Für Louise Hartung war es Liebe …

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 ... für Lindgren war es Interesse auf den ersten Blick. Und das blieb so bis zum Tod von Hartung 1965. Erst jüngst wurden die über 600 Briefe entdeckt, die die beiden Frauen sich in zwölf Jahren geschrieben haben. – Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel analysiert den so ungleichen Briefverkehr zwischen einer Liebenden und einer Zögernden.

Wir brauchen in der Welt viel mehr ‚Abenteurer der Hingebung‘, sonst ersticken wir an der Geschäftemacherei und der Bürokratie.“ Das sagt eine, die einen Krieg durchlebt hat, die unter den Nazis einem Berufsverbot als Sängerin ausgesetzt und gezwungen war, an der russischen Front aufzutreten, und deren Haus nach eigener Aussage eines der letzten umkämpften Berlins war. Der Zweite Weltkrieg ist gerade acht Jahre her.

Eine „Abenteurerin der Hingebung“ ist Louise Hartung, die in den nächsten Lebensjahren das Wagnis eingehen wird, sich Astrid Lindgren so schutzlos zu offenbaren, dass sie an die Grenze des Erträglichen stößt. „Ich jedenfalls“, erklärt Louise am 24. August 1954, „möchte meine Freiheit gebrauchen, um nach eigenem Willen meinem eigenen Gefühl zu folgen.“

Das ist schon deshalb ungewöhnlich, weil Deutschland gerade die entgegengesetzte Richtung einschlägt: Die einen marschieren in die nächste Diktatur, in der das Subjekt nichts gilt, die anderen zurück ins Ehebett des Kaiserreichs mit patriarchal geregelten Abhängigkeiten und einer Mutter- und Hausfraunorm, die in den 20er- und 30er Jahren schon einmal gelockert schien.

Höchste Subjektivität steht in radikalem Gegensatz zu einer Politik der Abschottung einerseits und einer deutschen Kollektivschuld andererseits, deren geistiger Bodensatz erst abgetragen werden muss, woran sich Louise Hartung in ihrer öffentlichen Funktion als Bildungspolitikerin allerdings intensiv beteiligt.

Für diese ungewöhnliche, impulsive, künstlerisch umtriebige, belesene und tatkräftige Frau mag die Liebe zu Astrid, so unerwidert sie zunächst bleibt, in der tristen Nachkriegszeit existentiell gewesen sein.

Louise gibt den Ton des Briefwechsels vor. Die ersten vier, fünf Jahre sind befeuert von ihrer leidenschaftlichen und ungeschützt geäußerten Sehnsucht, einem Überschwang des Gefühls und einer Begeisterung, vor der Astrid, die im kriegsverschonten Schweden ein gemäßigtes Leben führte, zurückschreckt. Hartung ist es, die Lindgren immer wieder hervorlockt aus ihrer Verschalung, ihre Höflichkeitsfloskeln sprengt und Verallgemeinerungen spielerisch aufdeckt, sie geradezu herauszerrt aus einer Verschlossenheit, die ein mittlerweile berühmter Lindgren’scher Wesenszug war.

Und das ist erstaunlich, meinte man doch vor allem Lindgren in diesem Briefwechsel neu zu entdecken. Lindgren, die hier beinahe als Gejagte erscheint, sich von menschlichen Ansprüchen überfordert fühlt und alle diese Menschen und das familiäre Polster dennoch braucht. Lindgren, die Melancholikerin, deren düstere Veranlagung nur im Schreiben und in menschenleerer Natur verschwindet, wo sie ganz bei sich ist. Lindgren, die unentwegt nach Einsamkeit und Ruhe sucht, aber keinen Sekretär beschäftigt wie Goethe, den sie so bewundert, sondern zudem ihre sterbenden Eltern, ihre schwangere Tochter und ihre Enkel betreut, ihnen Essen zubereitet und Trost spendet.

Lindgren, die der Druck internationalen Erfolgs zunehmend belastet, auch deshalb, weil sie dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht wird, die Unmenge an sie gerichteter Briefe zu beantworten. Der Austausch mit Louise Hartung steht am Ende ihrer produktivsten Phase als Schriftstellerin; zwischen 1945 und 1955 entstehen immerhin zwanzig Bücher.

Auch die Alltagsperson Lindgren rückt beim Lesen nah, die in ihrer Enklave Furusund in den Stockholmer Schären schlunzige Arbeitsblusen trägt, die Ingmar Bergmans Filme nicht mag und begeistert Tagebücher und Briefwechsel liest, die schlecht Auto fährt und Rosen, Weihnachten, deutschen Wein und Schwäbisch Hall liebt. Und die es eine enorme Überwindung kostet, Vertrauen zu haben und sich schließlich langsam zu öffnen.

Die große Entdeckung dieses außergewöhnlichen Briefwechsels ist allerdings Louise Hartung. Sie führt eine Offenheit des Denkens vor, in der noch der kulturelle und künstlerische Drive der Vorkriegszeit mitschwingt und die man nicht unbedingt als Erstes mit den 50er Jahren in Verbindung bringen würde: Diese ungeheure Lebensfreude, die sich in ihrem Schreiben ausdrückt, diese Begeisterungsfähigkeit und Unbeschwertheit, dieser Einfallsreichtum, diese Hingabe an alles Schöne, an Blumen, Wein, Literatur, Musik oder die Fülle eines wuchernden Gartens. Der wurde nicht zurechtgestutzt und in eine Ordnung gebracht wie die Ems, der Fluss in Hartungs Geburtsort Münster, von dem sie sagt: „Heute ist er natürlich begradigt, wie alles, was schön war.“

Davon kann diese Künstlerin so pointiert erzählen, das skizziert sie so leichtfüßig, kommentiert sie so ironisch und klug, als handelte es sich bei allem, was ihr widerfährt, um die Abenteuer einer anderen. Dabei hatten die Nazis ihre Karriere als Sängerin zerstört, verlor sie gute Freunde durch Verfolgung und Krieg, wurde sie ausgebombt, kämpfte jahrelang mit Schmerzen. Der Widerstand gegen jede Art von Zumutung – ob politisch, zwischenmenschlich oder körperlich – schien für sie auch darin zu bestehen, sich neu zu erfinden, was sie mehrmals tat: als Regieassistentin, Porträtfotografin, schließlich als Politikerin und große Liebende.

Mit ihrer einflussreichen Position in der westdeutschen Jugend- und Bildungspolitik trug sie entscheidend zu Lindgrens schnellem, überwältigendem Erfolg in Deutschland bei. In den Jahren des rauschhaften Gefühlsstroms überstrahlt Louises Erzählen das der berühmten Schriftstellerin. Ihre Briefe sind Ausdruck jener höchsten Subjektivität, die der Unbedingtheitsanspruch auf das eigene Empfinden mit sich bringt, während Astrid aus der Distanz spricht. Das eigene Empfinden steht erst mal hinten an.

Es ist ein bemerkenswerter Gegensatz, der sich hier auftut auf der Grundlage gegenseitiger Anziehung und Faszination. Dankesformeln, begleitet von schlechtem Gewissen und Neugier bei Astrid, wo Louise Vertrautheit sieht und Wesensverwandtschaft.

„Glaubst Du wirklich, ich sei unglücklich, weil Du Deinen schönen Körper für Dich allein schlafen legst?“, schreibt Louise 1958. „Ja, ich bin unglücklich, aber doch nicht aus diesem Grunde, sondern weil ich unter Deiner Verschlossenheit und Deinem Mangel an Vertrauen, an dieser künstlichen Distanz und einem gewissen unnatürlichen Verhalten leide.“

Dieses „unnatürliche Verhalten“ mag Lindgrens Naturell geschuldet sein, zeigt allerdings auch die Unsicherheit im Umgang mit dem Liebeswerben einer Frau. Was Louise an freigeistigem Denken aus den 20er und 30er Jahren in Paris und Berlin mitbringt, hat es in dieser Selbstverständlichkeit in Schweden nicht gegeben, nicht einmal in der Großstadt Stockholm.

Im Gegenteil, Lindgren war konfrontiert mit patriarchalen Strukturen, in denen eine Frau, die wie sie unehelich ein Kind zur Welt brachte, gebrandmarkt war. In den 50er Jahren waren Gay-Pride-Paraden und offen queeres Leben undenkbar. Anfang 1955, als Louise Astrid die Parabel von Auster und Eidechse schreibt, kommt dieses Thema zwischen den beiden erstmalig zur Sprache.

„Ich wollte nicht, dass geschieht, was ich will, sondern nur, was Du willst.“ So erklärt Louise, die Abenteurerin der Hingabe, ihre Ergebenheit auch in Bezug auf das, was sich erotisch zwischen ihr und Astrid ereignet oder eben nicht ereignet. Dennoch sieht Astrid sich zu einer Erklärung genötigt, die sie warm, aber bestimmt und ganz im Einklang mit den Ansichten ihrer Zeit abgibt.

Sie führt Louises Liebe zurück auf negative Erlebnisse mit Männern, wobei sie auf die Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten anspielt. Damit pathologisiert sie das individuelle Gefühl. Und indem sie sich über das Bekenntnis, nur mit Männern „körperliche Gemeinsamkeit“ haben zu können, selbst als altmodisch und bäuerlich charakterisiert – was so viel bedeutet wie bodenständig und echt –, entwertet sie Louises Liebe als Mode, etwas Vorübergehendes, eine Phase, dekadent.

Beides hat Tradition in der Geschichte der Homosexualität. Pathologisierung auf der einen, Aberkennung von Authentizität auf der anderen Seite sind über Jahrhunderte hinweg Reaktionen einer heteronormativen Gesellschaft auf abweichendes Begehren.

Es ist erstaunlich, wie lässig und unverkrampft Louise darauf antwortet. Sie, die sehr wahrscheinlich Virginia Woolf gelesen hat, die mit den tiefenpsychologischen Texten C. G. Jungs, eventuell sogar mit der Arbeit von Magnus Hirschfeld vertraut war, attestiert den gesellschaftskonformen Ansichten ihrer großen Liebe kurzerhand eine nicht ganz vorurteilslose, „gesunde Normalität“, auch wenn Lindgren sich zur Anerkennung jeder Art von Liebe bekennt. Im selben Atemzug macht Louise die Differenziertheit des Menschen abhängig davon, wie stark in ihm sowohl männliche als auch weibliche Eigenschaften ausgeprägt sind, und erklärt das biologische Geschlecht zu etwas Sekundärem.

Ähnlich offen wie in Bezug auf das Geschlecht – heute würde man sagen, fluid – hält Louise es mit der Definition von Gefühlen. Auch hier ist Astrid ihrer Auffassung nach vertäut in gesellschaftlichen Standards. „Außerdem scheint mir, dass du eine bestimmte Trennung der menschlichen Beziehungen in sogenannte freundschaftliche und liebende Gefühle vornimmst“, schreibt sie am 11. Januar 1955.

Seit Beginn der 60er Jahre aber ist der Überschwang der Gefühle bei Louise abgeebbt, ihre Briefe verschlanken sich, ihr Ton wird gezügelt, wachsam, härter. Zuweilen entwickelt sie einen überraschenden Sarkasmus, den Astrid übergeht oder dem sie mit stoischer Freundlichkeit begegnet, so wie den meisten Äußerungen Louises, die sie zum Auslöser von Glück oder Qual machen, jedenfalls in diesen nun vorliegenden Auszügen.

Als Dank für ein Tuch, das Astrid ihr geschickt hat, schreibt Louise: „Ja, ja, dieses Tuch ist so lindgrün und schön wie Du (nur natürlich viel, viel weicher).“ Als Astrid auf Louises Wunsch nach größerem Beteiligtsein am Leben der Freundin mit der Sorge antwortet, nichts von Louises Tod zu erfahren, sollte ihr etwas zustoßen, schreibt Louise bitter zurück: „... in meinem nun endlich gefertigten Testament ist der Vollstrecker angewiesen, Dir sämtliche in meiner Wohnung befindlichen Vasen zu schicken. Solange die nicht ankommen, bin ich wohl noch nicht gestorben.“ – Ein Echo des bevorstehenden Todes, um den man als Leserin weiß und der den gesamten Brief­raum überschattet.

Gertraud Lemke, Psychotherapeutin und Buchautorin, wird nur am Rande erwähnt. Sie dürfte in Louises Leben aber eine zentrale Rolle gespielt haben, als langjährige treue Freundin, Geliebte. Aus ihrer beider Leben ist nicht viel bekannt, aber klar wird doch, wie nah sie sich standen. Gertraud ist es, die für Louise da ist und sie schließlich im Sterben begleitet. Sie ist es auch, die nach Louises Tod in einem Brief an Astrid die große Liebe ihrer Freundin zur fernen schwedischen Schriftstellerin in Worte zu fassen versucht. Als Dritte besitzt Gertraud den Blick von außen und eine tiefe Vertrautheit mit Louise:

„Sie hatte sich mit Dir und um Dich ein Königreich errichtet, in das sie alle ihre Illusionskraft hineinstrahlte und das sie gegen alle Banalitäten und Ernüchterungen abschirmte. Und Du warst die Richtige dafür, diese Fascination zu erwecken und den Erwartungen aus einer solchen Fascination zu entsprechen. Und doch meinte sie auch noch ganz etwas anderes als nur Dich mit dieser Königin der verschlossenen Schreine, der seligen Träume, der unerfüllten Sehnsüchte, der unsagbaren Seligkeiten.“

Was mich an diesen Zeilen berührt: Wie weitherzig Gertraud Lemke hier Louises große Liebe, die nicht sie betraf, in ihr Recht setzt.

Antje Rávic Strubel

Der Text ist das gekürzte Nachwort von Strubel aus „Astrid Lindgren/Louise Hartung: Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft“. Übersetzung: Ursel Allenstein, Angelika Kutsch, Brigitte Jakobeit (Ullstein, 26 €).

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