Ruhrpott: Mein Pott!

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Als ich Kind war, gab es in unserer Bergmannssiedlung noch echte Bergleute. Zum Beispiel unseren Nachbarn Heinz. Der war „auffm Pütt“ oder, für Außenstehende allgemeinverständlicher: „auffe Zeche“. Heinz hatte alle paar Wochen irgendein Körperteil in Gips und konnte erklären, wo unser in regelmäßigen Abständen ausgetrockneter Berger See geblieben war: bei ihm, unter Tage. In seinen Flözen und Streben kam ihm und seinen Kumpeln das Wasser, das Enten und Spaziergänger an der Oberfläche so schmerzlich vermissten, entgegen geflossen. Bergschäden. „Untere Erde sieht unser Ruhrpott aus wie’n Schweizer Käse!“ lautete ein oft gehörter Spruch.

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Mich beeindruckte die Tatsache, dass Heinz fast immer aussah, als hätte er sich einen Kajalstrich gezogen. Meine Mutter erklärte mir, dass das der fettige Kohlenstaub war, der von den Augenlidern auch beim Duschen nicht abging. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich dem stämmigen, vollbärtigen Heinz ständig auf die „geschminkten“ Augen starrte. Womöglich bahnte sich mit diesen Blicken die Erkenntnis an, dass das Geschlecht ein sozial konstruiertes ist. Dass sich diese Ahnung zur Gewissheit verfestigte, ist nicht nur, aber auch wesentlich dem Ruhrpott und meiner Bergmannssiedlung zu verdanken.

Heinz gehörte der jungen Generation Bergmänner an und war damit eins der letzten, seltenen Exemplare seiner Gattung.  Auch Nachbar Gerd im Haus gegen über war noch keine fünfzig, wurde aber bald Frührentner. Die ältere Generation Bergmänner war damals schon nahezu komplett „auffm Buer’schen Berch“, will heißen: tot. Die Handvoll Pütt-Veteranen, die Grubenunglücke und Staublunge überlebt hatten, waren meist nur noch bedingt zu gebrauchen. Ab der Generation 60+ war unsere Siedlung also de facto eine Frauengesellschaft. In der Straße mit den bescheidenen, vom Kohlestaub ergrauten Häuschen herrschte gewissermaßen eine Art Matriarchat.

Irgendwie hatte es nie den Anschein, als würden die Männer groß vermisst.  Wenn frau sich beim Brombeer-Aufgesetzten am Gartenlauben-Tisch schon mal über „unsere Kerle“ unterhielt, waren diese Unterhaltungen selten von Rührseligkeit geprägt.

Rührseligkeit ist der Ruhrgebiets-Frau generell eher fremd. Sie ist schließlich an harte Arbeit gewöhnt, und auch Trauer - arbeit muss eben möglichst schnell und ohne großes Geschiss erledigt werden.  Nicht umsonst lautet das gängige, gänzlich unlarmoyante Begrüßungsritual im Pott: „Wie isset? – „Et muss.“ Selten trifft man hier jemanden, dem es wirklich gut geht, abba wat sollze da groß lamentiern, kannzet ja sowieso nich ändern.

So waren die zentralen Themen in Sachen Ehemänner die Versorgungsfrage („Der Jupp hat ihr ne orntliche Rente hinter - lassen, da sollse ma nich meckern!“) sowie vergleichende Analysen des Lungen-Auswurfs der Verblichenen („Also, mein Willi hat ja jeden Abend ne halbe Tasse Schleim gehustet!“ – „Wat, so wenich?  Mein Egon ne ganze!“).

Diese Welt, bevölkert mit robusten Frauen, die ihre Gärten umgruben, Mäuse erschlugen und Kohleeimer schleppten, färbte zwangsläufig auf uns Kinder ab. Ich halte es für keinen Zufall, dass die Mädchen in unserer Siedlung nicht nur selbstverständlich mit den Jungs Fußball spielten, sondern auch die meisten Tore schossen und in unserer Straßentruppe überhaupt irgendwie das Sagen hatten.

Nirgendwo hat ein Mädchen so gute Chancen, keine Tusse zu werden wie im Ruhrpott. Die Eigenschaften, die dem weiblichen Menschen gemeinhin zugeschrieben werden, sind in diesem Biotop an Ruhr und Rhein-Herne-Kanal noch unbrauchbarer als anderswo, weshalb sie in hundert Jahren Industrialisierung und Strukturwandel quasi wegevolutioniert wurden. Das Resultat: Tussentum wird verachtet. Hilflosigkeit? Wehleidigkeit? Weinerlichkeit? Konnte sich keiner – und eben auch keine! – leisten. Nicht, wenn die Frauen sonntags die kohlrabenschwarze Wäsche für Väter, Söhne und Kostgänger am Waschbrett schrubbten, den Hühnern im Garten (dessen Produkte von der Zeche fest in die Lohntüte eingerechnet wurden) den Hals umdrehte oder Blutwürste zu Panhas verkochte. Nicht, als das Ruhrgebiet nach dem Krieg fast komplett in Schutt und Asche lag; als der Mann unter Tage „unter Bruch“ geraten war und nicht sicher war, ob und in welcher Verfassung er nach Hause kommen würde; als er sich mit Ende fünfzig an Silikose, der so genannten Steinstaub - lunge, in den Tod hustete. Und schon gar nicht, als das ganze Ruhrgebiet mit seinen Zechen, Hochöfen und Textilfabriken den Bach runter ging und die höchsten Arbeits - losenquoten Westdeutschlands und viel verletzter Stolz übrigblieben. Et nützt allet nix: Da musse durch.

Hinzu kommt eine gewisse sprachliche, nun ja, Direktheit, die für Damenhaftigkeit beim besten Willen keinen Raum lässt. Motto: Wat sollze groß drumrum - reden, sach doch einfach, wie et iss. So hätten die Gespräche zwischen meiner Oma, sprich: Omma, und ihrer besten Freundin Tante Helma jeden regional Außenstehenden bis an die Haarwurzeln erröten lassen. Bei Kaffee und Ommas Kuchen-Hit, ihrer Cefrisch-Torte, erläuterten die beiden Frauen zum Beispiel die Beschaffenheit des Gummirings, die der Frauenarzt der Omma aufgrund eines Gebärmuttervorfalls eingesetzt hatte ebenso offenherzig („Dat Ding iss doch viel zu groß, datter da reingemacht hat, dat soller ma schön widder rausmachen“! – „Aber Edeltraut, dat kann auch dadran liegen, datt wir in unsern Alter gezz so trocken sind!“ – „Sollnse mir dat doch gleich allet rausnehm, ich brauch dat doch nich mehr!“) wie den Stuhlgang meines Opas.  Mein Opa war lange Jahre pflegebedürftig, hatte aber bis zum Schluss einen guten Appetit und nahm praktischerweise nicht zu. Ommas Kommentar: „Der Oppa frisst sich dumm und scheißt sich dämlich!“ Das war mitnichten despektierlich gemeint. Omma freute sich einfach, dass es dem Oppa schmeckte und sie ihn trotzdem noch aus der Badewanne heben konnte.

Obwohl uns manche Lehrer an unserer Schule zu verstehen gaben, dass unser „sozialer Dialekt“ an feineren Orten wie einem Uni-Seminar peinlich sein könnte und sich nach Kräften bemühten, uns die Dats und Wats auszutreiben: Ich liebe diesen Dialekt, der überflüssiges verbales Gewese ebenso in die Tonne kloppt wie überflüssige Silben. Dieses Hömma, Lassdat und Hassetjetzbaldma, dieses Kummada, Sarichdoch und Sachjetzaumawat erden ungemein. Daher wechsle ich, wenn ich zum Beispiel Orte des Anpackens wie Autowerkstätten oder Baumärkte betrete, bis heute quasi automatisch in diesen Slang, der mich im Tussen-Ranking mindestens drei Plätze nach unten katapultiert und so meine Verhandlungsbasis mit den Herren Handwerkern stärkt.

Natürlich gibt es im Ruhrpott neben robusten Rolemodels für Mädchen auch den Kult des heldenhaften Bergmanns, der verschwitzt, muskulös und todesmutig in seinem Flöz die Kohle haut. Aber: Der Ruhri selbst – und vor allem der weibliche – überhöht ihn nicht. Das wäre nicht seine Art. Nicht zufällig stammt der Schnulzenschlager „Schwarzes Gold“, der einen solchen Helden den Heldentod in der Grube sterben lässt, von einem Wiener, nämlich Peter Alexander. Und das „Wunder von Lengede“, das 2003 dramatisch von SAT1 verfilmt wurde, hat sich im tiefsten Niedersachsen zugetragen.  Tatsächlich im Ruhrgebiet spielte „Rote Erde“, eine 1983 gestartete neunteilige TV-Serie, die ich als 14-Jährige gebannt verfolgte: Die Geschichte von Bruno Kruska, der 1889 aus Masuren in den Ruhrpott kam.

Auch meine Ururgroßeltern kamen aus Masuren in unsere Siedlung, allerdings später als Bruno Kruska, nämlich in den 1920er Jahren. Die Haltung meiner Ururoma Eva Goronzy, genannt Omma Goron - zy, zum männlichen Geschlecht gehört zu den zentralen Botschaften, die in der weiblichen Familienlinie übermittelt wurden. Kurz und knapp brachte sie die Sache anlässlich eines Besuchs ihrer Großnichte Gisela auf den Punkt. Omma Goronzy war zu diesem Zeitpunkt Anfang 90 und dement (oder wie man damals sagte: „verkalkt“). Der Dialog ist folgendermaßen überliefert: „Wer iss dat?“ - „Omma, dat iss doch die Gisela!“ - „Ach, die Gisela. Gisela, komma her. Biss verheiratet?“ - „Ja, Omma, binnich.“ - „Muss nich heiraten, Gisela. Die Männer ham alle große Fresse.“

Dieser Dialog ist mir von meiner Oma, genannt Omma Karczewski, in 40 Jahren sicher etwa hundert Mal in immergleichem Wortlaut erzählt worden.  Laut Omma Karczewski hatte Omma Goronzy für diesen Ratschlag gute Gründe.  August Goronzy, also Oppa Goronzy, war erzkatholisch, weshalb er den Parteispenden-Eintreiber der NSDAP von der Haustür verjagte. Hinter dieser Haustür muss allerdings seine eigene kleine Tyrannei geherrscht haben. Oppas Frau durfte nicht auf die Straße und „mit fremden Leuten“ sprechen. Er war jähzornig und schlug sie. Noch als er längst gestorben war, war die größte Sorge in Omma Goronzys Demenzwelt, das Essen für ihn nicht rechtzeitig auf dem Tisch zu haben.  Während sie im Erdgeschoss bei ihrer Enkelin, die sie nicht mehr erkannte, zum Kaffee saß, sprang sie plötzlich auf: „Oh, mein Alten kommt gleich nach Hause und dat Essen steht nich auffn Tisch.  Dann hat er wieder große Fresse.“ Omma Karczewski versuchte, das Problem pragmatisch zu lösen und bot an: „Omma, mach dir keine Sorgen. Ich mach dat Essen für dein Alten!“ Omma Goronzy war begeistert: „Sie kochen für mein Alten? Dann kann ich ja noch bleiben.  Hamse nochn Kaffee für mich?“ Sie setzte sich wieder. Das Ritual, in dessen Verlauf die alte Dame enorme Mengen Kuchen verspeiste, wiederholte sich mehrere Male am Tag.

Meine Uroma Luise überstand Vater Goronzys Regiment, indem sie seine Tatkraft und seinen Jähzorn übernahm. Allerdings kam ihr mein Uropa in die Quere. Paul Kuitkowski kam ebenfalls aus Masuren, und war, wie viele, die aus dem Osten anrückten, um auf den Zechen des Ruhrpotts zu malochen, „Kostgänger“ bei den Goronzys. Als solcher schwängerte er die Tochter des Hauses, worauf geheiratet werden musste. Was wohl besser nicht passiert wäre. Uroppa Paul galt als faul und versoff und verrauchte, was Uromma Luise durch eiserne Haushaltsführung und Näharbeiten einsparte. Bis sie mit nur 64 Jahren an einem Herzinfarkt starb.  Mein Uropa schlurfte danach täglich krummbeinig zu seiner Stammkneipe Strohmann und versenkte seine Rente im Spielautomaten. Zum Mittagessen ging er zu seiner Tochter, Omma Karczewski, die um die Ecke wohnte und nicht nur ihren Vater, sondern auch ihren pflegebedürf - tigen Mann, meinen Opa Heinrich, zu versorgen hatte – und mich.

Als meine Mutter Annelie im Alter von 21 Jahren versehentlich mit mir schwanger wurde – ich war, wie so viele Kinder dieser Zeit, ein Produkt der Temperaturmethode – war mein Vater 19 und hatte es bis dato nicht geschafft, eine Lehre zu Ende zu bringen. Meine Mutter hingegen, die eine Ausbildung als Stenotypistin bei der Stadtverwaltung Buer gemacht hatte, arbeitete bereits seit ihrem 16. Lebensjahr und musste (und wollte) das auch weiterhin. Als ich eingeschult wurde, ließen sich meine Eltern scheiden.  Meine Mutter studierte auf Lehramt. Wir zogen zum Uroppa in das Haus in der Bergmannssiedlung.

Ich bin seit vier Generationen die erste, die die Siedlung verlassen hat. Aber wenn ich mit dem Auto ins Ruhrgebiet fahre und die Silhouette des ersten Förderturms auftaucht, geht mir das Herz auf. Wenn ich mit der Straßenbahn fahre und sehe, dass mittags in jedem Waggon mindestens fünf Personen – Männer und Frauen – eine Dose Billigbier in der Hand haben, dann wird es mir schwer. Und wenn ich „Germany’s Next Topmodel“ sehe, wünsche ich mir, ProSieben würde die Einschaltquoten wenigstens einmal getrennt für den Ruhrpott ermitteln. Ich habe nämlich den Verdacht, dass sie niedriger sind als im Rest Deutschlands, denn ich höre den Kommentar potenzieller Zuschauerinnen aus Bottrop oder Wanne-Eickel vor meinem geistigen Ohr: „Wie die da am Rumstöckeln sind, da packsse dich doch am Kopp!“

Und ich arbeite vermutlich nicht zufällig bei einer feministischen Zeitschrift.  Die Männer haben schließlich immer noch alle große Fresse. Na ja, fast alle. Und einige tragen heutzutage sogar echten Kajalstift.

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