Wie politisch korrekt ist Transgender?

Lili Elbe in „The Danish Girl“
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Knapp ein Mensch von 30.000 in Deutschland ist transsexuell. Seine Seele, sein Empfinden, ist gegengeschlechtlich zum Körper. Das heißt: 0,003 Prozent der biologischen Männer fühlen sich als Frauen bzw. biologischen Frauen fühlen sich als Männer. Bedenken wir diese Zahl – und betrachten wir die Erregung in der Szene der politischen Correctness sowie in den Medien oder Filmen zur Transsexualität, gibt es ein gewisses Missverhältnis. Warum?

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Wie festge-
schrieben ist die
Zugehörigkeit
zu einem Geschlecht?

Weil es beim Transsexualismus um viel mehr geht als „nur“ um die Betroffenen. Nämlich um die uns alle betreffende Frage: Wie festgeschrieben ist die Zuge­hörigkeit zu einem Geschlecht? Ist sie unverrückbar? Beliebig wechselbar? Oder fließend? Und sind Transmenschen der ultimative Beleg dafür, dass das biologische und das soziale Geschlecht, dass sex and gender durchaus zwei Paar Schuhe sein können?

Zunächst einmal zu den Zahlen. Wie kommen sie zustande? Seit 1991 wurden in Deutschland 17.255 Menschen registriert, die das Geschlecht gewechselt haben. Zehn Jahre zuvor lag die von Experten geschätzte Zahl Transsexueller bei etwa 3.000. Rechnen wir knapp 5.000 aus den 80er Jahren dazu, kommen wir auf etwa 25.000 Transmenschen, die heute in Deutschland leben.

Gleichzeitig aber erwähnt die LGBTIQ-Szene (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual and Queer) niemals Frauen und Männer oder Lesben und Schwule, ohne auch der Transsexuellen zu gedenken; machen Titelgeschichten mit Transsexuellen Furore und bringen TV-Serien mit Transstars Quoten.

So erregte im Juni 2015 das Cover von Vanity Fair, auf dem der einstige Spitzensportler Bruce Jenner sich als Frau outete, weltweites Aufsehen. „Call me Caitlyn“, verkündete Jenner, und in einem TV-Interview, sie habe schon immer „ein weibliches Gehirn“ gehabt. Jenner posierte auf dem Vanity-Fair-Cover in koketter Pose und cremefarbener Corsage. Ein Jahr zuvor war die auch im Leben transsexuelle Laverne Cox in der TV-Serie „Orange is the new Black“ in der Rolle der „Sophia“  bekannt geworden.

Die beiden Amerikanerinnen sind auf eine gewisse Weise prototypisch für zwei Strömungen in der Transsexuellen-Community. Jenner träumt nur von einem: endlich „ganz Frau“ zu sein. Die intellektuellere und politischere Cox hat zwar auch schon stolz ihren nun weiblichen Körper ablichten lassen, ist jedoch als Transgender-Aktivistin differenzierter. Als Covergirl des Time ­Magazine erklärte sie im Juni 2014: „Es geht vor allem darum, das Patriarchat zu verändern. Das Patriarchat ist unauflöslich verbunden mit Homo- und Transphobie; es konstituiert sich aus diesem binären System, das Männer und Frauen trennt.“ 

Einige wollen sich am liebsten gar nicht mehr festlegen lassen

Anfang Januar kam „The Danish Girl“ in die Kinos, der schon auf dem Filmfestival in Venedig Aufsehen erregt hat. Es geht darin um die reale Geschichte der intersexuellen – also mit weiblichen wie männlichen Körpermerkmalen – 1882 geborenen Lili Elbe, die zunächst als Mann aufwuchs. Als Student der Kunstakademie in Kopenhagen lernt er Gerda Gottlieb kennen, die beiden heiraten und ziehen nach Paris. Aus Einar wird nun zunehmend Lili. Als erster intersexueller Mensch lässt er/sie sich 1930 in Berlin am Hirschfeld-Institut operieren – und stirbt an den Folgen der dritten geschlechtsangleichenden Operation.

The Danish Girl wurde von Tom Hooper verfilmt, dem Regisseur des wunder­baren, oscarpremierten „The King’s Speech“. Dargestellt wird der Mann, der unter ­unseren Augen zur Frau wird, von Eddie Redmayne („Die Entdeckung der Unendlichkeit“). Wir sehen, wie er sich die (Körper)Sprache der Frauen aneignet, zunächst noch zögernd und verspielt, dann immer besessener. Und perfekt. 

EMMA hat in ihrer Januar/Februar Ausgabe sowohl mit physisch Intersexuellen als auch mit psychisch Transsexuellen geredet. Darunter zwei FeministInnen, von der die eine den Wechsel von Mann zu Frau vollzogen hat, die/der andere den von Frau zu Mann. Die australische Professorin Raewyn Connell war schon als Mann der international interessanteste Männerforscher. Und der deutsche Computerfachmann und Punkmusiker Ines-Paul Baumann ist auch als Mann Feminist geblieben – genauer: mag sich als heutigeR „Ines-Paul“ gar nicht so recht entscheiden für eines der beiden Geschlechter.

Das ist – endlich! – der neue Trend bei den bewussteren unter den Transsexuellen: Sie wollen sich am liebsten gar nicht mehr festlegen lassen auf ein Entweder/Oder, sie sind beide einengenden Geschlechterrollen leid. So wie die Aktivistinnen des Berliner Vereins „TransInterQueer“ oder die „Geschlechterkritische ‚Passing‘ Gruppe“, die sagen: „Wir wollen uns nicht anpassen. Wir wollen unseren Identitäten entsprechend leben. Dabei geht es uns nicht darum, als stereotype ‚Männer‘ oder ‚Frauen‘ zu passen.“

Der Gesetzgeber trägt dieser Tendenz ­inzwischen Rechnung. Das im Jahr 1981 verabschiedete Transsexuellen-Gesetz (TSG) wurde seither mehrfach unter dem Druck von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts geändert. Der aktuelle Stand ist: Bei der so genannten „kleinen Lösung“ wird der Vorname geändert, aber die Geschlechtszugehörig im Personenstandsregister nicht. Bei der „großen Lösung“ wird auch in den Papieren die Geschlechtszugehörigkeit korrigiert. Doch erst seit 2011 ist dazu keine operative Geschlechtsumwandlung mehr Voraussetzung. Das Verfassungsgericht befand, dass die Operation „unvereinbar mit der Menschenwürde und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit“ ist.

Bei beiden Varianten ist es Voraussetzung, dass die Person „sich dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben und mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“. Das muss durch zwei Gutachten voneinander unabhängiger Sachverständiger bestätigt werden.

Viele Leidens-
geschichten hätten ver-
hindert werden können

Ganz anders ist die Lage der biologisch „intersexuellen“ Menschen, also Kinder, die mit uneindeutigen primären Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen. Davon gibt es heute 160.000 Fälle in Deutschland, und sie hatten in der Vergangenheit oft üble ­Leidensgeschichten. Denn es durfte nicht sein, was nicht sein kann: Ein Mensch hat in unserer geschlechterfixierten Welt entweder weiblich oder männlich zu sein. Dazwischen gibt es nichts. Welche Formen das annehmen kann, zeigt das EMMA-Gespräch mit der intersexuellen Lucie Veith sowie „die Gedanken einer Mutter“ eines intersexuell geborenen Kindes.

Doch auch in diesem Bereich zeichnet sich ein Ende der Zwangszuweisung zu einem Geschlecht ab. Seit November 2013 müssen Eltern bei der Geburt eines geschlechtlich uneindeutigen Kindes nicht mehr das eine oder andere Geschlecht in die Geburtsurkunde eintragen lassen. Zuvor hatte der Deutsche Ethikrat scharf Stellung bezogen. Er erklärte: „Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei Menschen mit uneindeutigem Geschlecht stellen einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität sowie das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar.“

Wären gesellschaftliches Bewusstsein und Gesetzgebung schon in den 1960er Jahren soweit gewesen, wäre Bruce Reimer vielleicht sein tragisches Schicksal erspart geblieben. Dem kleinen Jungen war, nach einer schweren Verletzung des Penis, von Eltern und einem Sexualwissenschaftler im Alter von anderthalb Jahren die Identität als Mädchen quasi aufgezwungen worden. Alice Schwarzer, die den Fall bereits im „Kleinen Unterschied“ (1975) zitiert hatte, greift ihn jetzt noch einmal auf. Und wir drucken ebenfalls ihren EMMA-Kommentar aus dem Jahr 1984 nach, in dem sie – damals gegen die Mehrheit der Frauen­bewegung – Partei ergriff für Transsexuelle.

Doch so, wie Alice Schwarzer bis heute für die Akzeptanz von Transsexuellen war und ist, so war sie gleichzeitig schon damals – und ist es heute mehr denn je! – gegen jede übereilte operative Geschlechtsveränderung und für die Utopie einer ­Befreiung von den Rollen. 

Das hat sich in über 30 Jahren auch in EMMA gespiegelt: 1984 erschien der „Brief an meine Schwester“ von Alice Schwarzer; 1994 das Dossier „Transsexualismus“ mit Gesprächen mit Transfrauen und Transmännern, sowie einer Kritik von Janice Raymond am „transsexuellen Imperium“; nur fünf Jahre später hatte das zweite Dossier zu dem Thema schon den vielsagenden Titel: „Ich bin ich – weder Mann noch Frau“. Das war die Zeit der „Dekonstruktion der Geschlechter“ (Judith Butler). Und Leslie Feinberg forderte ganz schlicht, das Geschlecht doch einfach abzuschaffen, zumindest in den Personalpapieren: Mensch Feinberg.

Körperzellen sind ein Mix aus männlich und weiblich

Das ist über zwanzig Jahre her. Inzwischen sind auch Wissenschaft und Therapeuten soweit. EMMA-Redakteurin Chantal Louis führte ein sehr aufschlussreiches und zukunftsweisendes Gespräch mit der Psychologin Birgit Möller von der „Geschlechtsvarianz“-Ambulanz an der Universitätsklinik Münster (einer von mehreren Dependancen des Sexualforschungsinstituts Hamburg). Dort sprechen Kinder und Jugendliche vor, mit oder ohne Eltern, für die die Sache nicht so ganz klar ist: Bin ich ein Mädchen oder ein Junge? Doch oft handelt es sich dabei keineswegs um Transsexuelle, sondern einfach um junge Menschen, die keinen Bock haben, sich im Geschlechterkäfig einsperren zu lassen.

Wohin es allerdings führen kann, wenn die Utopie von der Auflösung der Geschlechter die (Geschlechter)Realität leugnet, analysiert die amerikanische Journalistin und Feministin Elinor Burkett. In ihrem Text "Was macht uns zu Frauen?" fragt sie zum Beispiel: Wie kann es sein, dass Pro Choice-Initiativen auf Druck der Transgender-Bewegung das Wort "Women" aus ihrem Namen gestrichen haben?

Dass die strikte Zuweisung von hie weiblich und da männlich auch rein biologisch unhaltbar ist, berichtet im letzten Beitrag des EMMA-Dossiers die Wissenschaftsjournalistin Judith Rauch. Nicht nur unsere Körperzellen sind fast immer ein Mix aus männlich und weiblich zugleich; neue Methoden der DNA-Analyse und Zellbiologie enthüllen, dass fast jeder Mensch eine Art Geschlechter-Patchwork ist. Auch das biologische Geschlecht muss also neu definiert werden.

Dieser Artikel - und das vollständige Dossier "Ich bin ich - Weder Mann noch Frau" - erschien zuerst in EMMA Januar/Februar 2016. Ausgabe bestellen 

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Was macht uns zu Frauen?

Mal ist das Model Tamy Glauser ein Mann - mal ist sie eine Frau. Sie läuft auf Frauen- und Männermodenschauen.
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Haben Frauen und Männer unterschiedliche Gehirne? Als Lawrence H. Summers als Harvard-Präsident das behauptete, waren die Reaktionen darauf prompt und gnadenlos. ExpertInnen nannten ihn einen Sexisten. Fakultätsmitglieder beschimpften ihn als Höhlenmenschen. Alumni verweigerten Spenden.

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Aber als Bruce Jenner das Gleiche in einem Interview mit der Journalistin Diane Sawyer sagte, wurde er für seinen Mut und sogar für seine Fortschrittlichkeit gepriesen. „Mein Gehirn ist sehr viel mehr weiblich als männlich“ sagte er, um zu erklären, warum er transgender sei.

Haben Frauen und Männer unterschiedliche Gehirne? 

Vanity Fair gab uns einen Einblick in Caitlyn Jenners Vorstellung von einer Frau: Push-Up-Korsett, laszive Pose, massig Mascara und die Aussicht auf regelmäßige „Mädchenabende“ mit Geplänkel über Frisuren und Make-up. Jenner bekam dafür viel Applaus. Das „Entertainment and Sports Programming Network“ (ESPN) verkündete, es werde Frau Jenner einen Preis für ihre Courage verleihen. Auch Präsident Obama gratulierte ihr.

Ich habe einen Großteil meiner 68 Jahre dagegen gekämpft, dass Frauen – unsere ­Gehirne, unsere Herzen, unsere Körper – in Schubladen gesteckt und wir auf verstaubte Stereotype reduziert werden. Und jetzt muss ich feststellen, dass viele Menschen, die ich dabei an meiner Seite wähnte – Menschen, die sich stolz fortschrittlich nennen und ­inbrünstig das menschliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung unterstützen – plötzlich daran glauben, dass winzige Unterschiede in männlichen und weiblichen Gehirnen riesige Folgen haben und dass uns eine Art ­Geschlechter-Schicksal eingebrannt ist.

Dabei ist das genau die Art Unsinn, der jahrhundertelang als Vorwand benutzt wurde, um Frauen zu unterdrücken. Aber der Wunsch, Menschen wie Jenner und ihre Reise zu ihrem „wahren Ich“ zu unterstützen, hat ihn seltsamerweise zurückgebracht.

Doch Menschen, die nicht ihr gesamtes Leben als Frauen gelebt haben, ob Ms. Jenner oder Mr. Summers, sollten uns nicht erneut definieren. Das haben Männer schon zu lange gemacht. Und so sehr ich das Recht der Männer, ebenfalls ihr Korsett der Männlichkeit ­abzuwerfen, auch anerkenne und gutheiße, so dürfen sie jedoch keinen Anspruch auf Würde als Transgender einfordern, indem sie auf ­meiner Würde als Frau herumtrampeln.

Ihre weibliche Identität ist nicht meine weibliche Identität!

Ihre Realität ist nicht meine Realität. Ihre weibliche Identität ist nicht meine weibliche Identität. Sie haben nicht als Frauen in dieser Welt gelebt und sind davon geprägt worden, was das bedeutet. Sie haben nicht in Geschäfts-Meetings gelitten, bei denen Männer nur mit ihren Brüsten gesprochen haben. Sie sind nicht nach dem Sex mit der Horrorvorstellung wachgeworden, dass sie am Vortag vergessen haben, die Pille zu nehmen. Sie mussten nicht damit klarkommen, dass ihre Periode mitten in einer überfüllten U-Bahn einsetzte, oder dass das Gehalt ihrer männ­lichen Arbeitskollegen höher war als ihr eigenes. Und sie mussten nicht mit der Angst leben, womöglich zu schwach zu sein, um sich gegen einen Vergewaltiger zu wehren.

Was es für mich und viele andere Frauen, Feministinnen oder nicht, schwermacht, uns hinter die Transgender-Bewegung zu stellen, ist, dass immer mehr Transmenschen die Tatsache missachten, dass Frau zu sein auch bedeutet, bestimmte Erfahrungen gemacht, bestimmte Herabwürdigungen erlitten und bestimmte Idealisierungen „genossen“ zu haben, in einer Kultur, die Frauen anders ­behandelt als Männer.

Gehirne sind ein guter Ausgangspunkt für diese Debatte. Denn wenn es etwas gibt, das die Wissenschaft über sie herausgefunden hat, dann, dass sie durch Erfahrungen geformt werden. Zum Beispiel ist der Teil des Gehirns, der für die Orientierung zuständig ist, bei TaxifahrerInnen ausge­prägter; so wie auch die Hirnregion für ­Fingerbewegungen der linken Hand bei rechtshändigen GeigerInnen erweitert ist.

„Man kann nicht einfach ein Gehirn nehmen und sagen ‚Das ist ein Mädchen-Hirn‘ oder ‚Das ist ein Jungen-Hirn‘„, erklärte Gina Rippon, Neurowissenschaftlerin an der britischen Aston Universität, kürzlich in The Telegraph. Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen, erklärte sie, seien durch den permanenten Einfluss einer Umwelt verursacht, die Menschen je nach Geschlecht sehr unterschiedlich behandelt. 

Caitlyn Jenner auf dem Cover der "Vanity Fair".
Caitlyn Jenner auf dem Cover der "Vanity Fair".

Jenners Erfahrungen beinhalten eine ordentliche Dosis männlicher Privilegien, wie nur wenige Frauen sie sich überhaupt vorstellen können. Während der junge „Bruiser“ (Kraftprotz), wie Bruce Jenner in seiner Kindheit genannt wurde, sich sein Studium mit einem Sportstipendium finanzierte, konnten wohl nur wenige Sportlerinnen auf eine solche Großzügigkeit zu hoffen wagen. Schließlich boten Universitäten kaum Finanzierung für den Frauensport. Als Mr. Jenner nach einem Job suchte, um während des Trainings für die Olympischen Spiele 1976 für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, war er nicht gezwungen, auf die kärglichen „Aushilfe gesucht – weiblich“-Anzeigen zurückzugreifen. Er kam mit den 9000 Dollar aus, die er jährlich bekam.

Anders als junge Frauen, deren durchschnittliches Einkommen etwas mehr als die Hälfte des Einkommens der Männer betrug. Groß und stark wie er war, musste er sich nie Gedanken ­darüber machen, wie er nachts am sichersten durch die Straßen laufen konnte. Das sind die Realitäten, die die Frauengehirne formen.

Frau zu sein bedeutet auch, bestimmte Erfahrungen gemacht zu haben

Jenner und die vielen Verfechter der Transgender-Rechte, die ähnlich argumentieren, ignorieren diese Realitäten, indem sie Weiblichkeit so definieren, wie Jenner es der Journalistin Sawyer gegenüber tat. Damit unterminieren sie nahezu ein Jahrhundert hart erkämpfter Argumente: Nämlich dass die Definition der Weiblichkeit ein soziales Konstrukt ist, mit dem wir unterdrückt wurden. Und sie untergraben unsere Anstrengungen, die Umstände zu ändern, unter denen wir aufwuchsen.

Man stelle sich die Reaktionen vor, wenn ein junger weißer Mann plötzlich deklarieren würde, er sei im falschen Körper gefangen und – nach der Anwendung von ­Chemikalien, die seine Hautpigmentierung verändern, und nachdem er seine Haare zu kleinen Locken gezwirbelt hat – erwartet, von der schwarzen Community bereitwillig aufgenommen zu werden.

Viele Frauen, die ich kenne, jeden Alters und jeder Rasse, reden im Privaten darüber, wie beleidigend wir die Sprache empfinden, die TransaktivistInnen benutzen, um sich selbst zu erklären. Nachdem Jenner über sein Gehirn geredet hatte, entrüstete sich eine Freundin und fragte verzweifelt: „Meint er damit etwa, er ist schlecht in Mathe, weint bei schlechten Filmen oder ist auf Empathie programmiert?“ Nach der Ver­öffentlichung der Vanity Fair-Fotos von Jenner schrieb Susan Ager, eine Journalistin aus Michigan, auf Facebook: „Ich unterstütze Caitlyn Jenner voll und ganz, aber ich wünschte, sie hätte sich nicht entschlossen, ein Sex Babe zu werden.“

Meistens beißen wir uns auf die Zunge und schlucken den Ärger herunter, den wir bei Larry Summers noch offen und mit Recht empfunden haben. Wir schrecken davor ­zurück, diesen Ärger laut zu äußern, weil wir die Schlammschlacht sehen, die zwischen ­radikalen Flügeln der Frauenbewegung und der Transbewegung ausgebrochen ist. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, welche Veranstaltungen auf „als Frauen geborene Frauen“ begrenzt sind, über den Zugang zu öffentlichen Toiletten oder wer die extremere Verfolgung erleiden musste. Die Beleidigungen und die Angst, mit der Transmänner und Transfrauen leben, sind uns allzu bekannt. Deshalb möchten wir uns instinktiv hinter den Kampf einer grausam marginalisierten Gruppe um Gerechtigkeit stellen.

Aber während die Trans-Bewegung zum Mainstream wird, wird es für uns immer schwieriger, keine bohrenden Fragen zu stellen angesichts der ständigen Angriffe mancher SprecherInnen der Transbewegung auf das Recht von Frauen, uns selbst zu definieren, unsere Haltungen oder unsere Körper. Denn die Transbewegung macht schlicht nicht das, was auch Afroamerikaner, Latinos, Homo­sexuelle oder Frauen getan haben, nämlich: das Ende von Gewalt und Diskriminierung und eine respektvolle Behandlung fordern. Die Transbewegung verlangt darüber hinaus, dass wir Frauen uns neu konzipieren.

So sendete im Januar 2014 die Schauspielerin Martha Plimtpon, eine Kämpferin für das Recht auf Abtreibung, einen Tweet über eine Benefizveranstaltung mit dem Namen „Nacht der tausend Vaginas“. Plötzlich hagelte es Kritik dafür, dass sie das Wort „Vagina“ verwendet hatte. „Angesichts der ständigen Konzentration und Überprüfung unserer Geschlechtsorgane kann man nicht erwarten, dass Transleute sich von einem Veranstaltungstitel angesprochen fühlen, der sich auf ein Geschlechtsorgan fokussiert, mit dem eine reaktionäre, binäre Politik betrieben wird“, lautete ein Tweet. 

Die Trans-
bewegung verlangt, dass wir Frauen uns neu konzipieren

Als Martha Plimpton erklärte, sie würde weiterhin „Vagina“ sagen – und wieso sollte sie nicht, wenn es doch ohne eine Vagina keine Schwangerschaft oder Abtreibung gibt? – wurde ihre Seite erneut mit entrüsteten Kommentaren überflutet, wie Michelle Goldberg in The Nation berichtete. „Du bist also wirklich entschlossen, weiterhin einen Begriff zu benutzen, von dem man dir oft gesagt hat, dass er ausschließend und verletzend ist?“ fragte ein Blogger. Plimpton wurde zu einer – um die neue Transbeleidigung zu benutzen – „Terf“, was „Trans exclusionary radical feminist” (Trans-ausschließende radikale Feministin) bedeutet.

Im Januar sagte das Theater-Projekt des Mount Holyoke College, eine Frauen-Kunsthochschule, eine Aufführung von Eve Enslers kultigem feministischen Stück „Die Vagina-Monologe“ ab. Die Begründung: Es biete „nur eine sehr begrenzte Perspektive darauf, was es bedeutet, eine Frau zu sein“, erklärte Erin Murphy, die Vorsitzende der Studentinnengruppe.

Nochmal zum Mitschreiben: Das Wort „Vagina“ ist ausschließend und bietet nur eine sehr begrenzte Perspektive auf das Frausein? Also sollen wir drei bis fünf Milliarden Menschen, die eine Vagina haben, zusammen mit den Transmenschen, die eine wollen, unser Geschlechtsorgan mit dem politisch korrekten Begriff bezeichnen, den Transaktivisten uns aufdrücken wollen: „Vorderes Loch“ oder „inneres Genital“?

Sogar das Wort „Frau“ ist von genau den Personen ins Visier genommen worden, die das Recht einfordern, als Frau betrachtet zu werden. Die Hashtags #StandWithTexasWomen und #WeTrustWomen stehen auch unter Beschuss. Grund: Sie seien „ausschließend“.

„Das Recht auf Abtreibung und reproduktive Gerechtigkeit sind kein frauenspe­zifisches Problem“, schrieb Emmet Stoffer, einer der vielen, die sich selbst als Trans­gender-Personen bezeichnen und über das Thema bloggen. Es sei ein „Uterus-Besitzende spezifisches Problem“. Stoffer bezog sich dabei auf die Möglichkeit, dass eine Frau, die Hormone nimmt oder sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzieht oder die sich nicht als Frau identifiziert, trotzdem eine Gebärmutter haben, schwanger werden und eine Abtreibung brauchen könnte.

Folglich stehen Abtreibungsrechtsgruppen jetzt unter dem Druck, das Wort Frau aus ihren Statements herauszustreichen, wie Katha Politt kürzlich in The Nation berichtete. Die, die nachgegeben haben, wie der „New York Abortion Access Fund“, bieten ihren Service jetzt „Menschen“ und „AnruferInnen“ an. Auch die Initiative „Fund Texas Women“, die Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, Hotel- und Reisekosten finanziert, benannte sich um in „Fund Texas Choice“. „Mit dem Namen ‚Fund Texas Women‘ haben wir ­öffentlich Transmenschen ausgeschlossen, die eine Abtreibung brauchen, aber keine Frauen sind“, begründet die Gruppe auf ihrer Website ihren Schritt.

Frauenhochschulen verrenken sich, um weibliche Studentinnen aufzunehmen, die sich selbst als Männer betrachten, nehmen aber gewöhnlich keine Männer auf, die als Frauen leben. Nun haben diese Institute, deren Kernmission es eigentlich ist, weibliche Führungskräfte hervorzubringen, eine Studierendenparlaments- und Studentenwohnheim-Präsidentin, die sich als männlich bezeichnet.

Studierende des Frauen-Colleges Wellesley ersetzen immer öfter den Begriff „Schwesternschaft“ durch „Geschwisterschaft“. Mitglieder der Fakultät bekommen Klagen von Transstudenten, die sich über den Gebrauch des Pronoms „sie“ beschweren – und das, obwohl Wellesley mit ihrer langen Tradition als DIE Frauenhochschule von Weltklasse prahlt.

Die Situation, die gerade entsteht, und die Sprache, die sie mit sich bringt, ist unmöglich zu verstehen. Die Theorielastigen unter den TransaktivistInnen behaupten, dass es hier keine Paradoxons gibt und dass jeder, der das Gegenteil behauptet, sich an eine binäre Sicht auf Gender klammert, die hoffnungslos veraltet ist. Trotzdem erwarten Frau Jenner und Frau Manning, um nur zwei zu nennen, Frauen genannt zu werden; gleichzeitig werden Pro Choice-AktivistInnen belehrt, dass es diskriminierend sei, den Begriff „Frau“ zu benutzen. Sind also die, die sich als Mann haben umwandeln lassen, die einzigen „rechtmäßigen“ Frauen, die noch übrig sind?

Der Kampf, die Stereotype zu überwinden, ist noch lange nicht zu Ende

Frauen wie ich haben die eingeschränkte Sicht auf Frauen und Männer schon in Frage gestellt, als die meisten AmerikanerInnen das Wort „Transgender“ noch nie in ihrem Leben gehört hatten. Und weil wir dies taten, und es auch weiterhin tun, arbeiten Tausende von Frauen, die ehemals auf Jobs wie Sekretärin, Kosmetikerin oder Flugbegleiterin beschränkt waren, nun als Schweißerin, Mechanikerin oder Pilotin. Deshalb spielen unsere Töchter heute mit Autos genauso wie mit Puppen, und deshalb trauen sich die meisten von uns heute, dienstags einen Rock und hohe Schuhe und freitags Jeans zu tragen.

Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass diese hart erkämpfte Lockerung der Rollenzwänge für Frauen zumindest teilweise eine Erklärung dafür liefert, warum dreimal so viele Geschlechtsumwandlungen bei Männern vollzogen werden. Männer werden vergleichsweise stärker durch Geschlechtsstereotype eingeschränkt oder sogar erdrückt.

Der Kampf, diese Stereotype zu überwinden, ist noch lange nicht zu Ende – und TransaktivistInnen könnten darin unsere ­natürlichen Verbündeten sein. Solange Menschen X- und Y-Chromosomen produzieren, die zur Entwicklung von Vaginas und Penissen führen, wird fast allen von uns bei der Geburt ein Geschlecht „zugewiesen“. Aber was wir mit diesem Geschlecht machen, die Rollen, die wir uns selbst und anderen ­zuweisen, ist fast vollständig veränderbar.

Wenn das die ultimative Botschaft der Trans-Community ist, dann heißen wir sie herzlich willkommen, zusammen dafür zu kämpfen, dass alle den Raum bekommen, so zu leben, wie sie wollen – ohne dabei von Rollenerwartungen eingeschränkt zu werden. Aber die Identitäten von Frauen zu ­unterminieren und unsere Erfahrungen zu leugnen oder gar auszulöschen – das können wir in diesem Kampf nicht gebrauchen.

Auf die Frage von Journalistin Sawyer, worauf er sich nach seiner Geschlechtsumwandlung am meisten freue, antwortete Bruce Jenner: die Chance, Nagellack zu tragen. Nicht nur für einen kurzen, flüchtigen Moment, sondern bis er abblättert. Ich wünsche mir das für Bruce, jetzt Caitlyn, auch. Aber ich will sie auch daran erinnern: Es ist nicht der Nagellack, der eine Frau zur Frau macht.

Elinor Burkett, Übersetzung: Josephine Ngomo

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