Ich bin nicht privilegiert!
Es ist drei, vier Jahre her. Ich saß in einer Kölner Buchhandlung in einer Diskussionsrunde zum Thema Feminismus. Die Diskussion neigte sich schon dem Ende zu, als es plötzlich um die Frage des Geschlechtsbegriffs ging. Ob es nicht retro sei, immer noch von „Männern“ und „Frauen“ zu sprechen, wollte die Moderatorin wissen. Ich erklärte, dass ich mir natürlich eine Gesellschaft wünsche, in der es keine Rolle mehr spielt, ob ein Mensch weiblich oder männlich ist – dass dies aber eine Vision sei und leider nicht die Realität. Dass wir diese Realität nicht verbessern könnten, indem wir sprachlich so täten, als gäbe es Männer und Frauen nicht. „Dem Vergewaltiger im Park“, sagte ich, „ist es egal, wie ich mich definiere“.
Daraufhin meldete sich eine junge Frau aus dem Publikum, Anfang 20, große Nerd-Brille. Das sei „privilegiertes Sprechen“, beschied sie mich.
Vor drei, vier Jahren war „Privileg“ noch kein Modewort und ich wusste ehrlich gesagt nicht genau, was die Frau mir sagen wollte. Heute, da die Idee, dass Menschen „erstmal ihre Privilegien reflektieren“ sollen, bevor sie den Mund aufmachen, aus Gender-Seminaren langsam in die Außenwelt diffundiert, habe ich es verstanden. Es ging um mein „Cis-Privileg“. Also um den Umstand, dass ich als mit einem weiblichen Körper ausgestatteter Mensch mit diesem Körper in Frieden lebe (ich hätte einige Verbesserungsvorschläge, aber das jetzt nur am Rande …) und mich daher als „Frau“ bezeichne. Da manche mit einem weiblichen Körper ausgestattete Menschen mit diesem in einem existenziellen Konflikt sind, bin ich in den Augen der jungen Frau, die vermutlich ein Gender-Seminar besucht, privilegiert. Soweit die Theorie. Reden wir von der Praxis.
Ich war schon im Kindergarten in Fräulein Eichholz verknallt, die Praktikantin. Das war im Alter von vier Jahren noch kein Problem, ein Problem war allerdings, dass ich keine Röcke tragen wollte, sondern meine kurze Lederhose mit Hosenträgern liebte. „Willst du etwa ein Junge sein?!“, fragten Nachbarn und Lehrerinnen entgeistert. Nein, wollte ich nicht. Ich wollte nur keine Röcke tragen, sondern die Lederhose, und auf dem Schulhof mit den Jungs Fußballspielen. Was ich mir durch harte Verhandlungen erkämpfte.
In der Pubertät wurde die Tatsache, dass ich mich in Mädchen verliebte, dann doch zum Problem. Es waren die Achtziger, „Lesbe“ war ein Schimpfwort und sonst nichts, und à propos nichts: Es gab keine Anne Will, keine Kerstin Ott, noch nicht mal Hella von Sinnen. In meinem Biologiebuch stand Homosexualität unter der Rubrik „Perversion“. Es gab keinen einzigen Film über eine Frauenbeziehung, der nicht mit einem Selbstmord(versuch) endete, zumindest nicht in meiner Heimatstadt Gelsenkirchen. Alle meine Freundinnen „gingen“ mit Jungen. Ich verliebte mich in Mädchen, schwieg, implodierte und nahm etliche Kilo zu. In derselben Zeit begannen die üblichen sexuellen Übergriffe, die fast alle Cis-Mädchen erleben, wenn sie Cis-Frauen werden.
An der Uni wurde es besser. Am Journalistik-Studiengang machten wir ein schwul-lesbisches Bürgerfunk- Radio, zu dem übrigens bald auch Transfrauen stießen. Als eine Lokalredaktion, für die ich als Pauschalistin arbeitete, durch das Radio von meiner Homosexualität erfuhr, wurde ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr angefragt. „Es“ jemandem zu sagen, war immer noch mit Herzklopfen verbunden. Und mit Verdienstausfall.
Gegen die Diskriminierung lesbischer Frauen habe ich bei der EMMA gefühlt tausend Artikel geschrieben, davon mindestes hundert für die Homo-Ehe, und ich war dabei, als am 1. August 2001 die ersten Paare vom Kölner Regierungspräsidenten getraut wurden. Selbst gestandene Fotografen kämpften mit den Tränen, als Frauen- und Männerpaare, manche schon um die 70 und seit Jahrzehnten zusammen, sich das – damals vor allem symbolische – Ja-Wort geben durften.
Ich möchte nicht die Oma sein, die vom Krieg erzählt. Und ich möchte auch nicht in einen Diskriminierungs-Wettbewerb mit Transfrauen treten, die, zum Beispiel, 62 Jahre lang als heterosexueller Mann und WDR-Korrespondent durch die Welt gejettet sind und heute „anderen Frauen“ Karrieretipps mit Eierlikör geben („Sei ganz du selbst!“).
Aber ich möchte auch nicht von einer 20-Jährigen, die sich in ihrem Gender-Seminar täglich ein neues Pronomen aussucht, als „privilegiert“ bezeichnet werden. Sorry, liebe "FLINTA*, oder wie auch immer du dich bezeichnest. Reflektier mal drüber.
CHANTAL LOUIS