Happy Birthday, Gloria Steinem!
Im Zeitalter von Twitter vergisst man leicht, dass soziale Bewegungen mindestens ein Jahrhundert brauchen, um in der Welt und im Alltag anzukommen. Die GegnerInnen der Sklaverei und die Suffragetten mussten über 100 Jahre kämpfen, bis Frauen und Schwarze vor dem Gesetz überhaupt als Menschen galten. Da ist es nicht verwunderlich, dass wir, die wir gerade mal seit ein paar Jahrzehnten unterwegs sind, vielleicht auch ein volles Jahrhundert brauchen, bis wir wirkliche Gleichheit erreicht haben.
Ja, es gibt gerade einen Backlash, einen religiösen und ökonomischen. Da könnte man schnell auf die Idee kommen zu vergessen, dass wir dennoch auf einem guten Weg sind. Doch die Patriarchen wären nicht so außer sich und sie würden sich nicht so bedroht fühlen, wenn wir nicht schon so viel verändert hätten. Anders gesagt: Kein Backlash ohne Fortschritt. Nur wenn wir uns davon entmutigen lassen, können die Uhren zurückgedreht werden.
Um zu ermessen, wie weit wir in der zweiten Hälfte des feministischen Jahrhunderts kommen können, sollten wir uns anschauen, was wir in der ersten Hälfte schon alles erreicht haben. Vor der Neuen Frauenbewegung und der Gründung des Ms. Magazins glaubte ein Großteil der Bevölkerung, dass:
• Frauen keinen Anspruch auf gleichen Lohn haben, weil sie sowieso nur für ein Zusatzeinkommen arbeiten.
• die Biologie Frauen darauf festlegt, miteinander um die Aufmerksamkeit von Männern zu konkurrieren.
• Frauen, die nicht Mutter werden wollen, entweder „unnatürlich“ oder Nonnen sein müssen.
• ein Mann, der Gewalt gegen eine Frau ausübt, von ihr dazu provoziert worden ist, sie masochistisch ist – oder beides.
• Vergewaltigungen von Frauen durch ihre Kleidung oder ihr Verhalten verursacht werden.
• Frauen, die keine vaginalen Orgasmen haben, unreif oder frigide sind. (Das hat schließlich Sigmund Freud gesagt.)
• amerikanische Frauen einfach zu anspruchsvoll sind. Sie sollten sich mal von anderen Frauen in anderen Ländern abschauen, wie man Männer gut behandelt.
Ich könnte diese Liste noch um viele Punkte erweitern. Aber es dürfte klar sein, worauf ich hinaus will. Können Sie sich vorstellen, wie verrückt es einen macht, in Gesprächen immer wieder über den einzigen gesellschaftlich anerkannten Orgasmus (vaginal) zu diskutieren, obwohl der physiologisch einfach nicht existiert? Aber es sind nicht wir, die verrückt sind – es ist die Gesellschaft. Diese Erkenntnis ist eine der größten Errungenschaften des Feminismus.
Wir wissen, dass wir in der nächsten Jahrhundert-Hälfte nochmal dieselbe Strecke zurücklegen können. Und das könnten unsere Ziele sein:
Menschenrecht auf Verhütung und Abtreibung
Verhütung und Abtreibung konnten nie verhindert werden. Nichts wird Frauen davon abhalten zu versuchen, die Kontrolle über ihren Körper und ihr Schicksal zu behalten. So zeigt eine Studie des Guttmacher Instituts, dass katholische Frauen trotz der kirchlichen Indoktrination im selben Ausmaß verhüten und abtreiben wie andere Frauen: Eine von drei Frauen bricht einmal in ihrem Leben eine Schwangerschaft ab – auch in Ländern, in denen Abtreibung verboten ist. Der tödliche Unterschied besteht in dem Leid, das diese Frauen erdulden müssen. In Zukunft wird also die Freiheit zur Geburtenkontrolle so selbstverständlich sein müssen wie das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Für Ökonomen sind Frauen nur zusätzliche Arbeitskräfte für den Notfall und die Ausnahme – danach werden wir wieder nach Hause geschickt. Das gilt auch für Revolutionäre. Vom Zweiten Weltkrieg in diesem Land über die algerische oder iranische Revolution bis hin zu Occupy – Frauen haben hart um Freiheit gekämpft, nur um dann festzustellen, dass es nicht um ihre Freiheit ging. In Zukunft werden wir also begreifen müssen, dass die Macht bei jedem Schritt des Weges geteilt werden muss und keine Verheißung für morgen bleiben darf. Denn letztlich kann nur so am Ende eine gleichberechtigte Gesellschaft entstehen.
Gleichheit wird erotisch
Die Frauenbewegung hat einen großen Teil der Gesellschaft davon überzeugt, dass Vergewaltigung Gewalt ist, kein Sex. Was wir bisher nicht geschafft haben, ist zu zeigen, dass auch Pornografie Gewalt ist, während Erotik Sex ist. Der Unterschied ist schon an den Begriffen erkennbar: porne spricht von weiblichen Sklaven, eros von Gemeinsamkeit, Austausch und Liebe. Zurzeit kursiert Pornografie, maskiert als Sex, im Internet, in Filmen und den Schlafräumen der Colleges. Sie bringt Männer via Gehirnwäsche dazu zu glauben, sie könnten Frauen dominieren – oder sie müssten es sogar. Und sie bringt Frauen dazu zu glauben, ihre Körper müssten unnatürlich, enthaart und mit Plastik vollgestopft sein. Wir können dagegen rebellieren, indem wir den Unterschied zwischen Pornografie und Erotik klarmachen und dagegen kämpfen, dass Pornografie unter dem verlogenen Label Erotik firmiert. Wir müssen diese Debatte öffentlich führen, zum Beispiel, in dem wir T-Shirts tragen wie „Eroticize Equality“ oder „Cool Men Don’t Buy Sex“ oder „Erotik vs. Pornografie“. Wir könnten die Pornoindustrie aushungern, indem wir ihre Produkte nicht kaufen und sie aus unseren Wohnungen schmeißen. Die Menschen werden erleichtert sein, wenn sie sehen, dass es möglich ist, anti-Pornografie und pro-Sex gleichzeitig zu sein. Und: Lasst euch nicht entmutigen! Vergewaltigung wurde vor nicht allzu langer Zeit auch für „Sex“ gehalten.
Feministinnen übernehmen die Waffenkontrolle
Kein Land auf der Welt besitzt mehr Schusswaffen pro Kopf und liefert mehr Waffen in die Welt als die USA. Schusswaffen lassen eine Schlägerei zu einem Kampf mit tödlichem Ausgang werden. In Haushalten mit Waffen ist es wahrscheinlicher, dass sich die Familienmitglieder bei Unfällen anschießen, als dass sie einen Einbrecher damit vertreiben. In Ehen und Beziehungen, in denen die Frau von ihrem Mann misshandelt wird, ist die Gefahr, dass sie getötet werden, fünfmal höher, wenn er eine Waffe besitzt. Und alle drei Stunden wird ein Kind durch eine Schusswaffe verletzt oder getötet.
Es ist keine Überraschung, dass es in Sachen Waffen einen gewaltigen Gender Gap gibt: Zwei Drittel der Männer plädieren für das Recht auf freien Waffenbesitz, während über die Hälfte der Frauen für Waffenkontrolle sind. Worauf warten wir also, eine feministische Kampagne zu starten?
Einst war der Irlandkonflikt ein ähnlich hoffnungsloser Fall wie es heute vielleicht der Israel-Palästina-Konflikt ist. Liberia wurde von einem Warlord regiert, der zahllose junge Männer mit Waffen versorgte. In Irland gründeten Frauen – katholische und protestantische gemeinsam – die „Irish Women for Peace“. Sie wurden von einigen als „Verräterinnen“ beschimpft, aber sie brachten den Friedensprozess in Gang. In Liberia verbündeten sich muslimische und christliche Frauen, entwaffneten ihre Söhne und brachten den Warlord-Präsidenten Charles Taylor vor den Internationalen Strafgerichtshof. Dann wählten sie Ellen Johnson Sirleaf als neue Präsidentin. Zwei Irinnen und zwei Liberianerinnen, Sirleaf und Leymah Gbowee, haben den Friedensnobelpreis bekommen. Ein Beispiel, das hoffentlich viele Frauen ermutigt.
Brauchen wir den Feminismus noch?
Dass wir den Feminismus angeblich nicht mehr brauchen, weil ohnehin alles erreicht ist, ist Unfug. Der massive Widerstand, der uns gerade entgegenschlägt, sollte uns zeigen, wie gefährlich wir für die alten Ordnung sind. Die einzige Gefahr besteht darin, dass unsere Gegner sich unserer Macht bewusster sind als wir selbst. Für das nächste halbe Jahrhundert gilt also: Tut euch zusammen, nutzt eure Macht und denkt groß! Wenn wir das schaffen, schauen wir in einem halben Jahrhundert zurück – und dann sind unsere Träume von heute nur noch Wegmarkierungen, die uns zeigen, wo wir mal gestanden haben.