Alice Schwarzer schreibt

Nur eine Frage des Geschlechts?

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Stellen wir uns vor, zum ersten Mal in der Geschichte stünde ein Schwarzer für das Amt des Präsidenten von Amerika zur Wahl. Ließe das die schwarzen bzw. farbigen WählerInnen gleichgültig? Ganz gewiss nicht. Würden Sie den Kandidaten wegen seiner Hautfarbe um jeden Preis wählen? Wahrscheinlich auch nicht. Sie würden sich vermutlich fragen: Welche Politik vertritt der Mann? Und vor allem: Vertritt dieser Schwarze dann endlich auch schwarze Interessen? Die Tatsache jedoch, dass dieser Kandidat nicht weiß, sondern einer der ihren ist, würde zweifellos eine Rolle spielen. Eine große Rolle.
Nun kandidiert also erstmals in der Geschichte Deutschlands eine Frau für das Kanzleramt. Und das soll für uns Frauen keine Rolle spielen? Es soll peinlich und unpolitisch sein, diesen Faktor ernst zu nehmen? Wir sollen uns gefälligst um „Inhalte“ kümmern?

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Als sei das real Gelebte kein Inhalt! Und als sei der Sexismus, mit dem auf die nach der höchsten Macht strebende Frau reagiert wird, kein Politikum. (So ziert zum Beispiel das Konterfei von Merkel als Miss Piggy mit dem Spruch „Ferkel muss weg!“ einen taz-Wahl-Button). Und als seien die Interessen von Frauen in der Vergangenheit in irgendeiner Partei, links wie rechts, wirklich gut aufgehoben gewesen.

Das Herz emanzipierter Frauen schlägt eher links. Bei jedem Wahlsieg der SPD seit 1972 und der Grünen ab 1983 waren wir die entscheidenden Stimmen. Dennoch haben auch die linken Parteien die Frauen im Regen stehen lassen und müssen die Genossinnen innerhalb ihrer Partei bis heute hart kämpfen gegen die Ignoranz und den Sexismus so mancher Genossen. Richtig, theoretisch steht die Rechte eher für traditionelle Geschlechterrollen. Praktisch jedoch sind die neuen Lebensmodelle längst auch bei ihnen eingebrochen, wie wir nicht zuletzt an den vielen ledigen bzw. kinderlosen konservativen Politikerinnen sehen.

Dass Mutterschaft kein Schicksal mehr ist und Frauen ein Recht auf qualifizierte Berufe haben, und damit Kinder ein Recht auf gesellschaftliche Betreuung, das ist inzwischen parteiübergreifend Konsens. Ebenso die Rechte Homosexueller, auch wenn das viele Konservative sehr hart ankam. Die konkreten Errungenschaften in diesen Bereichen werden in absehbarer Zeit von keiner zukünftigen Berliner Regierung zurück gedreht werden, egal welcher parteipolitischen Couleur sie ist – so lange es das gesamtgesellschaftliche Klima nicht zulässt.

Uns bewussten Frauen wurde in diesen letzten Jahrzehnten die bittere Lektion erteilt, dass zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wahlprogramm und Regierungspolitik oft Welten klaffen. Werfen wir darum einen Blick auf das Leben der Kandidaten. Da verkörpert der linke Kandidat Schröder ein ganz traditionelles Modell: Karrieremann mit Hausfrau an seiner Seite. Und die rechte Kandidatin Merkel verkörpert ein echt partnerschaftliches Modell: Karrierefrau mit Karrieremann an ihrer Seite. Nur: Würde sich dieses persönliche Modell von Angela Merkel auch in ihrer Geschlechterpolitik niederschlagen? Bisher gab es dafür leider wenig Anzeichen.

Im Gegenteil. Es fällt auf, dass es der Kandidatin eigenartig ungewohnt ist, die tiefgreifenden strukturellen Unterschiede in den Lebensbedingungen von Frauen und Männern in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft ernst zu nehmen. Das hat vermutlich mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun. In der DDR wurde die Gleichberechtigung ja von oben behauptet, auch wenn das Leben unten, zumindest für Frauen mit Kindern, ganz unemanzipiert doppeltbelastet war. Und vielleicht neigt sie auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zu dem Kurzschluss, ein solcher Weg sei heute für alle Frauen möglich.

Gleichzeitig aber wurde auch und gerade Merkel vom ersten Tag ihrer politischen Karriere an als Frau vorgeführt. Das ging von „Kohls Mädchen“ mit dem „Topfschnitt“ bis hin zu der Dauerdebatte um Frisur und Kleidung der Kandidatin. Eigentlich müsste die so Geplagte schon längst am eigenen Leibe gelernt haben, wie groß der kleine Unterschied sein kann.

Allerdings ist auch für bewusste Wählerinnen die so genannte Frauenfrage zwar wichtig, aber nicht allein entscheidend. Es gibt 2005 noch andere existenzielle Probleme in Deutschland, deren Lösung von der Politik erhofft wird. So die Arbeitslosigkeit, die Folgen der Globalisierung, die Strategie der Außenpolitik, Krieg und Frieden. Wie halten es also die KandidatInnen der beiden großen Volksparteien (und deren mögliche Koalitionspartner) damit? Leider nicht so unterschiedlich, wie es für WählerInnen, die eine echte Wahl haben wollen, wünschenswert wäre.

Zum Beispiel die Arbeitslosigkeit. Die hat strukturelle Gründe, die es heute jeder Partei schwer machen. Doch Schröder, der als Kanzler der „Partei für soziale Gerechtigkeit“ zum „Genossen der Bosse“ mutierte, hat vor allem versucht, mit dem Großkapital zu flirten, und dabei den deutschen Mittelstand vergessen. Im Mittelstand aber sind zwei Drittel aller Arbeitsplätze angesiedelt. Würde Merkel, die Kandidatin einer eher der besitzenden Klasse nahen Partei, das besser machen? Und würde ausgerechnet eine CDU/CSU-Regierung die hemmungslose Gier des anonymen Kapitals zügeln?

Oder die Globalisierung. Da scheinen alle Parteien überfordert. Denn eine sinnvolle Zukunftsstrategie darf sich nicht damit begnügen, lieb gewordene deutsche und europäische Privilegien zu verteidigen, sondern muss es wagen, unbequem zu sein. Sie muss sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Konkrete Konzepte dafür bleiben bisher alle schuldig.

Und die Außenpolitik? Einerseits ist Schröders selbstbewusster Kurs gegenüber Amerika und seine Einbeziehung Russlands in ein eigenständiges Europa beeindruckend – im Gegensatz zu Merkels devotem Gang nach Washington während des Irakkrieges. Andererseits ist Merkels Konzept einer „privilegierten Partnerschaft“ richtiger bei einer Türkei, die von einem Präsidenten regiert wird, der bis vor kurzem ein flammender Fundamentalist war (und wo die Verhinderung eines türkischen Gottesstaates vor allem dem verhassten Militär zu verdanken ist), als die blauäugige Umarmungsstrategie von Rotgrün.

Denn dass diese Fragen reine Machtfragen sind, das sehen wir ja gerade auch am Iran. Selbstverständlich stoppt der ‚Gottesstaat‘ sein Atomprogramm nicht Fischer zuliebe. Diese angeblichen Verhandlungen scheinen in Wahrheit ein Wettrennen mit der Zeit: Haben die Mullahs die Atombombe schon – oder könnten Israel und Amerika das noch verhindern? So beklemmend der Gedanke eines atombewaffneten Irans für die ganze westliche Welt ist, so nachvollziehbar ist gleichzeitig der Versuch solcher Staaten, sich ihre Rüstung nicht diktieren zu lassen.

Womit wir beim Krieg und Frieden wären. Schröders Weigerung, beim Irakkrieg mitzumachen, war richtig. Aber auch Kohls CDU hat 1991 nicht mitgemacht beim ersten Irakkrieg, dem Golfkrieg. Und Deutschland hat niemandem anderem als Rotgrün zu verdanken, dass es seit 1999 auch innenpolitisch so widerspruchslos wieder mitmacht beim internationalen Einmarschieren. Wir erinnern uns: Ausgerechnet der grüne Außenminister propagierte den Einmarsch ins Kosovo. Im Namen der Verhinderung eines angeblichen „zweiten Auschwitz“!

Dieser Krieg – den wohl auch eine CDU-Regierung mitgemacht hätte – war der erste einer Reihe von Interventionskriegen, die alle gegen das internationale Völkerrecht verstießen. Es folgte Afghanistan. Und dann Irak. Immer im Namen der „Menschenrechte“ und manchmal sogar im Namen der „Frauenrechte“. Nur, den Menschen, denen angeblich geholfen werden sollte, geht es heute eher noch schlechter als zuvor.

Kommen wir also nochmal zurück auf die Frauenfrage. In der Tat, das Programm der Union ist weitgehend „frauenfrei“ – im Gegensatz zu den Programmen der SPD, Grünen und FDP (nur das der neuen Linkspartei ist fast ebenso frauenfrei wie das der Union). Es ist wirklich erstaunlich, wie die CDU/CSU noch nicht einmal unter einer Kanzlerkandidatin begriffen hat, dass deren Frausein alleine nicht reicht und sie zumindest so tun müsste, als würde sie an die Frauen denken (Das haben die anderen ihr schließlich jahrelang vorexerziert). Da gibt es also Nachholbedarf. Aber gewaltig.

Nur: Klar ist auch, dass das dank Rotgrün Erreichte in den nächsten Jahren nicht zurück gedreht werden würde von einer schwarz-gelben Regierung. Und schon gar nicht von einer großen Koalition.

Und in zwei nicht unwichtigen Punkten haben die Konservativen übrigens sogar die Nase vorn: Erstens beim Kampf gegen den fatalen Einfluss der islamistischen Agitation innerhalb der in Deutschland lebenden muslimischen Community (Stichwort Kopftuchverbot); zweitens beim Kampf gegen die – in den vergangenen Jahren vor allem von den Grünen betriebene – Verharmlosung der Prostitution. Das von CDU/CSU geplante Gesetz zur Bestrafung der Freier von Zwangsprostituierten ist in einer Zeit, in der Pornografie als schick und Prostitution als „Beruf wie jeder andere“ gilt, ein wichtiges Signal.

Doch die Qual der Wahl kann und will auch EMMA ihren Leserinnen nicht abnehmen. Am Abend des 18. September wissen wir mehr.

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