Alice Schwarzer schreibt

Gegen das Vergessen

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An diesem Tag, 60 Jahre danach, hat sie geweint. Und, mit Blick auf ihre drei Enkel, die sie begleiteten und die heute älter sind als sie damals, hat sie gesagt: "Ich kann nicht aufhören zu weinen, wenn ich an die Millionen ermordeter jüdischer Kinder denke. Und ich werde sie nie vergessen können."

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Als die Tochter eines Architekten und einer Chemiestudentin im Frühling 1944 aus Nizza deportiert und zusammen mit ihrer Mutter und Schwester Minou auf die Rampe von Auschwitz gestoßen wurde, Auge in Auge mit Dr. Mengele, da hat Simone Jacob nicht geweint. Und sie hat die ganzen Monate im Lager nicht geweint. Noch nicht einmal, als die Mutter starb, eine von 1,1 Millionen, allein in Auschwitz. Simones Tränen waren versiegt.

Als die Juristin, die seit 30 Jahren als Simone Veil eine in Frankreich sehr bekannte und respektierte Politikerin ist, an diesem 27. Januar 2005 wieder in Auschwitz steht und im Namen aller toten und lebenden "französischen Kameraden" von damals spricht, da ist das beklemmend für sie – aber auch ein Triumph. Denn: "Wir hatten damals eine furchtbare Angst, dass alle verschwinden und keiner von uns mehr Zeugnis ablegen kann über die Tragödie."

Simone legt Zeugnis ab. Und sie kämpft. Sie kämpft gegen das Vergessen der Unmenschlichkeit und für eine menschliche Zukunft. Als die frisch Verheiratete nach dem Krieg mit ihrem Mann für kurze Zeit in Deutschland lebte, fand sie das "schwer erträglich"; heute benennt die langjährige Europa-Politikerin "die Aussöhnung mit Deutschland" als ihre zentrale Triebfeder für ihr Europa-Engagement. Die Voraussetzung dafür ist für sie "ein schonungsloser Umgang mit der Vergangenheit".

Doch Auschwitz ist für die Französin kein rein deutsches Problem. Im Nouvel Observateur kritisierte Veil die Haltung Frankreichs 1945, nach der Befreiung der Häftlinge durch die Sowjetarmee. "Wir mussten noch vier Wochen lang unter den elendsten Umständen ausharren, bevor wir nach Frankreich zurück geholt wurden", klagt sie. "Und als wir zurück kamen, interessierte sich niemand für unsere Geschichte. Im Gegenteil: Wenn wir versuchten zu reden, schnitt man uns das Wort ab."

Ganz anders die Reaktion auf Simones zweite Schwester Denise. Die war als Widerstandskämpferin nach Ravensbrück deportiert worden und galt als "eine Heldin": "Man interessierte sich für sie, befragte sie nach dem Widerstand und nach ihren Erlebnissen im Lager." Es gab also wieder zwei Sorten Menschen: die wichtigen, die als WiderständlerInnen deportiert worden waren – und die anderen, die 'nur' als Juden, 'Zigeuner' oder Homosexuelle Opfer wurden.

Für die Politikerin Veil ist Auschwitz keine historische Formel, sondern eine heutige Herausforderung. "Wir müssen uns wieder engagieren", appelliert sie. "Wir müssen gegen den Fremdenhass kämpfen, gegen den Antisemitismus, den Rassismus und die Intoleranz." Und sie macht darauf aufmerksam, dass die osteuropäischen Länder, aus denen die meisten Holocaust-Opfer kommen, überhaupt erst nach dem Fall der Berliner Mauer bereit waren, über den Holocaust zu reden, seiner Opfer zu gedenken. Veil: "Die dortigen Überlebenden finden erst jetzt ihre Identität, die bis dahin erstickt worden ist."

Welchen Sinn macht es, sich zu erinnern? Die einstige Ministerin (unter deren Ägide 1974 das 'Veil-Gesetz', also das Recht der Frauen auf Abtreibung in den ersten drei Monaten, verabschiedet worden war) antwortet auf diese Frage mit einem Beispiel: Sie habe sich als Gesundheitsministerin lange nicht erklären können, warum die Geburtenrate in manchen afrikanischen Ländern so extrem niedrig sei. Folgende These dazu leuchte ihr heute ein: "In den Frauen ist die Erinnerung an die Versklavung so tief verankert, dass sie unbewusst weniger Kinder bekommen." Übrigens: Auch die unterernährten und traumatisierten Frauen im KZ waren in der Regel unfruchtbar – viele sind es auch danach lange oder sogar lebenslang geblieben.

Wie sie sich gefühlt habe, als sie mit ihren Enkeln durch das Tor von Auschwitz trat, wurde Simone Veil gefragt. Sie zögerte mit der Antwort. Dann sagte sie: "Es ist alles anders jetzt. Es gibt keine Verbindung zwischen der Welt von damals und der von heute. Das sind zwei Leben – aber die Vergangenheit ist immer gegenwärtig."

Es war nicht viel Zeit zum Reden an diesem 27. Januar. Das Schweigen war lauter. Aber die Enkel begriffen auch so. Sie nahmen ihre 77-jährige Großmutter wortlos in die Arme.

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