Sexualität, Gewalt & Macht
Fangen wir von vorne an.
1. Herrschaft über Menschen lässt sich nur ausüben mittels Ausführung oder Androhung von Gewalt. So wie heute zum Beispiel in Iran Oppositionelle nur mit Gewehren auf die Knie und Frauen unter den Schleier gezwungen werden können; so wie Schwarze in Amerika über Jahrhunderte nur mit der Peitsche in Ketten gehalten werden konnten; so wurde die Domination von Männern über Frauen über Jahrtausende mittels struktureller und persönlicher Gewalt aufrecht erhalten. Und jede, der es (noch) nicht passiert war, wusste: Es könnte auch mir passieren.
Über Jahr-
tausende war Sexualität eine
Waffe gegen Frauen
2. Im Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern mischen sich Gewalt & Sexualität. Der als erstes von Feministinnen erhobene Anspruch auf eine kommunikative und lustvolle Sexualität auch zwischen Männern und Frauen ist nicht alt. Über Jahrtausende war Sexualität eine Waffe gegen Frauen. Sie wurden im Krieg, in der Öffentlichkeit oder im Ehebett vergewaltigt und geschwängert. Gewalt & Sexualität waren untrennbar verbunden, und zwar für Männer wie Frauen. Für Frauen, weil sie dachten – oder gar noch immer denken –, das gehöre einfach dazu bei „den Männern“; und weil Frauen gefällig sind bzw. sein müssen.
3. Traditionell ist also schon die Gewalt an sich lustvoll besetzt für Männer – und zwar unabhängig von der Ausführung sexueller Handlungen (wie Penetration). Erst im Zuge der Emanzipation der Geschlechter wurde das infrage gestellt, versuchen Frauen wie Männer, Gewalt & Sexualität zu trennen. Doch nach Jahrtausenden braucht es dazu mehr als ein paar Jahrzehnte. Denn Sexualgewalt ist kein individueller Ausrutscher, sondern strukturell verankert; ein tiefes, dunkles Erbe. So kommt es, dass für so manchen Mann Gewalt gegen Frauen weiterhin lustbesetzt, ja die höchste Lust ist.
Womit wir bei den Harvey Weinsteins, Tariq Ramadans und Dieter Wedels dieser Welt wären. Solchen Männern geht es nicht nur um „Sex“, es geht um Domination, Demütigung und Gewaltausübung. Sie wollen erniedrigen, foltern, ficken.
Es fällt auf, dass die Frauen, die sagen, sie seien Opfer dieser Männer geworden, alle dasselbe berichten: von dem Amerikaner und Juden Weinstein, dem Sohn ägyptischer Eltern und Muslim Ramadan und dem Deutschen und christlich getauften Wedel. Die Verknüpfung von Gewalt & Sexualität ist kultur- und religionsübergreifend.
Frauen wurde suggeriert,
sie müssten sich „hingeben“
Alle drei pflegten, sagen die Frauen, sie in ihre (Hotel)Zimmer zu locken – einmal die Türen hinter ihnen geschlossen, veränderten sich ihre Gesichtszüge und ihr Benehmen schlagartig. Aus dem Menschen wurde ein Monster. Eine solche Inszenierung richtet sich nicht nur nach außen, um Angst zu machen, sondern auch nach innen, um sich groß zu fühlen: Er ist kein Mann mehr, er ist ein reißender Wolf. Das ist die Rolle, in die er sich hineinfantasiert, die ihn antörnt.
Solchen Männern stehen nun Frauen gegenüber, die genau gegenteilig konditioniert sind. Ihnen wurde suggeriert, sie müssten sich „hingeben“, sich erobern lassen, denn es gefalle Männern nicht, wenn eine Frau eine eigene Lust habe oder gar aktiv werde. Und wenn schon, dann gehöre wenigstens ein bisschen Widerstand dazu. Denn eine Frau, die es so einfach mit sich machen lasse, sei ein Flittchen. Und dann habe sie es auch nicht anders verdient!
Eine Frau, der sowas passiert, die muss sich schämen. Das ist praktisch. Für die Männer. Denn die Frau wird sich aus Scham selber Vorwürfe machen und mit niemandem über das Vorgefallene reden.
Bis die frühe feministische Parole „Die Scham ist vorbei!“ Realität wird, braucht es wohl noch Generationen; bis sie so verinnerlicht ist, – und die Verhältnisse entsprechend verändert sind – dass eine sexuell gedemütigte Frau sich nicht mehr selber schämt, sondern begreift: Nicht ich, sondern der Täter muss sich schämen!
Literatur, Kunst, Popkultur – sie alle raunen bis heute die Geschichte vom Rotkäppchen und dem Wolf. Die schützende Mutter ist weit und die Großmutter, die inzwischen Bescheid weiß, schon gefressen (So, wie die feministischen Pionierinnen „von gestern“ sind).
Doch muss die Frau von heute gar nicht mehr in den Wald gehen, um vom Wolf gefressen zu werden. Sie ist in der Falle, umringt von drei Hürden.
Hürde Nr. 1: Die öffentliche Gewalt, in unserem Kulturkreis beschränkt auf dunkle Straßen und einsame Parks; in anderen Kulturkreisen noch allgegenwärtig. Hürde Nr. 2: Die sexuelle Gewalt im Beruf, psychisch in der Form von Belästigung, physisch als gewalttätiger Übergriff. Hürde Nr. 3: Die sexuelle Gewalt innerhalb von Beziehungen, vom sexuellen Missbrauch des Kindes bis zur Vergewaltigung der Ehefrau.
Sie müssen die Gefahr mit-
denken, auch
wenn sie ihr trotzen
Die öffentliche (Sexual)Gewalt ist eine allgegenwärtige Bedrohung, die den öffentlichen Raum für Frauen einschränkt. Bis heute steht auch unerschrockenen Frauen die Welt nicht so offen wie Männern. Sie müssen die Gefahr immer mitdenken – auch wenn sie ihr trotzen.
Die verharmlosend so genannte „sexuelle Belästigung“ im Beruf hält Frauen klein und fern. In den traditionellen „Frauenberufen“, in denen Frauen die Mehrheit sind und eine Minderheit männlicher Chefs über sich haben, war lange überhaupt kein Denken an Gegenwehr. Die Fabrikarbeiterin, die sich gegen die Übergriffe des Vorarbeiters gewehrt, oder die Krankenschwester, die sich über den Chefarzt beschwert hätte, wäre umgehend geflogen. Dasselbe gilt für die Schauspielerin, die sich die Übergriffe des Regisseurs verbeten hätte: Das wäre ihre letzte Rolle gewesen.
Erst das Eindringen von Frauen in so genannte „Männerberufe“ und ihr relativer Aufstieg in allen Branchen machen eine Gegenwehr heute überhaupt denkbar. Time’s up! Selbst Stars in Hollywood haben Jahrzehnte geschwiegen, bis sie jetzt gewagt haben, wagen konnten, zu reden.
Kommen wir zum Inner Circle, der (Sexual)Gewalt innerhalb von Beziehungen, in Deutschland verschleiernd „häusliche Gewalt“ genannt (als würden Häuser prügeln und nicht Männer). Hier, beim sexuellen Missbrauch von Kindern und der Gewalt gegen die eigene Freundin/Ehefrau werden die Weichen gestellt, werden die Verhaltensmuster geprägt: Männer als Täter, Frauen als Opfer.
Darum ist der Fall Woody Allen noch viel ungeheuerlicher als der Fall Harvey Weinstein (so eine Steigerung überhaupt vorstellbar ist). Woody Allen vergriff sich an den eigenen (Adoptiv)Kindern. Die konnten nicht gehen, das Grauen lauerte zuhause auf sie – und war auch noch für die Opfer kaum durchschaubar vermischt mit „Vertrauen“ und „Liebe“.
Nicht zufällig hatte die Neue Frauenbewegung vor knapp einem halben Jahrhundert genau da angesetzt: bei dem bis dahin verschwiegenen Missbrauch von Kindern und der als „Leidenschaft“ oder „Liebe“ verbrämten sexuellen Gewalt gegen die eigenen Frauen. Wir feministischen Pionierinnen nahmen diesen dunklen Kern als erstes ins Visier: von Kate Milletts „Sexus und Herrschaft“ über Shulamith Firestones „Sexuelle Revolution“ bis hin zu meinem „Kleinen Unterschied“.
Feministinnen nahmen diesen
dunklen Kern
ins Visier
Seither ist viel passiert zwischen Frauen und Männern. Auch viel Positives. Sexualität wandelte sich für viele von der Machtfrage zur Lustfrage. Aber der Backlash ließ nicht auf sich warten: Allgegenwärtige Pornografie, einseitige Libertinage, Anpassung von Frauen an männliche Normen.
Auf unserem Weg in die Welt werden wir Frauen also auch weiterhin diese drei Hürden zu nehmen haben. Und wo die Gewalt im Inner Circle endlich gebannt ist, taucht sie prompt im Beruf oder auf der Straße wieder auf.
Dass gerade jetzt der Beruf in den Fokus rückt, ist kein Zufall. Denn in der Berufswelt werden heute die Pfründe neu verteilt, Männer sollen rücken, um Frauen Platz zu machen. Frauen gehen in Männerberufe (zögerlich) und Frauenkarrieren werden gefördert (begrenzt). Doch das zentrale Abwehrinstrument der Männerwelt gegen die größere Teilhabe von Frauen bleibt die Gewalt bzw. Sexualgewalt. Darum geht es, um nichts anderes! Und darum ist die unter den Schlagworten #MeToo und #TimesUp geführte Debatte so existenziell für uns alle.
Alice Schwarzer