Die mächtige Nofretete
Irgendwas stimmt hier nicht. Dieser Gedanke ging mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich Nofretete, die schöne Büste der Pharaonenkönigin vom Nil im Ägyptischen Museum Charlottenburg besuchte. Das kam häufig vor. Schon als junge zugezogene Neu-Berlinerin fühlte ich mich von Nofretete angezogen, in ihrer Nähe aufgehoben, von ihrer Ausstrahlung beglückt. Nur, das unglaubliche Ebenmaß ihrer Erscheinung, die alles überstrahlende zeitlose Schönheit schienen mir zu glatt, zu perfekt zu sein. Denn ihr Leben war alles andere als glatt.
Im Alter von etwa 14 Jahren wird die Bürgerstochter Nofretete – ihr Name bedeutet: Die Schöne ist gekommen – mit dem Pharao verheiratet. Keine leichte Aufgabe, auch wenn Nofretete die Nichte ihrer Vorgängerin, der ebenfalls bürgerlichen und überaus einflussreichen Königin Teje war, wie jüngste Forschungsergebnisse zeigen. Nofretetes Vater Eje, der Seher, Führer militärischer Einheiten und philosophischer Visionär am Hof von Echnatons Vater Amenophis III, war nach aktuellen Erkenntnissen Tejes Bruder. Nofretete war also wohl von klein auf nicht nur mit den Ideen ihres Vaters und des Königs vertraut – sie hatte auch ihre Tante Teje als Vorbild und Helferin in der Nähe.
Nofretete wird Gemahlin an der Seite Echnatons in einer Zeit umfassender politischer, religiöser und gesellschaftlicher Veränderungen – und sie ist aktiv mit dabei. Keine andere Pharaonengemahlin wurde so oft an der Seite ihres Mannes abgebildet, sei es bei öffentlichen Auftritten, sei es bei Opferungen. Keine – außer der Herrscherin Hatschepsut – trug wie sie die dem König vorbehaltene Chathaube als Kopfbedeckung. Keine lenkte wie sie bei Prozessionen ihren eigenen Streitwagen. Aber wie weit ging ihre Macht?
Für viele sind die Abbildungen nur ein Beleg dafür, dass Nofretete in dem religiös-philosophischen Konzept Echnatons eine wichtige Rolle spielte. Echnaton bildete nämlich eine neue Göttertriade. Mit Aton, seinem neuen höchsten und einzigen Gott an der Spitze, darunter er selbst – und seine Frau als drittes Wesen im alles überstrahlenden Machtdreieck. Das Pharaonenpaar ersetzt die Götter. So stehen sie auch gemeinsam unter den Strahlen des Sonnengottes.
In den ersten Jahren in Karnak, der riesigen Tempelanlage in der Nähe des Königssitzes Theben, ist Nofretete bei Opferungen meist hinter ihrem Gemahl stehend abgebildet, etwas kleiner als er, aber nahezu spiegelbildlich gleich in Gesten und Bewegungen. Doch schon bald wächst ihr eine weitere Bedeutung zu: Wir wissen heute, dass Echnaton dort vier neue Tempel für Gott Aton bauen ließ – in der altägyptischen Geschichte ein einzigartiger Vorgang! – und Nofretete in einem dieser Tempel zur alleinigen Priesterin wurde.
Beim Zusammensetzen und Identifizieren der Trümmer eines Aton-Tempels wurde bis 1976 genau 329 mal das Bildnis Amenophis IV. auf den Blöcken gezählt. Und 564 mal das von Nofretete. Noch erstaunlicher: ihr Name stand 67 mal auf den Opfertischen und der von Amenophis IV. allein nur 3 mal, 13 mal der von beiden zusammen.
Zu den vier Tempeln, die Echnaton in Karnak bauen ließ, war auch einer mit Namen Hwt Benben. Hier war Nofretete als Priesterin aktiv. Offenbar sogar als Hohepriesterin und ohne ihren Mann. Auf allen ist es immer Nofretete, die die Opfergaben der Sonnenscheibe entgegen hält. Dabei wurde sie – so die Darstellungen – von ihrer Tochter Meretaton begleitet, die dabei wie eine kleine Erwachsene, mit dem Instrument Sistrum in der Hand, hinter ihr steht. Die Mutter mit nubischer oder dreigeteilter langer Perücke, gekrönt mit der Tefnut-Feder, trägt ein sehr dünnes, fast transparentes bodenlanges Kleid. Auch das, so die Forscher heute, weniger ein Hinweis auf ihre Schönheit als auf ihre Funktion im Fruchtbarkeit symbolisierenden Sonnendreieck Aton-Echnaton-Nofretete.
Frauen im alten Ägypten waren schon immer im Tempeldienst aktiv, als Sängerinnen, Tänzerinnen oder Priesterinnen. Oft eng verbunden mit der Göttin Hathor. Oder als Stimulantinnen von Göttern für die Erzeugung 'mythischen' Nachwuchs. Aber immer war es so, dass nur der König als höchster Priester aller Kulte den Göttern opfern durfte. In ihrem Aton Tempel übernahm Nofretete diese Rolle selbst. Auch wenn es wirklich ein Tempel gewesen sein sollte, in dem ausschließlich Frauen Aton verehrten, wie einige Forscher annehmen, ist dies eine ungeheure Aufwertung von Nofretetes Person und Rolle.
Wie aber war es um Nofretetes politische Bedeutung bestellt? In einem Buch über die 'Königinnen vom Nil' las ich noch 2002: "Das Paar hatte (zwar) in Ägypten eine Revolution ausgelöst und einen monotheistischen Sonnenkult eingeführt, doch die 'Schöne, die da kommt' blieb weitgehend unbehelligt (vom Auslöschen jeder Erinnerung). Offenbar war sie in den Augen ihrer Zeitgenossen keine politische Figur." Dietrich Wildung, der Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin, sieht das anders: "Es gibt eindeutige Hinweise darauf", sagt er, "dass Nofretete ihren Mann nicht nur unterstützte, sondern selbst in hohem Maß die Politik des Landes bestimmte."
Eins der wichtigste Stücke, das solche Aussagen begründet, ist die berühmte Familienstele. Nicht nur sitzt Nofretete hier in gleicher Größe, ihrem Mann unter der Atonsonne gegenüber. Sie sitzt auch auf dem deutlich prachtvoller geschmückten Thron als der Pharao: dem mit den politischen Symbolen für Ober- und Unterägypten. "Man kann vermuten, dass Echnaton für das philosophisch-religiöse System des Landes zuständig war und Nofretete für die politischen Aufgaben", so Wildung.
Und zu diesen neuen Aufgaben, die Nofretete zufallen, gehört ein neues Gesicht, das mich gar nicht mehr irritiert, sondern mir einleuchtet. Nofretete ist nämlich durchaus nicht die zeitlos schöne, ewigjunge model-hafte Schönheit, die man kennt. Bei Dreharbeiten zur Schließung des Ägyptischen Museums in Charlottenburg und vor dem Umzug Nofretetes auf die Museumsinsel habe ich den Moment dieser Veränderung, bzw. ihrer Wiederentdeckung miterlebt, die Geburt "meiner" neuen Nofretete.
Es ist Montag, der 28. Februar, kurz vor 18 Uhr. Gleich soll die Vitrine geöffnet und die wertvolle Büste Nofretetes herausgehoben werden. Viele Männer sind versammelt und werden sich später mit ihr fotografieren lassen. Während die Museumstür endgültig geschlossen wird, machen sich zwei Spezialisten daran, die Alarmanlagen auszuschalten. Dann wird die rückseitige Glaswand von Nofretetes Vitrine abmontiert. Und jetzt wird es ganz still. Die beiden Kunsttransporteure streifen sich feine weiße Baumwollhandschuhe über. Kurze Verständigung. Dann packt einer Nofretete von rechts, der andere links an Hals und Schulter; behutsam heben sie die Schöne aus ihrem gläsernen Domizil.
Wie nackt steht sie jetzt vor uns: die berühmteste Pharaonenkönigin aller 31 Dynastien. Verletzbar sieht sie aus, zart, fast hilfsbedürftig ohne den Schutz des Glases. Ihrem Bann kann sich niemand im Raum entziehen.
1991 hat Museumsdirektor Wildung eine Computertomographie von der Büste machen lassen. Die Ergebnisse waren überraschend: Innen besteht die Skulptur aus einem Kalksteinkern, der erkennen lässt, dass die Schultern ursprünglich nicht ganz gleich in der Höhe waren, der Nacken länger und dünner und die Krone an der Rückseite straffer und enger gefasst war, als wir das heute sehen. Diese "Mängel" hat der Bildhauer Thutmosis, der Schöpfer der Büste, mit Stuck ausgeglichen und ergänzt, sodass das perfekte Ebenmaß der Erscheinung entstand. "Es erscheint mehr und mehr wahrscheinlich", sagt Dorothea Arnold, die Direktorin der ägyptologischen Abteilung des Metropolitan Museum of Art, "dass die Werkstatt des Thumosis ausdrücklich den Auftrag hatte, das neue Gesicht der Königin zu kreieren". Warum brauchte Nofretete ein neues Gesicht?
Forscher gehen heute davon aus, dass sie in Achet-Aton zu einem neuen Rang aufgestiegen ist. So wird das "Verschwinden" Nofretetes im Jahr 12 von Echnatons Herrschaft nicht mehr als Tod oder "in Ungnade gefallen" angesehen. In den Gräbern von Amarna gibt es mehrfach Darstellungen eines großen Festes, mit Tributbringern und Abgesandten aus vielen Ländern und aufwändigem Gefolge aus diesem Jahr. Für den Anlass dieser Feierlichkeiten hält der englische Ägyptologe Nicholas Reeves, dass Nofretete in den Rang eines offiziellen Mitregenten erhoben und sie dem Volk präsentiert wurde. Ein Beweis sind für ihn vor allem Grabdarstellungen, in denen Echnaton und Nofretete wie einer Art Doppellinie, als "Überlagerung der Abbildung" dargestellt sind – wie im Grab Meire II. Im Laufe der Zeit scheint sich der Status von Nofretete von der aktiven Pharaonengemahlin zur vollamtlichen Mitregentin gewandelt zu haben.
Von anderen Forschern wird heute vor allem vom Namen bzw. den Namen her abgeleitet, dass Nofretete Echnatons Mitregentin war. Als Name einer solchen Person taucht in den letzten drei Jahren von Echnatons Herrschaft nämlich immer wieder Anchcheprure-Nefernefruaton auf. Schon im Jahr 5 war Nofretetes Name ja mit Nefernefratuaton ergänzt worden ("perfekt ist die Schönheit des Aton"). Jetzt wurde dieser Zusatz also mit einem anderen (Vor-)Namen ergänzt. In Amarna Ende des 19. Jahrhunderts gefundene Ringköpfe aus Fayence hatten als Inschriften nicht die übliche maskuline Form dieses Epithetons, sondern ausdrücklich die weibliche Form, also Anchetcheprure.
Auch auf der so genannten Wilbour Plakette sind die beiden Herrscher einander gegenüber und "auf Augenhöhe" abgebildet. Beide sind nicht mehr jung. Eine kleine Falte im Mundwinkel und eine vom Nasenende zum Mundwinkel bei Nofretete. Ihr Ausdruck: erwachsen, gereift, kraftvoll und mit dem emporgereckten Kinn sogar energischer als der Echnatons. Beide sind mit einer Uräusschlange geschmückt. Wenn man genau hinsieht, scheint Echnatons Schlange tatsächlich gelassen aufrecht zu stehen, während Nofretetes wie vor einem Angriff sich gerade leicht zurückbiegt.
Und die Nachfolge Echnatons? Ein dunkles, viel diskutiertes, ja heiß umstrittenes Kapitel. Im Ausstellungskatalog zur Tutenchamun Schau in Basel und Bonn 2004 schreibt die Ägyptologin Andrea Maria Gnirs: "Jüngere Untersuchungen sehen in der Nachfolgerin entweder Nofretete, Kija oder Meritaton. Aufgrund der grammatischen Struktur ihrer Königsnamen oder -titel gilt ihr weibliches Geschlecht mittlerweile als erwiesen .... Neferneferuaton ließ sich wie Hatschepsut in ihren Herrscherbildnissen als Mann darstellen. Auch im Jenseits sollte ihr dieser Status eigen sein ..."
In der Ausstellung selbst wurden zwei Objekte – Fundstücke aus dem Grab des Tutenchamun – als Nachweise auf die weibliche Existenz von Anch(et)cheprure-Neferneferuaton vorgestellt: ein kleiner Eingeweidesarg. Eine exakte Untersuchung der Sarginschrift hat ergeben, dass der Name Tutenchamun hier nachträglich eingraviert worden ist, nachdem die Namen der Königin Anchcheperure-Neferneferuaton entfernt worden sind. "Die Eingeweidesärge waren folglich für Neferneferuaton angefertigt worden".
Noch interessanter ist die königliche Kanopenbüste. Auch sie gilt heute als Abbild dieser Königin und eben nicht Tutenchamuns: "Aufgrund der charakteristischen Merkmale des Gesichts – die Gesichtsform, schwere Lider über großen Augen und herabgezogene Mundwinkel – gehen Kenner der ägyptischen Porträtkunst heute davon aus, dass die Porträtbüsten nicht Tutenchamun darstellen, sondern seine Vorgängerin Anchcheprure/Neferneferuaton". Und last not least: in Boston gibt es ein Relieffragment, das sie beim "Erschlagen der Feinde" zeigt. Eine (symbolische) Handlung, die nur den Königen vorbehalten war.
Stimmt das, dann hätten wir hier das (bisher einzige) Bild von Nofretete als Königin. Das Gesicht eines Menschen, der eine bewegte und bewegende Geschichte hat. Und das Gefühl: Die Geschichte von Nofretetes Entdeckung ist noch nicht zu Ende.
Carola Wedel, EMMA 4/2005
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Carola Wedel: "Nofretete und das Geheimnis von Amarna" (Zabern Verlag).