in Ihrem Fall verschärfend hinzu, dass Sie nicht nur eine Frau sind, sondern auch eine nach klassischen Normen attraktive Frau? Will sagen: Irritiert es die Männerwelt vielleicht besonders, wenn eine Frau, mit der sie eigentlich flirten will, plötzlich neben ihr agiert wie ein Mann?
Das, was Sie meine „klassische Attraktivität“ nennen, hat mir nie geholfen, sondern immer nur geschadet. Statt meine fachlichen Kompetenzen zu schätzen, hat man mich in Genf am Anfang als „charmant“ abgetan. Das ist überall so und war für mich immer ein Nachteil.

Gut auszusehen?
Ja.

Hat sich dieser Nachteil auf den oberen Stufen der Karriereleiter verschärft?
Nein, das war immer dasselbe. Man versteht eine Frau, die Mutter ist. Man versteht auch eine Frau, die Prostituierte ist. Aber eine Frau, die Macht will – die versteht man nicht. Und wenn diese Frau auch noch gleichzeitig feminin wirkt – das passt dann gar nicht zusammen. Das verletzt die Spielregeln. Und ich habe immer schon ganz offen gesagt: Ich will Macht! Macht, um die Machtverhältnisse zu verändern. Und so eine Frau können die Männer an der Macht nicht ertragen. Aber die Bevölkerung kann damit gut umgehen, Frauen wie Männer.

Ist die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf die Emanzipation der Frauen also weiter, als die Vermittler in den Medien und die Männer an der Macht es sind?
Ja, das kann gut sein.

Dazu würde passen, dass Sie in der Boulevardpresse, die ja dichter an den Menschen sein muss, ein Star sind – in den so genannten seriösen Medien jedoch vorgeführt werden.
Finden Sie diese Presse seriös?

Nein. Aber diese Presse findet sich selber seriös. Dazu passt auch die Kritik an Ihrem Führungsstil. Mal werden sie als „Mutter Theresa“ bezeichnet, mal als „tyrannische Monarchin“. Wie sollten, könnten Frauen führen, nach Ihrer Erfahrung?
Wenn Frauen führen, wird das immer als autoritär abqualifiziert. Es gelten für Frauen einfach andere Maßstäbe als für Männer.

Sie haben eine umfassende Frauenförderung in Ihrem Departement installiert.
Das Milieu der Außenpolitik ist eine besondere Herausforderung für die Frauen. Wir versuchen darum, den Frauenanteil in allen Bereichen zu erhöhen, inklusive in der Rekrutierung für den diplomatischen und konsularischen Dienst. Wir haben mehrere Delegierte für die Chancengleichheit im Departement. Auch achten wir auf die Stellung der Frauen in der Welt. Unsere ganze Entwicklungs- und Friedensförderungspolitik ist vom Gendermainstreaming durchzogen.

Was heißt das konkret?
Innerhalb des Departements geben wir Frauen Verantwortung. Ich habe Botschafterinnen ernannt. In unseren Projekten berücksichtigen wir speziell die Fähigkeiten und Interessen von Frauen. Zum Beispiel in den Entwicklungspolitik- und Friedensförderung-Projekten: Da sind Frauen besonders begabt. Sie haben schließlich schon immer in der Familie und Nachbarschaft die Kontrahenten versöhnen müssen. Frauen werden in Kriegen am häufigsten Opfer. Dennoch sieht man Frauen selten am Verhandlungstisch.

Sie ganz persönlich haben sich ja in Friedensfragen auch stark engagiert. Zum Beispiel durch Ihre kritische Haltung zum Irak-Krieg …
So würde ich das nicht sagen. Ich habe die für die Schweiz richtige Haltung eingenommen. Die Schweiz ist ein neutrales Land. Und das heißt, dass die Schweiz einer Intervention, die von der UNO nicht autorisiert ist, nicht zustimmen kann. Wir haben im Fall des Iraks das Neutralitätsrecht angewandt.

Ihr Engagement schien darüber hinaus zu gehen. Sie hatten sogar die Absicht, Listen mit den Opfern im Irak zu veröffentlichen. Was Sie – nach internem Widerstand – dann doch nicht getan haben.
Damit liege ich ganz einfach auf der Linie der Neutralität der Schweiz, die eine fast fünfhundert Jahre alte Tradition hat. Die Schweiz hat seither immer gesagt: Wir werden nicht woanders angreifen, wir werden uns nur verteidigen. Das ist eine Friedensbotschaft. Und ich bin stolz darauf, dass Bundesrat und Bevölkerung dieser Haltung zugestimmt haben.

Auch in anderen Ländern war die Bevölkerung gegen den Irakkrieg – was die Regierungen nicht sonderlich gestört hat.
(Lacht) Das stimmt.

Als Sie vor zweieinhalb Jahren Ihren Posten als Außenministerin antraten, haben Sie gesagt: Ich möchte die Außenpolitik der Schweiz fortführen – und ich möchte ihr etwas Neues hinzufügen. Was ist das Neue?
Mir liegt es nahe, die Außenpolitik näher an die Menschen zu bringen. Außenpolitik ist kein Spielzeug für Diplomaten – Außenpolitik geht jeden an.

Stichwort Globalisierung. Welche Möglichkeiten zu agieren sehen Sie als Außenministerin eigentlich überhaupt noch für ein einzelnes Land bzw. für Europa?
Erstens: In einer globalisierten Welt sind die Interessen der armen Länder die unseren! Zweitens: Es ist falsch zu glauben, die Entwicklungsländer würden immer arm bleiben, und es ist falsch anzunehmen, dass diese Länder auf unsere Gnade angewiesen sein sollen. China und Indien beweisen das Gegenteil. Das ist der Grund, warum wir den armen Ländern gleichberechtigt gegenübertreten müssen: nicht als Herren, sondern als Partner.

Was aber auch bedeutet, dass die reichen Länder auf lange Sicht ihre Privilegien abgeben müssen, die sie auf Kosten der armen Länder haben.
Was ist Außenpolitik? Sie ist die Verteidigung der Interessen unseres Landes. Das Interesse, dass wir in Wohlbefinden und Sicherheit leben können. Doch um das zu verteidigen, genügt es nicht, eine starke Armee zu haben. Die globalisierte Welt ist unteilbar geworden. Welche Gefahren drohen uns heute? Das ist weniger der Nachbar, der morgen einmarschieren wird. Die großen Gefahren sind heute: Epidemien; Naturkatastrophen; Bürgerkriege, die eine Flut von Migranten ins eigene Land spülen. Das ist die Herausforderung. Und diese Herausforderung kann man nur gemeinsam, in internationaler Zusammenarbeit, meistern. Nehmen Sie zum Beispiel Aids, das ganze Generationen in Afrika dezimiert. Solche Probleme kann nur die internationale Gemeinschaft bewältigen.

Sollte die Schweiz dazu nicht auch ein Stück ihrer ‚splendid Isolation‘ aufgeben und der Europäischen Union beitreten? Dafür haben Sie bei Amtsantritt ja auch plädiert. Jetzt aber ist es stiller um die Frage geworden.
Ich kann das nicht alleine entscheiden. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer muss dafür sein, wir sind eine Direktdemokratie. Und jetzt ist das nicht der Fall.

Es ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass Ihr deutscher Kollege Fischer Probleme hat wegen zu großzügig vergebener Visa …
Meine Gegner in der Schweiz nehmen das als Argument, um zu sagen: Da sieht man, wohin eine offenere Politik führt. Aber wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen: Wir hatten in der Schweiz auch Visa-Missbräuche. Solange es das Gefälle zwischen den Ländern, aus denen die Migranten kommen, und den Ländern, in die sie wollen, gibt, werden wir diese Spannungen haben.

Wenn Sie Minister Fischer einen guten Rat geben sollten …
Nein, nein, das werde ich mir nicht erlauben.

Wäre aber nett von Ihnen. Denn der könnte guten Rat gebrauchen.
Das sagen Sie.

Werden wir konkret. Sie reden als Außenministerin immer wieder auch von den Menschenrechten der Frauen. Sie handeln sogar. Sie handeln konkret in diese Richtung. Sie haben zum Beispiel ein spezielles Programm zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kindern gestartet. Wie funktioniert das?
Am Rande der Konferenz der Menschenrechtskommission in Genf 2004 habe ich erstmals als Außenministerin meine Kolleginnen eingeladen zu einer Konferenz über Gewalt gegen Frauen, um endlich gemeinsame Handlungskonzepte zu entwickeln; das heißt die Außenministerinnen anderer Länder, sowie alle Delegationsleiterinnen, 33 Politikerinnen aus 27 Ländern. Denn ich bin davon überzeugt, dass es keine sozialen, kulturellen oder religiösen Faktoren gibt, die Verstöße gegen die Menschenrechte von Frauen rechtfertigen. Inzwischen haben wir uns schon dreimal getroffen, zuletzt im März dieses Jahres. Unser erstes Pilot-Projekt beschäftigt sich mit dem Frauenhandel.

Sind Sie da auch in Kontakt mit deutschen Ministerinnen?
Nein, bisher nicht. Das Pilotprojekt haben wir in Moskau in die Wege geleitet. Das Personal der Schweizer Botschaft wurde speziell zur Problematik sensibilisiert: Es geht darum, Frauen, die Visa beantragen, auf die besonderen Gefahren aufmerksam zu machen und Menschenhändlern auf die Schliche zu kommen. Im September treffen wir uns in New York wieder, und dann wollen wir Außenministerinnen unsere Erfahrungen austauschen. Vielleicht werden wir uns sogar auf ein Projekt einigen, das wir alle zusammen durchführen können.

Es gibt ja bedauernswerte Länder, die leider keine Außenministerin haben. EMMA lebt in so einem armen Land. Was geschieht mit diesen Ländern? Kontaktieren Sie auch Ihre männlichen Kollegen in Sachen Anti-Gewalt-Programm? Oder andere Ministerinnen in ähnlichen Bereichen, wie zum Beispiel in der Entwicklungspolitik?
Alle Ministerinnen, die im Rahmen der Menschenrechtskommission in Genf waren, haben wir eingeladen. An diesem Treffen vertrat Claudia Roth, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt Deutschland.

Neben der Gewalt ist die zweite globale Problematik, die in erster Linie Frauen betrifft, der religiöse Fundamentalismus und hier besonders der islamische Fundamentalismus. In der Schweiz scheint es dafür noch kein Problembewusstsein zu geben.
Doch, doch, schon …

Sehen Sie von islamistischer Seite nicht auch ein Problem für die Schweiz, weil zum Beispiel einer der bekanntesten fundamentalistischen Theoretiker, Tariq Ramadan, aus Genf kommt?
Der Islamismus ist ein weltweites Phänomen, mit dem sich auch die Schweiz auseinandersetzen muss. Mit unserer Tradition der Religionsfreiheit sind wir verpflichtet, den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen zu fördern und auch das Gespräch mit moderaten Islamisten zu suchen. Dies hindert uns jedoch nicht daran, bezüglich der Universalität der Menschenrechte eine klare Position zu vertreten und die Grundrechte unseres Staates, welche in unserer Verfassung verankert sind, konsequent zu fördern. Damit können wir extremistischen Tendenzen am besten den Nährboden entziehen.

In Ihrer Rede zum 8. März dieses Jahres sind Sie intensiv eingegangen auf die Notwendigkeit, dass Frauen sich vernetzen, Lobbyismus betreiben.
Ja. Die Männer machen Machtpolitik. Die Frauen machen das in der Regel nicht. Wir wagen das nicht. Aber wenn wir etwas erreichen wollen, wird es Zeit, dass wir Machtpolitik machen: das heißt, uns vernetzen, um etwas zu verteidigen oder durchzusetzen. Ich finde es unangenehm, wenn Frauen jammern. Wenn man etwas will, muss man versuchen, es zu erreichen. Und dazu muss man stark sein. Die Männer wissen, wie das geht. Wir Frauen aber sind das nicht gewohnt. Noch nicht.

Was raten Sie Frauen, die etwas erreichen wollen? Was ist falsch – und was richtig?
Der falsche Weg ist es, gespalten zu sein. Wenn man etwas erreichen will, muss man sich einig sein.

Das Interview führten Alice Schwarzer und Christine Loriol, EMMA Juli/August 2005

Weiterlesen: Modell Moskau

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