Naturwissenschaftlerinnen : Emmy Noether

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"Konsequentes Streben nach begrifflicher Durchdringung des Stoffes bis zur restlosen methodischen Klarheit" bescheinigte ihr einer ihrer Schüler im Nachruf. Und damit ist das Lebenswerk der wohl bedeutendsten Mathematikerin des 20. Jahrhunderts, Emmy Noether, treffend charakterisiert.

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Sie wurde am 23. März 1882 im fränkischen Erlangen geboren; ihr Vater, der damals sehr bekannte Mathematiker Max Noether, war dort Universitätsprofessor. Schon als Schulmädchen fiel sie auf - durch ihre Kurzsichtigkeit ebenso wie durch ihre extrem rasche Auffassungsgabe.

Sie schrieb sich in Erlangen für Mathematik ein.

Emmy legte zunächst das Lehrerinnenexamen für Fremdsprachen ab, hospitierte jedoch ab 1900 bei mathematischen Vorlesungen. Im Gegensatz zu anderen Ländern war das Frauenstudium in Deutschland noch nicht offiziell durchgesetzt.

Aber Emmy hatte Glück, im Wintersemester 1903/04 erlaubte Bayern erstmals die Immatrikulation von Studentinnen, und so ließ sich die Vatertochter in Erlangen im Fach Mathematik einschreiben. Ihr Studium schloß sie 1907 mit einer Dissertation ab, den Doktortitel erhielt sie "summa cum laude" (mit höchstem Lob).

Schon in ihrer Doktorarbeit beschäftigte sich Emmy Noether mit Invarianten, das sind Größen oder Eigenschaften, die sich bei Umformungen oder geometrischen Abbildungen nicht ändern. Als sie nach dem Studium am Mathematischen Institut der Universität Erlangen ohne Anstellung und Gehalt ihrem Vater assistierte, machte sie sich bald einen Namen als Spezialistin für dieses Gebiet. 1909 wurde sie Mitglied der Deutschen Mathematikervereinigung. Ihre Vorträge dort erregten in der Fachwelt mehr und mehr Aufsehen.

Allmählich begann die Mathematikerin, einen anderen Zugang zu ihrem Fachgebiet, der Algebra, zu entwickeln. 

Die traditionelle Algebra hatte sich über Jahrhunderte hinweg vor allem mit dem Problem der Auflösung von Gleichungen beschäftigt. Zu Anfang dieses Jahrhunderts traten diese konkreten Probleme in den Hintergrund, und die Mathematiker versuchten, einheitliche Theorien zu entwickeln, um damit möglichst viele Spezialfälle zu erfassen. Dazu mußten neue, übergeordnete Begriffe geprägt werden, wie "Körper", "Gruppen", "Felder". Und es war Emmy Noether, die sich immer mehr als selbständige Vordenkerin und Hauptvertreterin dieser "modernen" Mathematik hervor zu tun begann. Sie half mit, das gesamte Konzept der Algebra umzukrempeln, ihr ein völlig neues Gesicht zu geben.

Es ging ihr nicht mehr um Resultate, wie es jede/r aus der Schule kennt, sondern um die Untersuchung mathematischer Grundstrukturen. Sie verallgemeinerte das Zahlensystem zu abstrakten Systemen, die unter ihrem Namen in die Fachliteratur eingingen: "Noethersche Moduln", "Noethersche Ringe", "Noethersches Reduktionssystem" etc. Bis heute stehen diese Strukturuntersuchungen im Mittelpunkt der mathematischen Wissenschaft, meist ohne direkte Beziehung zur Frage nach der Auflösbarkeit.

"Eine Universität ist doch keine Badeanstalt"

Ein anderer Vertreter dieser "revolutionären" Richtung, David Hilbert, wurde auf Emmy Noether aufmerksam und holte sie 1915 nach Göttingen. Dort wurden ihr Rat und ihre Hilfe bald unentbehrlich für die Kollegen.

Man berief sie in ein Team, das komplizierte Berechnungen für Einsteins Relativitätstheorie ausführte. Ihre Mathematiker-Kollegen setzten sich dafür ein, daß sie eine Professur erhielt. Ohne Erfolg. Eine Probevorlesung durfte sie zwar halten, aber Professorin wurde sie nicht, weil die "gesetzlichen Voraussetzungen" fehlten, einer Frau die venia legendi zu erteilen. Weder eine Eingabe beim zuständigen Minister, noch Hilberts bekannter Ausspruch: "Eine Universität ist doch keine Badeanstalt", konnten etwas gegen das Zulassungsverbot ausrichten.

Hilbert und Noether unterliefen das Verbot, indem er sie Vorlesungen unter seinem Namen halten ließ, bis sie sich 1919, nach Änderung der gesetzlichen Bestimmungen, endlich habilitieren durfte. Am 6. April 1922 erhielt sie eine Professur und einen Lehrauftrag für Algebra, allerdings ohne angemessene Bezahlung. "Ein Titel ohne Mittel", witzelte sie selbst. Hätte sie nicht eine kleine Erbschaft gemacht, wäre es Luxus für sie geworden, Mathematik zu treiben. Darüber hinaus war sie dem äußeren Leben gegenüber sehr anspruchslos. Auf Komfort, Wohlleben, elegante Kleidung und Wohnungseinrichtung legte die Mathematikerin keinen Wert.

Da ihre Vorlesungen sehr eigenwillig und anspruchsvoll waren, konnte sie nur einen kleinen, aber treuergebenen Kreis von HörerInnen um sich scharen. "Noetherknaben" wurden sie von den anderen scherzhaft genannt, obwohl sich auch Studentinnen und Assistentinnen darunter befanden. Dabei entwickelte sie ihre Ideen am liebsten im persönlichen Gespräch mit Kolleginnen, auf langen Spaziergängen zum Beispiel. "Mathematik reden" nannte sie das.

Neben ihren eigenen Forschungen sah Emmy Noether ihre Aufgabe vor allem darin, anderen Denkimpulse zu vermitteln. Ihre Schülerinnen bescheinigten ihrer Doktormutter Warmherzigkeit und große Hilfsbereitschaft. Nie kam es ihr darauf an, selbst zu glänzen. So prägte sie eine ganze Mathematikerschule. Aus etlichen "Noetherknaben" wurden selbst berühmte Algebraiker.

Uneitel war die Wissenschaftlerin auch in Bezug auf ihr Äußeres. Sie war sehr dick, kurzsichtig, schlecht frisiert: ihre "Sackkleider" und Männerhüte waren Legende. Ebenso das Taschentuch, das sie manchmal mitten in der Vorlesung aus dem Busen zog, um sich damit zu schneuzen. Mit Männern pflegte Emmy Noether konsequent nur freundschaftlichen Umgang; sie wußte genau, daß sie sich nur dann uneingeschränkt ihrem Beruf widmen konnte, wenn sie keine Rücksicht auf eine Familie nehmen mußte.

Im persönlichen Umgang nahm sie sich die Freiheit, sich selbst wie ein Mann zu verhalten. Wenn sie sich ärgerte, polterte sie schon mal wütend los; sie konnte auch von beißender Ironie und äußerst eigensinnig sein. Abgesehen davon, daß sie meist gute Argumente hatte, kamen ihre Gegner auch deshalb in Disputen nicht leicht gegen sie an, weil sie sehr stimmgewaltig war. Respektvoll wurde sie "Der Noether" genannt.

Ein richtiger Blaustrumpf- und noch dazu eine Linke!

Auch politisch war sie unangepaßt, Sozialdemokratin und drei Jahre sogar Mitglied der linken USPD. Außerdem war sie Jüdin und Pazifistin. Sie pflegte Freundschaften mit Wissenschaftlerinnen aus vielen Ländern, ungeachtet der Hautfarbe, Rasse oder politischen Einstellung.

Emmy Noether hatte sowjetische, jüdische und chinesische Schülerinnen. Sogar eine Gastprofessur in Moskau nahm sie an, was ihr viele Anfeindungen eintrug: Ein richtiger Blaustrumpf - und noch dazu eine Linke! Offiziell begründet wurde die Abneigung natürlich im Fachlichen: zu unanschaulich seien ihre Ausführungen, kaum jemand könne ihren Vorlesungen folgen, und überhaupt, diese ganze Abstraktion, wem solle das nützen!

Nach der Machtergreifung der Nazis wurde Emmy Noether sehr schnell die Lehrerlaubnis entzogen - schon im April 1933. Sie verließ als eine der ersten jüdischen Wissenschaftlerinnen Deutschland und ging als Gastprofessorin ans Bryn Mawr-Frauencollege in die USA. Später wurde sie nach Princeton berufen, wo auch Einstein lehrte. Aber schon im April 1935 starb sie ganz plötzlich nach einer eher harmlosen Operation. Niemand konnte sich das erklären. Nur ihre Assistentin Olga Taussky vermutete einen Zusammenhang mit ihrem tiefsitzenden Kummer über die Vertreibung aus der Heimat und darüber, daß der Freundes- und Kollegenkreis in Deutschland zerschlagen war.

"Anwältin des Abstrakten" wurde Emmy Noether zu Recht genannt. Ihr Hauptverdienst: Sie hat als eine der ersten erkannt, daß alle Beziehungen zwischen Zahlen, Funktionen und Operationen erst dann lückenlos erfaßt, und damit durchsichtig, verallgemeinerungsfähig und fruchtbar werden, wenn sie von ihren besonderen Objekten losgelöst und auf allgemeine, abstrakte begriffliche Zusammenhänge zurückgeführt werden. Sie hat die Welt "Mathematik reden" gelehrt.

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