Meghan Murphy: Freiwillig entfremdet
"Die Entscheidungsfreiheit einer Frau“ ist ohne jeden Zweifel eine wesentliche Lektion des Feminismus. Eine echte Wahl zu haben, nicht nur die Illusion davon, ist ein zentrales Ziel der Frauenbewegung. Aber was sich aus dieser Überzeugung heraus in den vergangenen 20 Jahren direkt vor unseren Augen entwickelt hat, das ist eine Bestie der anderen Art.
Dieser „Ich mache was ich will, fuck yeah!“-Ethos des Riot-Grrrl-Feminismus aus den 1990er Jahren, den viele als Beginn der so genannten Dritten Welle verstehen, ist verlockend, insbesondere für junge Frauen. Klar, die Vorstellung, frauenverachtende Labels wie „Schlampe“ oder „Hure“ gleichzeitig zurückzuweisen und zur eigenen Sache zu erklären, mag sich zunächst ermutigend anfühlen. Ich denke da zum Beispiel an die Bikini-Kill-Sängerin Kathleen Hannah, die berühmt dafür geworden ist, dass sie sich auf ihren Shows ihr Top vom Körper riss, um das Wort Schlampe in dicken, schwarzen Buchstaben über ihrem Bauch zu enthüllen. Schon vor Hannah wurde Madonna mit einer ähnlichen Strategie zu einer feministischen Ikone. Auch sie inszenierte sich in „sexy“ Kleidung und prägte eine „sexy“ Bildsprache. Seither gilt sie als die Vorreiterin der Frauen, die die Kontrolle über ihre Sexualität selbst in der Hand haben, die ihre Weiblichkeit zum Machtinstrument erklären. Aber auch wenn eine solche Zurückgewinnung sexistischer oder männlich definierter Bildsprache ein Befreiungsschlag wäre, glaube ich nicht, dass Frauen den Begriff „Schlampe“ einfach so neu besetzen könnten, indem sie sich „freiwillig“ dafür entscheiden.
Im Jahr 2011 hatte ein kanadischer Polizist Studierenden der Osgoode Hall Law School in Toronto vorgeschlagen, dass „Frauen sich eben nicht wie Schlampen anziehen sollten, um nicht zu Opfern zu werden.“ Sein Kommentar löste am 3. April 2011 den ersten „Slutwalk“ in Toronto aus. Eine Bewegung, die sich auf die ganze Welt ausbreitete, bis hin nach Las Vegas, Melbourne, Bhopal und Sao Paulo (Anm.d.Red.: Und bis nach Berlin). Die „Slutwalks“ wurden als das Wiedererwachen eines Protests gepriesen, mit der Frauen schon in den 1970er Jahren auf die Straße gegangen sind: „Wir erobern uns die Nacht zurück“.
Bloß: Anstatt die Männergewalt gegen Frauen und die Vergewaltigungskultur anzugreifen, wirkten die Slutwalks auf Medienaufmerksamkeit ausgerichtet. Es schien von Anfang an vor allem um das „Recht“ auf sexy Kleidung zu gehen. „Ich mach was ich will, fuck yeah!“, dieses Mantra stand über allem. Für den männlichen Blick zu posieren galt plötzlich als emanzipiert – solange die Frauen sich nur „freiwillig“ zum Objekt machten.
Es dauerte nicht lange, bis die Slutwalks auch Werbung für die „Sexindustrie“ machten; Prostitution als eine bestärkende, persönliche, freie Entscheidung von Frauen. Vorangetrieben von der Prostitutions-Lobby. In New York „protestierten“ Pole-Dancerinnen in Reizwäsche. Und die MacherInnen von „Slutwalk Las Vegas“ dachten sich folgenden Slogan aus: „Schlampe sein ist kein Look, es ist eine Haltung. Auch wenn dir Sex als Arbeit Spaß macht, ist das niemals eine Einladung zur Gewalt.“ Slutwalk-Organisatorinnen in Washington DC planten sogar Spendenaktionen in Strip-Clubs.
Was die SlutwalkerInnen mit ihrem Fokus auf „Wahlfreiheit“ und persönlichem „Empowerment“ einfach negierten, waren die Umstände, unter denen Frauen Entscheidungen treffen. Insbesondere, wenn es um die „Entscheidung“ geht, in der Sexindustrie zu arbeiten. Oder sich selbst zum Objekt zu machen. Unabhängig davon, ob das in einem Strip-Club, auf Instagram oder auf der Straße passiert.
Auf Kritik antworteten die SlutwalkerInnen: „Wir sind eine Bewegung, die niemanden verurteilt und die jede Entscheidung von Frauen respektiert.“
Was genau soll das heißen? Sind wir so überzeugte Anhängerinnen einer „Entscheidungsfreiheit“ geworden, dass wir gar nicht mehr begreifen wollen, welche Rolle die Mischung aus Sexismus und sozialer Herkunft dabei spielt, wenn eine Frau „freiwillig“ in einem Strip-Club arbeitet? Und wir Prostitutionsgegnerinnen kritisieren auch nicht die „Entscheidung“ der Frauen, sondern die Entscheidung von Männern, Frauen zu ihrem Vergnügen auszubeuten.
Doch der liberale Feminismus scheint den Weg des kleinsten Widerstands eingeschlagen zu haben, angesichts des allgegenwärtigen und schwerwiegenden Frauenhasses, der sexuellen Übergriffe, der Vergewaltigungskultur, der Pornografisierung und der grassierenden Gewalt gegen Frauen. Sie reden von „Freiwilligkeit“ und „Identität“, statt die Wurzel des Problems anzugehen: das Patriarchat.
Ja, das Recht auf echte Wahl war früher der Schlachtruf im Kampf um die Selbstbestimmung über unseren eigenen Körper. Eine echte Wahl, das Recht, selbst zu entscheiden, ob wir gebären, heiraten oder studieren wollen. Selbst zu entscheiden, wie wir leben wollen.
All das sind Errungenschaften der Frauenbewegung, die wir nicht missen möchten. Denn es gibt ja bis heute Länder, in denen das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper ziemlich angeschlagen ist. In denen Frauen zwangsverheiratet werden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 2,5 Milliarden Frauen in Ländern leben, in denen die Vergewaltigung in der Ehe keine Straftat ist. Es gibt also noch viel, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Doch das Konzept der „Freiwilligkeit“ bis zum Erbrechen zu strapazieren hat in dieser Hinsicht bisher wenig gebracht. Es hat den Feminismus eher geschwächt, als gestärkt. Denn es ist angesagt, über „Entscheidungen“ im Sinne einer individuellen, nicht einer kollektiven Entscheidung (und kollektiver Freiheit) zu sprechen.
Ich würde nie auf die Idee kommen, einer Frau das Recht abzusprechen, High-Heels zu tragen, den Namen ihres Ehemannes anzunehmen oder sich zu prostituieren. Aber dass sie diese Wahl treffen kann und auch trifft, macht ihre Entscheidung nicht automatisch zu einer feministischen. Sich gut zu fühlen ist großartig – aber es trägt nicht zum politischen Wandel bei. Um es mit anderen Worten zu sagen: Der Feminismus ist eine Bewegung, keine Selbsthilfe-Fibel.
Wenn wir zum Beispiel so tun, als wäre eine Brustvergrößerung eine feministische Entscheidung, nur weil eine Frau diese Entscheidung trifft, ignorieren wir die Umstände dieser Wahl: das Sich-Anbieten, der Hass auf den eigenen Körper, der Kapitalismus, die Porno-Kultur – also alles, was zu der Unterdrückung der Frauen als Ganzes beiträgt. Innerhalb dieses „Wahlfreiheits-Feminismus“ ist selbst die Entscheidung einer Frau unanfechtbar, die Pornos produziert, die wiederum zu der Unterdrückung nicht nur der Frauen in der Pornografie, sondern aller Frauen beiträgt – und zur Unterstützung der Milliarden Dollar schweren Porno-Industrie. Vielleicht bezeichnet sie sich ja als Feministin! Noch besser. Somit ist Pornografie feministisch. So einfach ist das!
Die Burlesque-Tänzerin Dita Von Teese wurde einst mit dem Satz zitiert: „Wie kann ich unterdrückt sein, wenn ich nur sieben Minuten lang da oben bin und 20000 Dollar gemacht habe? Ich fühle mich ganz schön mächtig.“ So kommen wir allerdings keinen Schritt weiter – mal abgesehen von der Tatsache, dass sich Von Teese ein Paar neue Louboutins kaufen kann.
Die zu Recht angestrebte „Wahlfreiheit“ und auch der feministische Kontext, in der sie als Idee geboren wurde, ist von der Ideologie des liberalen Feminismus gekapert worden. Wie diese Wahl und wie Freiheit aussieht, dass erzählen uns nun ausgerechnet diejenigen, die am Feminismus Null Interesse haben. Die uns weismachen wollen, dass radikal oder revolutionär oder sogar feministisch zu sein, schlecht ist. Stattdessen bieten sie uns ihre Version der Freiwilligkeit an und erzählen uns, dass Selbstbewusstsein und Stärke für uns ganz leicht zu erlangen sind – solange wir dabei nur nett und sexy bleiben.
Und hey, wisst ihr was? Eigentlich brauchen wir die feministische Bewegung doch gar nicht mehr! Wir können uns doch jetzt entscheiden, uns selbst zu entblößen. Weil wir frei sind. Und alle anderen müssen die Klappe halten, denn wir tun es ja freiwillig!
Nein, so einfach ist das nicht. Uns freiwillig zum Objekt zu machen ist nicht das, was unsere Schwestern der Neuen Frauenbewegung meinten, als sie für das Recht auf eine echte Wahl auf die Barrikaden gingen. Wenn unser Ziel als Feministinnen weiterhin lauten soll, die strukturelle Ungleichheit und die pandemische Gewalt gegen Frauen und Mädchen weltweit zu beenden, müssen wir diesen individualistischen Diskurs hinter uns lassen. Wir müssen dem unpolitischen Konzept der „Freiwilligkeit“ eine gemeinsame Stärke entgegenstellen.
Der Text ist ein Auszug aus „Freedom Fallacy – The Limits of Liberal Feminism“, (Connorcourt).
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