Rabbinerin Delphine Horvilleur
Ausverkauft! Der Zeitungshändler schüttelt den Kopf und deutet auf das leere Regal. „Elle? Die war sofort weg! Mit Delphine Horvilleur auf dem Titel kein Wunder!“ Denn ganz Paris hat eine Meinung zu der Frau, die eine von nur drei Rabbinerinnen in Frankreich ist.
Wer ist diese Frau? Sie ist im Elsass, in Nancy geboren, studierte Medizin an der Hebräischen Universität Jerusalem und Journalismus in Paris, im Anschluss machte sie eine Rabbinerausbildung am Hebrew Union College in New York. 2008 wurde sie zur Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Bewegung (MJLF) Frankreichs ordiniert. Verheiratet ist sie mit Ariel Weil, dem Bürgermeister des Pariser 4. Arrondissements. Mit ihm hat sie drei Kinder.
Sie ist eine Frau der Widersprüche. Selbstverständlich ist sie Jüdin, „aber nicht nur“, wie sie zu betonen pflegt, denn sie ist auch Feministin. Radikale Skepsis und Missbilligung schlagen der umtriebigen Rabbinerin auch von Teilen der jüdischen Gemeinde entgegen. Vielen ist ihre Toleranz und Kooperationsbereitschaft mit anderen Konfessionen ein Dorn im Auge.
Die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani ist ihr eine Schwester im Geiste. Befragt zur Bedeutung von Feminismus in heutigen Zeiten, antwortet sie mit Slimanis Worten: Eine Feministin sei eine Frau, die bereit ist zu enttäuschen. Getreu dem chassidischen Sprichwort „Frag nie jemanden nach dem Weg, der ihn kennt, sonst läufst du Gefahr, dich nicht zu verirren“, erforscht Horvilleur eigene Wege.
Ihre Inspirationen schöpft sie nicht nur von den Männern der Bibel, sondern auch von den Frauen: Abraham und Sara, Isaak und Rebekka. Das Verhältnis zur Weiblichkeit ist für sie der gordische Knoten jeder Religion: Solange das „Weibliche“ ausgeschlossen wird, besteht ein problematisches Verhältnis zum Fremden. Folgerichtig ist sie gegen Geschlechtertrennung und für das weibliche Rabbinat.
Im Kern ihres Essays steht die Gemeinsamkeit von Frauenhass und Judenhass. Die Autorin geht weit in die Geschichte der Juden zurück, um aufzuzeigen, dass schon der hochgerüstete Militärstaat der Römer die Juden als „weibisch“ verfolgte: weil sie keine Soldaten, sondern Gelehrte waren und beschnitten. Es geht um Kastrationsängste und „verunsicherte Männlichkeit“, beim Antisemitismus wie beim Sexismus. „Ist der Hass auf Juden nicht auch ein Krieg der Geschlechter?“, spitzt Horvilleur ihre These zu. Weiter gedacht: Spielt die verunsicherte Männlichkeit nicht auch bei dem in der muslimischen Welt so weitverbreiteten Antisemitismus eine Rolle?
Gleichzeitig ist Horvilleur eine scharfe Kritikerin der so genannten Identitätspolitik. Identität ist für sie vielschichtig und kein monolithischer Block, der mit anderen kollidiert und alles plattwalzt, was nicht ins Schema passt. Dem vor allem im jungen akademischen Milieu grassierenden Wunsch nach Reinheit und der Angst vor Kontaminierung mit anderen Positionen stellt Horvilleur furchtlose Debatten und Vielstimmigkeit entgegen. Polyphonie ist ihr Trumpf in einem Meer der Eindeutigkeit.
Horvilleurs Courage, gegen den Strom zu schwimmen, rührt aus ihrer familiären Vergangenheit. Die Familie ihrer Mutter floh vor der Verfolgung durch die Nazis aus den Karpaten, die Großeltern väterlicherseits wurden gerettet von den „Justes“, Franzosen, die im Namen der Gerechtigkeit ihr Leben riskierten. Schon als Kind wurde Horvilleur mit den Erzählungen über das Böse und das Gute konfrontiert. „Comprendre le monde“ (Die Welt verstehen), lautet der Titel ihres neuen Buches.
Religion und Republik – sie sind kein Widerspruch für Horvilleur, die laizistische Rabbinerin. Klartext spricht sie auch im Falle der 16-jährigen Mila, die wegen ihrer Kritik am Islam Morddrohungen erhielt. Während Präsident Macron formaljuristisch für das „Recht auf Gotteslästerung“ plädiert, argumentiert Horvilleur gewitzt: Die „wahre Blasphemie“ bestehe darin, zu glauben, dass Gott so empfindlich sei, dass man ihm beispringen müsse.
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Delphine Horvilleur: „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, Ü: Nicola Denis (Hanser, 18 €)