Alice Schwarzer schreibt

Polanski & FreundInnen

Roman Polanski mit der französischen Kulturministerin Christine Albanel (li) und Schauspielerin Valerie Lemercier. - Foto: Imago/UPi Photo
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Was ist der Unterschied zwischen einem (unbekannten) Priester und einem (bekannten) Filmregisseur? Wenn ein Priester nach Jahrzehnten – endlich – zur Rechenschaft gezogen wird wegen Missbrauchs und Vergewaltigung Minderjähriger, dann sind alle zufrieden. Wenn ein Filmregisseur wie Roman Polanski, der eingestandenermaßen eine 13-Jährige mehrfach vergewaltigt hat – endlich – zur Rechenschaft gezogen wird, sind viele empört. Und die Schönen und Klugen aus Filmwelt, Intelligenzia und Politik lancieren Appelle des Stils: "Freiheit für Polanski".

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Was ist wirklich passiert? Wird Polanski zur Rechenschaft gezogen?

Was ist passiert? Am 26. September 2009 wurde Roman Polanski, 76, der seit 2005 via internationalen Haftbefehl gesucht wird, in der Schweiz verhaftet. Für eine Tat, die er im März 1977 in Los Angeles begangen hatte: die Vergewaltigung eines Kindes.

Der damals 43-Jährige fotografierte im Auftrag der Zeitschrift Vogue junge Mädchen und hatte die 13-Jährige in dem Zusammenhang in die Villa seines Freundes Jack Nicholson gelockt. Der folgende Vorgang ist unstrittig und wird auch von Polanski eingestanden: Roman Polanski, damals schon ein international berühmter Regisseur, lockte das Mädchen regelrecht in eine Falle. Er füllte die 13-Jährige mit Champagner und Beruhigungspillen ab und forderte sie auf, nackt mit ihm in ein Jacuzzi-Bad zu steigen. Das Mädchen lehnte ab und bat ihn, sie nach Hause zu fahren. Nun begann Polanski, sie anzufassen und zu küssen. Das Mädchen bat ihn erneut, von ihr zu lassen. Sie müsse nach Hause, sie hätte Asthma. Er ging zum Oralverkehr über. Sie bat ihn, aufzuhören. Er führte seinen Penis in ihre Vagina ein. Sie bat ihn, sie gehen zu lassen. Er penetrierte sie anal. Bis zum Orgasmus.

Zuhause erzählte das Mädchen seinem Freund, was passiert war. Die Mutter hörte das Gespräch und brachte die Tochter umgehend ins Krankenhaus. In Amerika sind Krankenhäuser verpflichtet, die Opfer sexueller Gewalt zu melden. Später sollten die Medien immer wieder darauf insistieren, die Mutter habe ja gewollt, dass Polanski ihre Tochter fotografiert. Roman Polanski kommt in Untersuchungshaft und nach 42 Tagen wieder frei. Ihm drohen nach amerikanischem Recht bis zu 50 Jahre Gefängnis. Seine Anwälte versuchen, mit Polanskis Schuldeingeständnis das Gericht zu einem Deal zu bewegen.

Ist Samantha Geimer eine
von vielen?

Die Strategie scheitert – nicht zuletzt, weil dem Richter noch während der Verhandlungen ein Foto vom Oktoberfest in München vor Augen kommt, wo Polanski schon wieder eine Minderjährige im Arm hat. Im Januar 1978 flieht Polanski, der die polnische und die französische Staatsangehörigkeit hat, nach Europa. Hier arbeitet er unbehelligt weiter. Als erstes dreht er "Tess" mit der 15-jährigen Nastassja Kinski, mit der er eine enge Beziehung eingeht. Und: Er setzt seine Fotoserie mit jungen Mädchen für Vogue fort.

Im März 2003 erhält der Regisseur von "Rosemarys Baby" und "Tanz der Vampire" den Oscar für "Der Pianist", in dem sich seine Erfahrungen im Warschauer Ghetto niederschlagen. Polanski nimmt die Ehrung nicht persönlich entgegen, aus Angst vor Verhaftung. Zwei Jahre später erwirkt der zuständige amerikanische Richter einen internationalen Haftbefehl. Der kann allerdings in Frankreich, wo Polanski lebt, nicht vollstreckt werden, da dieser die französische Staatsangehörigkeit hat (und ein Land einen eigenen Staatsbürger nicht ausliefern darf).

Es ist die Rede von Schmerzensgeld, das Polanski außergerichtlich an das Opfer zahlen soll. Ob er gezahlt hat, wird nie öffentlich. Das Opfer ist inzwischen 44 Jahre alt, verheiratet, Mutter von zwei Kindern und erklärte im August 2008 öffentlich, sie leide unter der "andauernden Veröffentlichung von Details" und wünsche sich einen Schlussstrich.

Im Dezember 2008 erscheint der Dokumentarfilm der Filmemacherin Marina Zenovich: "Roman Polanski – Wanted and Desired". Der Film unterstellt dem damaligen Richter und dem Staatsanwalt Befangenheit. Der Fall gerät erneut in die Schlagzeilen. Am 8. Mai 2009 lehnt das Oberste Gericht von Los Angeles das Ersuchen von Polanskis Anwälten auf Einstellung des Verfahrens endgültig ab. Die Richter stellen Polanski ein Ultimatum: Bis Mai 2009 soll er sein Anliegen persönlich vor Gericht vortragen.

Eine Welle der Solidarität -
für Polanski

Am 26. September 2009 wird Polanski auf dem Flughafen Zürich festgenommen und in Abschiebehaft gebracht. Verantwortlich zeichnet die Schweizer Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf. Zwei Tage später kritisiert die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey die Verhaftung als "Mangel an Feingefühl". Es heißt, die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton würde eingeschaltet. Polanski ist bis heute in der Schweiz in Auslieferungshaft.

Jetzt geht es erst richtig los. Die Welt des Films und Feuilletons seufzt tief auf. "Free Polanski"-Petitionen kursieren. Es unterschreibt vieles, was Rang und Namen hat, darunter (alphabetisch): Isabelle Adjani, Fatih Akin, Bernardo Bertolucci, die Brüder Cohen, Isabelle Huppert, Claude Lanzmann, Claude Lelouch, Jeanne Moreau, Michel Piccoli, Salman Rushdie, Martin Scorsese, Tilda Swinton, Nadine Trintignant, Tom Tykwer, Wim Wenders etc. Und Woody Allen. Ja, Woody Allen. Der, dem vom New Yorker Gericht wg. Missbrauch der Umgang mit der eigenen Tochter untersagt wurde. Und der seine jetzige Ehefrau, ein Adoptivkind seiner Ex-Ehefrau Mia Farrow, im Alter von elf Jahren "kennenlernte" und kurz darauf aufflog durch Pornobilder von der Minderjährigen.

Auch in Frankreich, wo die Kulturszene zu 99 Prozent Pro-Polanski zu sein scheint, fiel einer besonders unangenehm auf durch seine spontane Solidarität mit Polanski: Frederic Mitterand, Sarkozys Kulturminister und Neffe des verstorbenen Präsidenten. Frederic M. ist ein bekennender Homosexueller. In seiner vor vier Jahren erschienenen Autobiografie, "La mauvaise vie" (Das schlechte Leben), erzählt er unbefangen, wie ihn als Sextourist in Thailand die "Verfügbarkeit von vielen attraktiven jungen Männern in den Zustand des Begehrens versetzt" habe. O-Ton: "Dieser Sklavenmarkt hat mich erregt." Inzwischen wird von rechts wie links der Rücktritt Mitterands gefordert.

War es anno 1977 normal, Kinder zu vergewaltigen?

Eine besondere Pointe im Fall Polanski lieferte Polen. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sprach von einem Affront gegen ganz Polen und kündigte an, er wolle gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Bernard Kouchner für die "Befreiung" Polanskis kämpfen. Gleichzeitig verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, nach dem Männer, die sich an Minderjährigen unter 15 Jahren vergehen, chemisch kastriert werden können.

Es gibt Medien, die die "anderen Zeiten" ins Feld führen, in denen Polanski das Kind vergewaltigte. Stimmt, damals in der Nach-68er und Hippie-Ära wurde in der Tat die "freie Liebe" propagiert und galt Sex mit Kindern als ganz besonders frei. Aber: Auch schon damals gab es andere Stimmen. Längst hatte die Frauenbewegung die neue sexuelle Libertinage auf Kosten von Frauen und Kindern entlarvt. Und in Deutschland verhinderte EMMA 1980 die von der SPD im Namen des Fortschritts geplante Streichung des Pädophilie-Paragraphen, der Sex mit Kindern (zum Glück bis heute) unter Strafe stellt. Ja: verhinderte EMMA. Denn eine andere öffentliche Stimme, die effektiv protestiert hätte, gab es damals nicht. Das wäre heute vielleicht anders.

Doch die alten Fronten existieren noch. So berichten die wertkonservativen Medien, wie die FAZ, über den Fall Polanski überwiegend kritisch, links-liberale Medien jedoch überwiegend mitfühlend. Mit dem Täter. „Irgendwann muss Schluss sein!“ so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Der Jurist kommt im Fall Polanski zu der erstaunlichen Auffassung: "Ein internationaler Haftbefehl ist kein Freibrief für jedwede Verhaftung." Tatsache ist: In Amerika verjährt Vergewaltigung nie (in Deutschland nach 20 Jahren).

Pardon für Polanski, das Kind aus dem Ghetto?

Selbst das Opfer habe Polanski verziehen, sagen nun manche. (Doch um welchen Preis?) Man solle also die Sache ruhen lassen. Als sei die Vergewaltigung eines Kindes in einem Rechtsstaat eine verhandelbare Privatsache und nicht ein Verbrechen, ein Offizialdelikt, das der Staat verfolgen muss. Da hat Antonia Rados ganz recht, wenn sie sagt, Polanskis Reinwaschung entspräche afghanischen, mittelalterlichen Verhältnissen.

Und dann ist da noch das Argument, Polanski selber sei Opfer. In der Tat, der polnische Jude floh als Elfjähriger aus dem Warschauer Ghetto, seine Familie wurde im KZ ermordet. Doch auch als Opfer hat man die Wahl: Ist man auf der Seite der anderen Opfer – oder schlägt man sich auf die Seite der Täter? Polanski hat sich entschieden. Und das Ausleben seiner pädophilen Neigungen scheint nicht von gestern zu sein, wie der Beitrag unseres Schweizer Kollegen Finn Canonica zeigt, den EMMA im März 2009 veröffentlichte.

In Deutschland veröffentlichten die PräsidentInnen der Deutschen Filmakademie in offensichtlicher Unkenntnis des Sachverhaltes umgehend eine Stellungnahme: "Mit Empörung hat die deutsche Filmakademie die Verhaftung Roman Polanskis durch die Schweizer Behörde zur Kenntnis genommen", erklärten Senta Berger und Günter Rohrbach. Doch "die" Filmakademie mit ihren über tausend Mitgliedern ist nie gefragt worden.

Die Rolle der Filmakademie und der Cologne Conference

Inzwischen haben zahlreiche Mitglieder der Akademie gegen "die unerträgliche Relativierung sexuellen Missbrauchs von Kindern" protestiert. Vergeblich. Berger und Rohrbach sahen bisher keinen Grund, ihr skandalöses Statement im Namen aller zurückzuziehen und gegebenenfalls auf ihre eigene Kappe zu nehmen.

Wäre Polanski nicht in Zürich verhaftet worden, hätte der Regisseur am 3. Oktober in Köln den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Cologne Conference entgegen genommen – und niemand hätte ihn verhaftet. So wenig wie während seiner Dreharbeiten im Mai dieses Jahres auf Sylt, obwohl auch hierzulande der internationale Haftbefehl vorlag.

Im Gegenteil: Lutz Hachmeister von der Cologne Conference hat nicht gezögert, im Westdeutschen Rundfunk zu erklären: "Wir – und da kann ich auch für die Stadt Köln und die Filmstiftung NRW sprechen – wir waren übereinstimmend der Meinung, dass eine Tat, die mehr als 30 Jahre zurückliegt, gesühnt ist." Auf Anfrage der Redaktion erklärte der Pressesprecher der Stadt, Gregor Timmer, jedoch: "Nein, Herr Hachmeister hat nicht im Namen der Stadt Köln gesprochen – und wir haben ihn inzwischen auch gebeten, dies richtig zu stellen." Und Michael Schmidt-Ospach, Geschäftsführer der Filmstiftung NRW, erklärte: "Unter meiner Mitwirkung ist über die damalige Tat nicht gesprochen worden."

Frauenprojekte fordern Preisgeld für Mädchen!

LILA, das "Bündnis autonomer Frauenprojekte gegen Gewalt", die "Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit NRW" und die "Lobby für Mädchen" forderten die Verantwortlichen auf, die 25.000 Euro Preisgeld für Projekte gegen Gewalt an Minderjährigen zu stiften. Sie haben bisher keine Antwort erhalten.

Übrigens: Roman Polanski hat Zeit seines Lebens kein Wort des Bedauerns für seine Tat gefunden. Und er hat die Tatsache, dass er (mindestens) ein Kind vergewaltigt hat, auch bisher nicht zum Gegenstand einer selbstkritischen Reflektion in einem seiner zu recht gerühmten Filme gemacht.
 

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