Die Hälfte der Erde

Filmszene
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Ein Streifzug durch Peking und viele verwirrende Begegnungen: mit Barsängerinnen und Wissenschaftlerinnen, Dektektivinnen und Bäuerinnen. China ist auch heute ein Land der Gegensätze.

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Mitten in Peking. Eine schummrige Kneipe, rustikale Holztische, an der Wand Nummernschilder aus Florida. Der Schlagzeuger klopft mit seinen Stöcken, Bass und Gitarre setzen ein. „You’re simply the best“. Die Sängerin der Band springt auf die Bühne. Sie könnte auch die Tochter von Tina Turner sein, von weitem: blonde strubbelige Haare, ein Meter sechzig klein, mit einem glitzernden BH bekleidet. „Habt ihr Lust auf Party?“ Ohne die Antwort abzuwarten, fällt Sängerin Sherry in die Musik ein. Sherry heißt eigentlich Gao Yu und ist 35 Jahre alt. Das Publikum liebt sie und ihre Reibeisenstimme: „Bist du bereit, Schätzchen?“ Der angesprochene Jüngling grinst verschämt. Sie packt ihn an der Krawatte, zieht ihn auf die Bühne. Seine Freunde johlen, er windet sich.
Diese Szene in Peking hätte genauso in Paris oder Paderborn spielen können. Aber wir sind im heutigen China. Wo noch vor einem Jahrhundert die Frauenrollen in Oper und Theater von Männern gespielt wurden, weil Frauen, „die von Drinnen“, nicht auf die Bühne durften, oft nicht einmal aus dem Haus. Wo man den kleinen Mädchen über Jahrhunderte die Füße brach und schnürte, weil kleine, verkrüppelte Füße als schön und erotisch galten. Und wo noch vor wenigen Jahrzehnten die Genossinnen und Genossen mit festem Schuhwerk und einheitlichem Schritt und Mao-Anzug über den Tiananmen-Platz marschierten – zu unterscheiden bestenfalls an den Zöpfen der Genossinnen, die dieselben jedoch meist auch längst abgeschnitten hatten und einen ähnlich burschikosen Haarschnitt trugen wie die Männer.
Heute ist China ein Land der äußerlichen Vielfalt, aber auch die Wirtschaftswunder-Generation ist noch geprägt vom Erbe der gebundenen Füße und der Mao-Anzüge. China ist das Land, in dem all das nebeneinander existiert: Mädchen, die weder lesen noch schreiben können, weil es sich für die Eltern nicht lohnt, die Tochter zur Schule zu schicken. Frauen, die sich selbst als Konkubinen verkaufen, an die neuen Reichen und Mächtigen, oder von Frauenhändlern entführt und verkauft werden. Aber auch gebildete Frauen, die sich behaupten: starke Bäuerinnen, die Wasserbüffel durch die Reisfelder führen oder Kfz-Mechanikerinnen, die Busse in Peking lenken, und Managerinnen, die eigene Internet-Firmen oder Restaurant-Imperien aufbauen. Mutige Frauen, die sich gegen ihre Männer durchsetzen und einige, die Geschichte schreiben. „Der größte Fehler, den man machen kann“, bekräftigt Wu Qing, Professorin an der Pekinger Universität, „ist, China zu verallgemeinern.“ Die Visitenkarte der Soziologin bietet kaum Platz für ihre ganzen Titel: Abgeordnete des Volkskongresses im Pekinger Haidian Distrikt ist sie, Beraterin für das Magazin Landfrauen und Direktorin eines Trainingszentrums für Frauen vom Land. „Es gibt mittlerweile viele entwickelte Gebiete in China – aber auch dort kann man Orte finden, in denen bislang die Moderne noch nicht Einzug gehalten hat.“
Yancheng ist so ein Ort: das Dorf in der Provinz Jiangsu, aus dem Yang Weihui stammt. Die 45-Jährige lebt mittlerweile in Shanghai, verkauft dort Reismehlkuchen und Sojamilch an die früh morgens vorbeieilenden Geschäftsleute. Die Bewohner ihres Dorfes sind arm, zu arm, um die Schule für alle ihre Kinder zu bezahlen – und Mädchen stehen noch immer in der letzten Reihe, wenn es um Schulbildung geht. Allerorten sieht man in Bauerndörfern auf den Wänden Slogans der Regierung, die verkünden: „Töchter sind so gut wie Söhne“. Der alte Spruch aber sitzt noch immer in den Köpfen, der da sagt: „Eine Tochter zu verheiraten, ist wie Wasser auf den Boden gießen.“ Verschwendung. Denn die Mädchen ziehen später zu der Familie ihres Mannes, müssen sich um seine Eltern kümmern. Die eigenen Eltern bleiben alleine zurück. Auch Verkäuferin Yang hatte das Nachsehen: „Mein Vater, ein Tischler, musste für unsere ganze Familie sorgen, meine Mutter war oft krank. Wir konnten es uns nicht leisten, dass alle sechs Kinder zur Schule gehen. Ich habe nie lesen und schreiben gelernt.“ Noch immer tragen Mädchen Namen wie „Zhaodi“: „Komm, kleiner Bruder!“ Oft werden sie nach der Geburt nicht registriert. Die Eltern umschiffen damit die Ein-Kind-Politik und zeugen so lange weiter, bis ein Junge geboren wird. „So bleibt die hohe Sterberate der weiblichen Babys im Dunkeln“, klagt Professorin Wu. Die Geborenen bekommen weder genug zu essen, noch die nötige Versorgung bei Krankheiten. Sie sterben, ohne gelebt zu haben.
Die meisten kommen erst gar nicht auf die Welt. Mütter treiben ihre weiblichen Föten ab. Mittlerweile hat die Regierung die Früherkennung des Geschlechts verboten. Doch Vorschriften helfen nicht viel in China. Sie ermuntern eher zu neuen Geschäftsideen: Quacksalber mit Ultraschallgeräten ziehen von Dorf zu Dorf und bieten die illegale Untersuchung erfolgreich an.
China hat im 20. Jahrhundert zwei radikale Kehrtwendungen erlebt, die alle mitgenommen haben, vor allem aber die Frauen. Im Kaiserreich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Frauen noch unmündige Sklavinnen. Im Mao-Reich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierten sie zu (fast) gleichberechtigten Genossinnen: zur „Hälfte des Himmels“ (wenn auch nicht der Erde). Im 21. Jahrhundert nun gilt es, sich auf den Kapitalismus und seinen freien Markt umzustellen. Das ist für einige einfach zu viel.

Jede zweite Selbstmörderin weltweit ist heute eine Chinesin. China ist das einzige Land auf der Welt, in dem sich mehr Frauen als Männer umbringen. Die meisten auf dem Land, die meisten mit dem Griff zur Giftflasche. „In meinem Dorf gab es auch ein paar Selbstmorde“, erzählt Liu Haihong aus Beidongfang, einem 100-Seelen-Örtchen in der Provinz Shanxi. Sie arbeitet als Haushaltshilfe in Peking. Ihr Gesicht sieht aus wie Mitte 40, dabei ist sie erst 34 Jahre alt. „Meistens waren es Affekthandlungen“, sagt sie. Zur Doppelbelastung mit Familien- und Feldarbeit kommt nicht selten die böse Schwiegermutter und der prügelnde Ehemann. Gleichzeitig propagiert seit neuestem das Fernsehen mit den bunten Versprechen ein unerreichbar anderes Leben.
„Auf dem Dorf ist es Brauch, dass Männer ihre Ehefrauen schlagen. Mein Mann schlägt mich auch – aber ich haue dann einfach zurück“, sagt die eher unscheinbare Liu mit einem wilden Glitzern in den Augen. Einmal im Jahr fährt sie in ihr Dorf, die Familie besuchen. Ihren Mann, der noch immer dort lebt, vermisst sie nicht besonders. Sie putzt und kocht in Peking für ein junges Ehepaar, nichts Spektakuläres – aber für Liu der Schritt in ein neues Leben. Sie verdient ihr eigenes Geld, unterstützt damit die Familie und ist unabhängig.
Doch nicht jede Frau, die in die Stadt kommt, findet eine menschenwürdige Arbeit. Mit falschen Versprechungen locken Zuhälter junge Mädchen aus armen Provinzen in die Städte, wo sie sich dann in schäbigen Absteigen, in ‚Friseurläden‘ und Karaoke-Bars verkaufen müssen. Tausende von Frauen werden einfach entführt. Von dem Geld sehen sie selber oft nichts, Flucht ist meist aussichtslos. Die Polizei verfolgt die Prostitution nur matt und verdient nicht selten selber mit. Offiziell ist Prostitution illegal in China. In der Realität aber „haben wir mittlerweile mehr Bordelle als Klohäuschen“, wie ein Pekinger Geschäftsmann spottet. Auch hohe Kader sind Kunden.
Die Frauenverbände sind sich der Probleme bewusst, Hilfsorganisationen und Hotlines sprießen seit Jahren wie Pilze aus dem Boden. „Unsere gesellschaftlichen Probleme sind nicht China-spezifisch, sie sind universell“, sagt Professorin Wu: „Wichtig ist, dass Frauen Zugang zu Bildung bekommen.“
Seit den 90er Jahren steigt die Zahl der Studentinnen kontinuierlich. Die jungen Frauen erkennen die Notwendigkeit einer guten Ausbildung wie auch die Chancen in Chinas boomender Wirtschaft. Chinas Frauen erweisen sich als anpassungsfähiger als Männer. „Ich stelle nur noch Frauen ein“, sagt der Manager eines deutschen Windenergie-Unternehmens in Peking. „Die sind fix und smart und arbeiten hart – nicht wie viele Männer hier, die nur das große Wort führen.“
Seit der Öffnung des kommunistischen Chinas kämpfen vor allem die alten Staatsbetriebe ums Überleben, mit den Reformen kam in der Volksrepublik erstmals die Arbeitslosigkeit. Die Frauen werden meist zuerst gefeuert. Vor allem Frauen über 40 werden so zu Verliererinnen der Reformen. Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen, ist auch längst nicht mehr so einfach, wie es nach der Gründung der Volksrepublik war. Mao Zedong hatte in seinem Versuch, Frauen und Männer gleichberechtigt zu behandeln, auch für das entsprechende Umfeld gesorgt: Es gab Kinderkrippen und Ganztagsschulen. Nun findet in China ein Sozialabbau statt.
Doch manche Frauen, denen die Männer keine Chance bieten, nehmen sie sich einfach selbst. Wie Ma Xuezheng. Die frühere Übersetzerin von Ex-Staatschef Deng Xiaoping transformierte geschickt einen kleinen Staatsbetrieb namens Lianxiang in das Großunternehmen, das jetzt unter dem Label Lenovo zur Nummer eins der chinesischen Computerbranche aufgestiegen ist. Ma Xuezheng machte unlängst Schlagzeilen, als sie die Computersparte des amerikanischen Großkonzerns IBM aufkaufte. Die amerikanische Wirtschaftszeitschrift Fortune setzt sie dafür auf Platz drei der erfolgreichsten Frauen außerhalb der Vereinigten Staaten.
In China viel diskutiert wurde auch die Geschichte von Yan Guoqiong, der Begründerin der ersten Frauendetektei in der Stadt Chengdu. Ihre eigenen Erfahrungen mit einem fremdgehenden Ehemann verhalfen ihr zu der Idee, mittlerweile beschäftigt sie 25 Detektivinnen. Oder Huang Wen, die mit ihren Fotografien beweist, dass auch Frauen Männerarbeit leisten können. Als erste chinesische Fotojournalistin reiste sie an den Kriegsschauplatz im Kosovo und wurde dort Zeugin, wie ihre Landsleute bei der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch amerikanische Kampfflieger starben. Huang Wen hielt drauf – und ihre Fotos gingen um die Welt.
Einen bemerkenswerten Erfolg errang in der Südwest-Provinz Yunnan auch Zhou Hongxian: Sie wurde als erste Frau zur Vorsteherin ihres Dorfes Shangzhadian gewählt. Es gratulierte nach der Wahl als erster ein gewisser Herr Lu Shaowei – ihr Ehemann und unterlegener Gegenkandidat bei der Wahl.
Keine Schlagzeilen macht Taxifahrerin Wang Haiwen aus Shanghai, die sich mit ihren 3.000 Yuan (300 Euro) Monatsverdienst schon zur Mittelschicht zählt. Sie kommt aus einer siebenköpfigen Familie und kennt Entbehrungen nur zu gut. Selbst kaum zur Schule gegangen, ging Wang aus ihrem Dorf weg und spart nun jeden Yuan für die Schulausbildung ihres Sohnes. Oder Zhang Wen, Schneiderin in einem Pekinger Kaufhaus, die stolz ist auf ihren Weg: „Ich wohne hier in meinem eigenen Zimmer, nicht wie zu Hause in Jiangsu mit vier Leuten zusammen. Und ich verdiene genug, um meine Familie zu unterstützen.“

Geld gilt als Schlüssel zum Glück. Und zur Emanzipation. Immer mehr chinesische Frauen werden finanziell unabhängig, einige erklären sogar schon die Ehe für „überflüssig“. „Ich wollte eigentlich sowieso nicht heiraten“, erzählt die Schauspielerin Jia Feng, 40 Jahre alt. „Aber mein Exmann und seine Familie haben so lange gedrängelt, bis ich zugestimmt habe.“ Nach acht Jahren hat sie sich wieder scheiden lassen. „Ich brauche keinen Mann. Meine Arbeit ist mir wichtig, sie füllt mich aus. Meine Freunde und meine Familie reichen mir als soziales Netz. Auch meine Eltern unterstützen mich in allem, was ich tue.“
Eine Seltenheit, noch immer. Viele junge Mädchen bekommen so lange Druck von ihren Eltern, bis sie endlich heiraten. Liebe ist dabei nebensächlich. Die Ehe gilt in der Elterngeneration als noch wichtiger als ein guter Job. „Was sollen denn die Nachbarn denken“, ist gerade aus dem Mund von Müttern ein noch oft gehörter Vorwurf an ihre ledigen Töchter.
Zhang Meili, ein junges Model aus Shanghai, erzählt, dass ihre Mutter ihr geraten habe: „Benutze dein Gehirn so wenig wie möglich, wenn du deine Jugend und Schönheit behalten möchtest!“ Also dich gut verheiraten willst. Die 22-Jährige beherzigt diesen Rat und geht am liebsten shoppen. Ihr Freund liebe es, sie in schönen Kleidern zu sehen, sagt sie. Er zahlt ja auch kräftig dafür.
„Frauen sollen heute wieder hübsch und weiblich sein. Manche Männer möchten gar nicht, dass ihre Frauen arbeiten“, bestätigt Professorin Wu. „Aber wenn es die eigene Entscheidung der Frau ist, dann ist es doch wieder Fortschritt, oder etwa nicht?“ Frauen im Westen wissen inzwischen, dass die „eigene Entscheidung“ auch so ihre Tücken hat. Die Chinesinnen müssen das noch lernen: Unter Mao galt allein das Streben nach Schönheit als reaktionär.
Heute haben Männer mit kleinen Portmonees es in China wieder schwer. Die meisten Mädchen suchen den Tausch: Meine Schönheit und Jugend gegen dein Geld und den sozialen Aufstieg. Dazu kommt, dass es in China wegen der Abtreibung weiblicher Embryos inzwischen viel mehr Jungen als Mädchen gibt. Auf der Insel Hainan zum Beispiel kommen auf 100 neugeborene Mädchen 130 Jungen. Schon blüht auf dem Land der Frauenhandel. Die lokalen Behörden drücken oft beide Augen zu, stellt sich heraus, dass eine Frau ihren Mann nicht freiwillig geehelicht hat. Und die örtlichen Kader haben eher Mitleid mit dem armen Bauern, der sich keine Ehefrau leisten kann. Chinesische Zeitungen berichteten gar von Bürgermeistern, die selbst losziehen und Frauen für ihre Dörfer besorgen.
Mädchenhandel und Brautkauf sind nichts Neues in China, in den letzten Jahren mehren sich allerdings die Berichte darüber. Und auch in diesem Fall verfolgt die Polizei nur halbherzig die Frauenhändler, Korruption und Gleichgültigkeit sind stärker. Oft dauert es Jahre, bis die Behörden entführte Frauen aufspüren. „Und wenn dann die Polizei kommt, um die Frauen zu retten, möchten diese gar nicht mehr weg“, behauptet Professorin Wu beschwichtigend. „Die Frauen haben ihre Familie gegründet, sind dort zu Hause, fühlen sich manchmal sogar wohler als in ihrem alten Dorf. Man muss wirklich jeden Fall einzeln beleuchten, vielleicht wurde beiden ja auch ein Gefallen getan.“ Die Frau als Leibeigene, das hat eine lange Tradition in China.
Mittelalterliche Raubzüge hier, modernes Angeln dort. Die Stadtjugend überlässt längst nichts mehr dem Zufall, die Partnersuche schon gar nicht. Aktiv suchen Chinas junge Frauen ihren Zukünftigen im Internet oder in den zahlreichen Bars. Und haben sie ihn gefunden, wird gelästert. In Zeitschriften und in chat rooms diskutieren sie öffentlich Themen wie Sex und Liebe, stellen Vergleiche an und lassen oft kein gutes Haar an dem Liebsten. Was früher eine sozialistische ‚Genossenschaft zur Fortpflanzung‘ war mit gemeinsamer allabendlicher Anbetung des Vorsitzenden Mao, soll heute ein Fundament des Glücks sein. Wohlhabend soll er sein, der zukünftige Gatte, gebildet mit einem sicheren Job und gut im Bett: Schlechter Sex rangiert in der Hitliste der Scheidungsgründe auf den vorderen Plätzen.
 „Meine Eltern haben mich gelehrt, als Jungfrau in die Ehe zu gehen“, erinnert sich Linlin, 30, Journalistin. „Als ich dann heiratete, hatte ich schon mit zwei Männern vorher geschlafen. Mein Mann fand das aber nicht ungewöhnlich. Meine Eltern dagegen waren beide unberührt, als sie mit 27 geheiratet haben.“
Viele der neuen Freiheiten, aber auch der neuen Zwänge hat die Öffnung Chinas, hat der Kontakt mit dem Westen gebracht. Doch auch das sozialistische Erbe ist gemischt. Die Maoisten haben nach der Revolution 1949 das Füßebinden endgültig abgeschafft und die Frauen aus den Hinterzimmern und Bauernkaten raus in die Fabriken und Universitäten geholt. Ihre strenge – und manchmal grausame – Ein-Kind-Politik hat dennoch den Frauen neue Freiheiten beschert. Die Regierung hat ein liberales Ehegesetz verabschiedet, Scheidung auf Chinesisch ist leichter als in Deutschland. In der Nordost-Provinz Jilin ist Frauen mittlerweile sogar erlaubt, auch ohne Mann ein Kind zu bekommen, per künstliche Befruchtung.
Auf dem Papier also erfreuen sich Chinas Frauen an mehr Rechten als je zuvor. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass die Partei, die den Frauen einst „die Hälfte des Himmels“ versprach, dabei noch immer die Hälfte der Erde vergisst. Nur wenige Frauen sitzen an den entscheidenden Stellen der Macht. Nur ein einziges der hundert größten Unternehmen Chinas hat eine Frau als Direktorin oder Vorstandsvorsitzende: Xie Qihua vom Baoshan-Stahlwerk in Shanghai (s.S. 64). Mancherorts sind gar Rückschritte zu vermelden: Im Zentralkomitee der KP sitzen im Jahr 2005 fünf Frauen – unter 193 Männern. So wenige waren es noch nie.
Auch Sängerin Sherry in ihrem Glitzerbikini träumt so konservativ wie ihre Eltern. „Alle Männer denken, ich bin leicht zu haben“, sagt sie. „Dabei bin ich ein sehr traditionelles Mädchen. Ich hatte erst zwei Freunde, träume von Hochzeit und Kindern.“ Und nach einer kurzen Pause fügt die inzwischen 35-Jährige zögernd hinzu: „Aber das hat noch Zeit!“
Anja Obst, EMMA 4/2005
Die Autorin, geboren in Lübeck, lebt seit 1993 in China und seit 1998 in Peking.

Dieser Artikel gehört zum

Dossier: China

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